Landgericht Hannover
Beschl. v. 05.09.2023, Az.: 63 Qs 38/23
Sachverständigengutachten; Nachtrunk; notwendige Verteidigung; Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
Bibliographie
- Gericht
- LG Hannover
- Datum
- 05.09.2023
- Aktenzeichen
- 63 Qs 38/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 33146
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGHANNO:2023:0905.63QS38.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Hannover - 21.04.2023 - AZ: 5 Ds 2/23
Fundstellen
- VRA 2024, 35
- VRR 2023, 4
Amtlicher Leitsatz
Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks ist kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers.
In dem Strafverfahren
gegen
Verteidiger: Rechtsanwalt
wegen Trunkenheit im Verkehr
hat die 17. große Strafkammer des Landgerichts Hannover auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 21. April 2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 17. April 2023 nach Anhörung der Staatsanwaltschaft am 05.09.2023 beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 21.04.2023 (Az. 5 Ds 2/23) wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Der Angeklagte wendet sich gegen die Ablehnung der Beiordnung eines Pflichtverteidigers.
Die Staatsanwaltschaft Hannover wirft dem Angeklagten in der Anklageschrift vom 28.12.2022 eine fahrlässige Trunkenheit im Verkehr vor.
Konkret soll der Angeklagte am 09.10.2022 gegen 16:10 Uhr in B. mit dem Pkw Skoda (amtliches Kennzeichen: GS-AS 454) u.a. die Straße A befahren haben, obwohl er infolge Alkoholeinwirkung mit einem Blutalkoholgehalt von mindestens 2,59 Promille (Blutentnahmezeit: 17:43 Uhr) nicht mehr fahrtüchtig war, was er hätte erkennen müssen.
Den Angaben der Zeugen C. zufolge sei der Angeklagte mit dem von ihm geführten Pkw gegen 16:10 Uhr u.a. in Schlangenlinien vor ihnen gefahren und habe mehrfach die Mittellinie zum Gegenverkehr überfahren. Vor dem Haus A sei er stehen geblieben. Sie hätten dann gegen 17:12 Uhr die Polizei informiert, weil der Angeklagte immer noch in seinem Fahrzeug geschlafen habe.
Nach den Angaben der Zeugen PKin E und POK S. seien diese kurz darauf eingetroffen, hätten den Angeklagten schlafend festgestellt und diesen aufwecken müssen. Anschließend hätten sie den Angeklagten als Beschuldigten belehrt. Er habe angegeben, vor Fahrtantritt eine Dose Bier getrunken zu haben. Ein danach durchgeführter Alkotest habe einen AAK-Wert von 2,77 Promille ergeben. Nach Mitteilung dieses Wertes habe der Angeklagte gegenüber den Zeugen angegeben, er sei nicht mit dem Fahrzeug gefahren. Er habe bei einer Freundin getrunken, die hier wohnen würde. Anschließend habe er sich korrigiert und behauptet, er habe nach seiner Ankunft in der Straße in seinem Pkw getrunken. Im Fußraum hinter dem Beifahrersitz habe der Angeklagte den Beamten dazu eine leere 0,5 Liter-Flasche Jägermeister und im Kofferraum 4 leere 0,5-Liter-Dosen Bier gezeigt.
Eine dem Angeklagten am 09.10.2022 um 17:43 Uhr entnommene Blutprobe wies einen Blutalkoholwert von 2,59 Promille auf. Eine weitere um 18:15 Uhr entnommene Blutprobe wies einen Blutalkoholwert von 2,47 Promille auf.
Mit Beschluss des Amtsgerichts W. vom 06.02.2023 wurde die oben dargestellte Anklage zu Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
Im Hauptverhandlungstermin vom 07.03.2023 hat der Verteidiger der Verwertung der Angaben des Zeugen POK S. widersprochen, weil der Angeklagte für eine ordnungsgemäße Belehrung zu betrunken gewesen sei und die Belehrung nicht vollständig.
Die Hauptverhandlung wurde am 07.03.2023 ausgesetzt, um ein Sachverständigen-Gutachten hinsichtlich des durch den Angeklagten behaupteten Nachtrunks einzuholen.
In diesem Hauptverhandlungstermin hatte der Verteidiger beantragt, dem Angeklagten unter gleichzeitiger Niederlegung seines Wahlmandats als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden.
Diesen Antrag begründete er mit Schreiben vom 13.03.2023 damit, dass die Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten sei. Insbesondere führte er dazu aus, dass das einzuholende Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel sei. Darüber hinaus gehe es in dem Prozess auch um die Beurteilung eines Verwertungsverbots hinsichtlich der Aussage des Zeugen POK S.
Mit Beschluss des Amtsgerichts W vom 17.04.2023 wurde der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger zurückgewiesen. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 21.04.2023, das noch an diesem Tag beim Amtsgericht W. einging, legte der Angeklagte gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung verwies er auf sein Schreiben vom 13.03.2023.
Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbeiordnung als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die gem. § 142 Abs. 7 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO vor.
Dieser kann auch nicht aus der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO abgeleitet werden, weil keine ausreichend schwierige Sach- oder Rechtslage gegeben ist, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen würde. Die Tatbestandsalternativen der Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge kommen ohnehin nicht in Betracht.
Eine schwierige Sachlage kann sich insbesondere aus dem zu erwartenden Umfang oder der Schwierigkeit der Beweisaufnahme ergeben. Der Umfang einer Sache bemisst sich nach der Dauer der Hauptverhandlung, der Anzahl der Angeklagten u. Zeugen sowie dem Umfang der Akten (vgl. Krawczyk in BeckOK StPO, 48. Ed. 1.7.2023, StPO § 140 Rn. 27).
