Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 10.08.2011, Az.: 5 A 218/09
Änderung der Rechtsprechung zu den bisherigen, unterschiedlichen Prognosemaßstäbe zu § 73 AsylVfG nach Umsetzung von Art. 11 und 14 Abs. 2 RL 2004/83/EG; Dauerhaftigkeit der Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 RL 2004/83/EG
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 10.08.2011
- Aktenzeichen
- 5 A 218/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 31554
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2011:0810.5A218.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 73 Abs. 1 AsylVfG
- Art. 11 RL 2004/83/EG
- Art. 14 RL 2004/83/EG
Fundstelle
- AUAS 2012, 33-35
In der Verwaltungsrechtssache Herrn A., Staatsangehörigkeit: Türkei, Kläger, Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Schatz, Walsroder Straße 53, 30851 Langenhagen, - B. - gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg, - C. - Beklagte, Streitgegenstand: Asylrecht - Widerruf hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 5. Kammer - ohne mündliche Verhandlung am 10. August 2011 durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Schlingmann-Wendenburg als Einzelrichterin für Recht erkannt:
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.11.2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Flüchtlingsstellung.
Der am D. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben erstmalig 1978 in das Bundesgebiet ein und kehrte 1984 wieder in die Türkei zurück. Nach Wiedereinreise im Jahr 1988 stellte er am 07.10.1993 einen erneuten Folgeantrag zu dessen Begründung er anführte, er werde wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit politisch verfolgt. Bei einer Rückkehr in die Türkei müsse er Dorfschützer werden. Sein Bruder und sein Cousin, der beabsichtigt habe, das Dorfschützeramt niederzulegen, seien getötet worden. Im Übrigen habe er sich exilpolitisch betätigt. Mit Bescheid vom 09.02.1995 lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe nicht glaubhaft machen können, dass bei Rückkehr in sein Heimatland eine asylrelevante Verfolgung drohe. Die vorgetragenen exilpolitischen Betätigungen seien niederschwellig, und es bestünde in der Türkei kein genereller Zwang zur Rekrutierung von Dorfschützern. Zudem werde nicht generell jeder, der das Dorfschützeramt ablehne, pauschal der Unterstützung der Guerilla verdächtigt. Auch sei ein Zusammenhang zwischen der Niederlegung des Dorfschützeramtes durch den Cousin und dessen Tod ebenso wenig glaubhaft gemacht wie die Angabe, der Tod des Bruders hänge mit seiner kurdischen Volkszugehörigkeit zusammen. Auf die dagegen erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Urteil vom 09.01.1996 (5 A 5102/95) den Bescheid vom 09.02.1995 auf und verpflichtete die Beklagte, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft nach dem damaligen § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr wegen seiner Herkunft aus einem der Notstandsgebiete und wegen des Verhaltens seiner Tochter zumindest anlässlich der Überprüfung bei der Einreise politisch motivierte Verfolgung in Gestalt von Misshandlungen drohe. Der Kläger hatte im Termin zur mündlichen Verhandlung Fotos seiner Tochter während ihrer Ausbildung durch die PKK vorgelegt und vorgetragen, man werde ihn in der Türkei für das Verhalten seiner Tochter verantwortlich machen. Die Tochter E. des Klägers war 1988 mit ihren Eltern - erneut - ins Bundesgebiet eingereist und hatte mit Schriftsatz vom 26.10.1993 einen weiteren Folgeantrag gestellt. Diesen begründete sie damit, sie habe sich in Deutschland der PKK angeschlossen und sei erst 1992 zu ihren Eltern zurückgekehrt. Bei einem Aufenthalt 1993 in der Türkei habe ihr Onkel sie gewarnt, dass türkischen Behörden die Tätigkeit für die PKK in Deutschland bekannt sei und sie zur Ausreise gedrängt. Dieser Onkel sei anschließend erschossen worden. Nach Ablehnung dieses Antrags durch das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wies das Verwaltungsgericht Braunschweig, das zuvor einstweiligen Rechtsschutz gewährt hatte, die Klage mit der Begründung ab, die Tochter des Klägers sei nach ihrer Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen nicht mehr schutzbedürftig (U. v. 09.01.1996 - 5 A 5040/94). Diese Entscheidung wurde durch das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24.11.1998 (2 L 5210/96) teilweise aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, hinsichtlich der Tochter des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen. Die Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen stehe dem Asylanspruch nicht entgegen, und die Tochter des Klägers habe glaubhaft und substantiiert vorgetragen, in Deutschland in nicht lediglich untergeordneter Art und Weise für die PKK tätig gewesen zu sein, was den türkischen Behörden bekannt geworden sei, die sie gesucht hätten. Trotz ihrer zwischenzeitlichen Loslösung von der PKK sei sie bei einer Rückkehr in die Türkei in keinem Landesteil vor politischer Verfolgung hinreichend sicher.
