Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.12.1985, Az.: 1 Ss 461/85
Hauptverhandlung in Abwesenheit des Verteidigers; Pflicht zur Bestellung eines Verteidigers oder zum Beschluss über die Aussetzung der Verhandlung durch eine Strafkammer; Vorliegen eines Falls der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO); Erfordernis anwaltlichen Rates; Eigennutz als Strafschärfungsgrund in Steuerstrafsachen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 20.12.1985
- Aktenzeichen
- 1 Ss 461/85
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1985, 14711
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1985:1220.1SS461.85.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG ... - 26.04.1985
- StA ... - AZ: 3 Js 1475/82
Rechtsgrundlagen
- § 154 a StPO
- § 338 Nr. 5 StPO
- § 145 Abs. 1 StPO
- § 140 Abs. 2 StPO
- § 370 Abs. 3 AO
Fundstelle
- StV 1986, 142-143
Verfahrensgegenstand
Steuerhinterziehung
Prozessgegner
Einzelhandelskaufmann ... in ..., geboren am ... in ...,
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 9. großen Strafkammer -- Wirtschaftsstrafkammer -- des Landgericht ... vom 26. April 1985 nach Anhörung der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht am 20. Dezember 1985
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... sowie
der Richter am Oberlandesgericht ... und ...
gemäß §349 Abs. 4 StPO einstimmig
beschlossen:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine große Strafkammer -- Wirtschaftsstrafkammer -- des Landgerichts ... zurückverwiesen.
Gründe
Das Schöffengericht hatte den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt. Die Strafkammer hat auf die Berufung des Angeklagten das Urteil abgeändert und ihn wegen fortgesetzter Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt; die Strafverfolgung war gemäß § 154 a StPO unter Ausscheidung des Vorwurfs der Urkundenfälschung beschränkt worden. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten u.a. mit der Rüge einer Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO.
Die Vorschrift des § 338 Nr. 5 StPO ist verletzt; denn die Hauptverhandlung fand in Abwesenheit eines Verteidigers statt, obwohl das Gesetz dessen Anwesenheit vorschrieb. Der Wahlverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt ... war in der Hauptverhandlung nicht erschienen, Über eine Beendigung des Mandats hatte sich der Angeklagte nicht geäußert, sondern demgegenüber erklärt, Rechtsanwalt Dr. ... vertrete ihn nicht mehr. Da Rechtsanwalt ... somit weiterhin Verteidiger des Angeklagten war, stellte sich die Frage, ob neben dem nicht erschienenen Verteidiger - wie es der Angeklagte beantragte - ein Verteidiger zu bestellen war, oder ob die Strafkammer eine Aussetzung der Verhandlung beschließen sollte (§ 145 Abs. 1 StPO). Eine der beiden Maßnahmen hätte die Strafkammer ergreifen müssen; denn es lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor (vgl. BGH, NJW 1961, 741; OLG Düsseldorf, JMBINW 1979, 19; Franzen-Gast-Samson, Steuerstrafrecht, 3. Aufl., 1985, § 392 AO Rdnr. 19).
Der Senat ist der Auffassung, daß sowohl die Schwere der Tat als auch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers gebot. Eine Tat ist schwer, wenn die zu erwartende Rechtsfolge einschneidend ist (vgl. KK-Laufhütte, StPO, § 140 Rdnr. 21 m.Nachw.). Hier war der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt, und es war ihm Strafaussetzung versagt worden. Zwar hat der Angeklagte in der Berufungsverhandlung erreicht, daß ein Teil der Tatvorwürfe, nämlich der der Urkundenfälschung, mit der Folge einer Herabsetzung der Strafe ausgeschieden worden ist. Gleichwohl wäre der Angeklagte mit einem anwesenden Verteidiger möglicherweise besser beraten gewesen und hätte sich gegenüber den verbliebenen Vorwürfen vielleicht effektiver verteidigt. Die Auswirkungen der Strafe, die nach dem erstinstanzlichen Urteil im Raume stand, waren für den Angeklagten, der bis dahin noch keine Strafe verbüßt hatte, erheblich. Die Bedeutung der Sache hätte daher entweder die Beiordnung eines Verteidigers oder die Aussetzung der Hauptverhandlung erfordert (vgl. OLG Celle, Strafwert, 1985, 184; Senatsbeschl. v. 11.12.1984 - 1 Ss 642/84; Beschl. des hies. 2. Senats vom 29.07.1983 - 2 Ss 190/83; OLG Köln, NJW 1972, 1432 [OLG Köln 16.05.1972 - Ss 75/72])
Auch die Sach- und Rechtslage war als schwierig zu beurteilen. Es handelte sich um die (für einen Laien schwer durchschaubare) Materie des Steuerrechts, dabei auch um die Auslegung von Begriffen wie dem des "Unternehmers", derentwegen auch ein "versierter" Angeklagter juristischen Beistand bedurft hätte. Daran ändert es nichts, daß über Tatsachen verhandelt wurde, die dem Angeklagten - nach seinen eigenen Angaben - weitgehend geläufig waren. Daß er sich geschickt zu verteidigen verstand, wie sein Prozeßverhalten zu Beginn der Hauptverhandlung zeigt, gleicht den Mangel insbesondere an juristischer Kenntnis im übrigen nicht aus. Die Art und Weise, wie sich der Angeklagte eingelassen und gegenüber den Tatvorwürfen verteidigt hat, zeigt, daß er wohl anwaltlichen Rates bedurft hätte. Es sei nur beispielshaft auf die wechselnden Einlassungen und Verhaltensweisen des Angeklagten zu der angeblichen Vereinbarung zwischen ihm und seiner Mutter über eine angebliche Generalübernahme hingewiesen.
Da die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO Erfolg hat, bedarf es eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen und die Sachrüge an sich nicht. Zur Begründung des Rechtsfolgenausspruchs sei jedoch angemerkt: Der Senat hält es für bedenklich, das "Ausmaß des Eigennutzes", demzufolge die Tat nach Auffassung der Strafkammer "nahe an einem besonders schweren Fall im Sinne von § 370 Abs. 3 AO anzusiedeln ist", als Strafschärfungsgrund zu werten. Denn Eigennutz wird bei diesem Delikt die Regel sein, und seine Verwendung als Erschwerungsgrund kommt der unzulässigen Verwertung des Nichtvorliegens eines Milderungsgrundes gleich. Weshalb hier die Tat "nahe an einem besonders schweren Fall im Sinne von § 370 Abs. 1 AO anzusiedeln ist", teilen die Urteilsgründe nicht mit. Die Höhe des Schadens, den die Kammer für "nicht unbeachtlich" hält, dürfte diese Wertung kaum zulassen; der Schaden, der im Laufe von ca. zwei Jahren eingetreten ist, beträgt ca. 40.000,00 DM. Damit dürfte er sich kaum vom Durchschnittsfall des Wirtschaftsbetruges abheben.