Die genannten Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Es gibt keine Hinweise auf einen außergewöhnlichen Umfang der Beweisaufnahme oder eine diesbezügliche andere außergewöhnliche Schwierigkeit. Bereits in der Anklageschrift sind nur 4 mögliche Zeugen genannt. Die Akte ist kurz und übersichtlich.
Dabei übersieht die Kammer nicht, dass ein großer Teil der Rechtsprechung und Kommentarliteratur bei Hinzuziehung eines Sachverständigen stets (Kämpfer/Travers in: MüKo StPO, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 38; Julius/Schiemann in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, III. Notwendige Verteidigung nach Abs. 2, Rn. 20; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 28) oder zumindest regelmäßig (vgl. LG Arnsberg, Beschluss vom 19. November 2001 - 2 Qs 172/01 -, juris; LG Braunschweig, Beschluss vom 19. April 2017 - 3 Qs 37/17 -, Rn. 14 - 16, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 22. April 2002 - 2 Ws 88/02 -, Rn. 8 - 9, juris; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 140 Notwendige Verteidigung, Rn. 82) eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO annimmt.
Dem kann die Kammer jedoch nicht beitreten, denn der Gesetzgeber hat die Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufgenommen. Hieraus ergibt sich, dass auch der Gesetzgeber nicht jede Beteiligung eines Sachverständigen als Grund für eine notwendige Pflichtverteidigung ansieht (vgl. i.E. auch OLG Koblenz Urt. v. 1.4.1976 - 1 Ss 102/76, BeckRS 1976, 31161729, beck-online).
Maßgeblich ist daher die Betrachtung des Einzelfalls (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 140 Rn. 27; BeckOK StPO/Krawczyk, 48. Ed. 1.7.2023, StPO § 140 Rn. 27). Das Argument, dass ein Angeklagter regelmäßig nicht über die Sachkunde verfüge, um die fachliche Qualifikation des SV und seine Untersuchungsmethoden zu beurteilen (LG Arnsberg, Beschluss vom 19. November 2001 - 2 Qs 172/01 -, juris; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 140 Notwendige Verteidigung, Rn. 82; Julius/Schiemann in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, III. Notwendige Verteidigung nach Abs. 2, Rn. 20), teilt die Kammer in dieser Generalität nicht. Denn nach der Erfahrung der Kammer bedürfen die fachliche Qualifikation und die Untersuchungsmethoden eines Sachverständigen nur in selten auftretenden Ausnahmekonstellationen einer Thematisierung.
Eine solche Sonderkonstellation ist vorliegend nicht gegeben, weshalb keine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO besteht.
Die vom Sachverständigen zu gebende Antwort auf die Frage, ob der behauptete Nachtrunk aus rechtsmedizinischer Sicht belegt, möglich oder auszuschließen ist, ist - anders als vielleicht bei bestimmten psychiatrischen Fragestellungen - auch für einen juristischen Laien einfach zu verstehen. Die Kammer vermag auch nicht zu erkennen, dass vorliegend die Qualifikation des Mitglieds des Rechtsmedizinischen Instituts der MHH oder die für die Berechnung der Alkoholisierung angewandte Methode ernsthaft in Frage zu stellen sein könnten; die Kammer hat dies jedenfalls bei einem rechtsmedizinischen Gutachten zur Blutalkoholkonzentration oder zur Frage eines Nachtrunks noch nie erlebt.
Die Beiziehung eines Sachverständigen ist vorliegend also kein Grund für die Annahme einer schwierigen Sachlage im Sinne von § 140 II StPO. Dies gilt umso mehr, als das Gutachten - anders als in der vom Verteidiger in Bezug genommenen Entscheidung des LG Braunschweig - vorliegend nicht das einzige Beweismittel ist. Insbesondere nach den Aussagen der Zeugen C. liegen nämlich gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass der Angeklagte auch schon während der Fahrt mit dem von ihm geführten Pkw unter erheblichem Alkoholeinfluss gestanden hat.
Zudem dürften auch die immer neuen und sich widersprechenden Erklärungsansätze des Angeklagten gegenüber den Zeugen PKin E. und POK S. einzubeziehen sein. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Verwertungsverbot anzunehmen, wenn feststeht, dass der Beschuldigte den Hinweis auf sein Schweigerecht nicht verstanden hat (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1993 - 1 StR 475/93 -, BGHSt 39, 349-353, Rn. 8). Es liegen jedoch nach vorläufiger Würdigung der Sach- und Rechtslage keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte die durch die eingesetzten Beamten durchgeführte Beschuldigtenbelehrung nicht verstanden hat. Der Angeklagte hatte zwar eine Blutalkoholkonzentration von 2,59 Promille und wirkte nach den Angaben von POK S. deutlich alkoholisiert. Die Belehrung über ein Schweigerecht ist jedoch nicht schwer zu verstehen. Der Angeklagte hat gegenüber den Polizeibeamten sinnbezogene Angaben zu seinem nachträglichen Alkoholkonsum gemacht und ihnen die getrunkenen Dosen gezeigt hat. Diese zielgerichteten Versuche, den strafrechtlichen Vorwurf der Trunkenheitsfahrt zu entkräften, sprechen nach Ansicht der Kammer dafür, dass der Angeklagte die Ansprache durch die Polizei verstanden hat.
Vor diesem Hintergrund erkennt die Kammer folglich auch keine schwierige Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO im Hinblick auf die vom Verteidiger in den Raum gestellte Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten gegenüber der Polizei.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
Gegen diesen Beschluss ist die weitere Beschwerde nicht gegeben (§ 310 Abs. 2 StPO).