Mit Bescheid vom 17.11.2009 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach vorheriger Anhörung die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft und stellte fest, dass die Voraussetzungen des§ 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorlägen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Notstand in den letzten beiden Provinzen am 30.11.2002 beendet und damit vollständig abgeschafft worden sei. Damit existierten die Gruppenmerkmale, an die das Verwaltungsgericht angeknüpft habe, nicht mehr.
Von einer sippenhaftähnlichen Gefährdung wegen des Verwandtschaftsverhältnisses zu einem PKK-Mitglied könne heute nicht mehr ausgegangen werden. Da sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage im Rahmen des Reformprozesses in der Türkei wesentlich geändert hätten, sei die Gefahr einer an die politische Überzeugung des Klägers anknüpfenden menschenrechtswidrigen Behandlung durch türkische Behörden im Falle der Rückkehr in die Türkei nicht mehr ersichtlich.
Dagegen hat der Kläger am 03.12.2009 Klage erhoben und trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei hätten sich nicht derart verändert, dass er bei einer Rückkehr in die Türkei hinreichend sicher vor politischer Verfolgung sei. Die Voraussetzungen der Wegfallklausel des Art. 1 C Abs. 5 der Genfer Flüchtlingskonvention seien hinsichtlich der Türkei noch nicht anzunehmen. Es fehle an der Dauerhaftigkeit und Stabilität der Veränderungen und an der Wiederherstellung effektiven Schutzes. Eine Verfolgung des Klägers bei Rückkehr könne nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden. Im Übrigen sei der Widerruf verspätet eingeleitet worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.11.2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, weil die Beteiligten sich mit dieser Entscheidungsform einverstanden erklärt haben, ist zulässig und begründet. Die angefochtene Widerrufsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
In der angefochtenen Widerrufsverfügung wird der Widerruf darauf gestützt, dass aufgrund der Änderung der Verhältnisse in der Türkei die Notwendigkeit des Schutzes des Klägers vor politischer Verfolgung nicht mehr gegeben sei. Dieser Auffassung folgt das erkennende Gericht nicht.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Widerrufsverfügung ist § 73 Abs. 1 AsylVfG (i.d.F. des Umsetzungsgesetzes vom 19.08.2007, jetzt i.d.F. d. Bekanntmachung v. 02.09.2008, BGBl. I, 1798). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 01.06.2011 (10 C 10.10, [...]) unter Berücksichtigung der - ebenfalls grundlegenden - Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 02.03.2010 (C-175/08 - [...]) § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 04. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen (Qualifikationsrichtlinie), die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientiert, angesehen und die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft definiert. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er es nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes ist zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - hier das den angefochtenen Bescheid erlassende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - in jedem Einzelfall nachweisen muss, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland verhält sich grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG - ebenso wie nach Art. 1 C Nr. 5 GFK - erlischt die Flüchtlingseigenschaft, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 02. 03. 2010 a.a.O. Rn. 65). Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen es sei denn, er muss aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben. Maßstab für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie ist, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss. Dabei muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich also durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben.
Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit der Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung zu§ 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden. Der gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit war in der Rechtsprechung für Fälle der Vorverfolgung entwickelt und dann auf den Flüchtlingsschutz und die Widerrufsvoraussetzungen übertragen worden. Ein solches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG aber fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er in der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." (Art. 2 Buchst. c der Richtlinie) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und stellt bei der Prüfung desArt. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab und entspricht damit dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
Die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG darf aber nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist. Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose setzt auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen voraus. Sie verlangt auch eine Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs und trägt damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung. Aufgabe der entscheidenden Behörde und der gerichtlichen Tatsacheninstanz ist es, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen, mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose zu erstellen und sich dabei gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewissheit von den Prognosegrundlagen zu verschaffen.
Das erkennende Gericht schließt sich diesen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts an ohne - wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (B. v. 18.08.2010 - 11 LA 310/10 - www.dbovg.niedersachsen.de) - zwischen dem Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und dem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu differenzieren. Denn die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hat zwar lediglich den Widerruf einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zum Gegenstand, legt aber § 73 Abs. 1 AsylVfG insgesamt im Lichte der Qualifikationsrichtlinie aus ohne zwischen den beiden in der Vorschrift selbst ausdrücklich genannten Varianten zu unterscheiden. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte.
Gemessen an diesen Grundsätzen kann nicht festgestellt werden, dass die Faktoren, die die berechtigte Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet und zur Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können und der Herkunftsstaat Türkei in ausreichendem Umfang geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern. Die tatsachengerichtliche Gefahrenprognose ergibt unter Abwägung der Schwere des befürchteten Eingriffs und unter Berücksichtigung des Gesichtspunkts der Zumutbarkeit zur Überzeugung des Gerichts, dass im Einzelfall bei Abstellen auf die reale Gefahr nicht festgestellt werden kann, dass dem Kläger eine Verfolgung dauerhaft nicht - mehr - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Zwar ist im vorliegenden Fall, in dem die Asylanerkennung auch auf der Grundlage der Annahme einer landesweiten Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit für Personen aus den Notstandsprovinzen erfolgte, mit der Beklagten davon auszugehen, dass die der damaligen Rechtsprechung der 5. Kammer des erkennenden Gerichts zugrunde liegende Situation nicht mehr gegeben ist. Allerdings ist dafür nicht - wie im angefochtenen Bescheid geschehen - allein darauf abzustellen, ob es in der Türkei keine Notstandsprovinzen mehr gibt, sondern darauf, ob die dieser Rechtsprechung zugrunde liegende Verfolgungssituation nicht mehr gegeben ist. Die 5. Kammer des erkennenden Gerichts hatte in dem diese Rechtsprechung begründenden Urteil vom 08.04.1992 - 5 A 5087/91 - ausgeführt, aufgrund zahlreicher Berichte stehe fest, dass sich auf dem Gebiet der damaligen Notstandsprovinzen Übergriffe der Sicherheitskräfte auch gegenüber an terroristischen Aktivitäten ersichtlich nicht beteiligten Personen dermaßen häuften, dass jeder in diesem Gebiet ansässige kurdische Volkszugehörige begründete Verfolgungsfurcht hegen müsse. Diese, der pauschalisierenden Rechtsprechung zugrunde gelegte Situation ist aktuell nicht mehr gegeben. Deshalb kann eine Verfolgung des Klägers unter dem Gesichtspunkt der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit derzeit ausgeschlossen werden.
Dies gilt aber nicht, soweit die Anerkennung der Flüchtlingsstellung des Klägers im Urteil vom 09.01.1996 auch auf der Tatsache beruhte, dass seine Tochter in ihrem Verfahren glaubhaft gemacht hatte, in nicht lediglich untergeordneter Art und Weise für die PKK tätig gewesen zu sein, was den türkischen Behörden bekannt geworden sei, die sie gesucht hätten.
Die neue Prognoseentscheidung im Rahmen des Widerrufsverfahrens ist aufgrund der aktuellen Sachlage zu treffen. Dabei ist die allgemeine Situation im Heimatstaat zu berücksichtigen, aber letztlich auf die individuelle Situation des Asylberechtigten bzw. Flüchtlings abzustellen.
Die Verfolgungssituation von Kurden, die aufgrund eines prokurdischen Engagements in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung einer illegalen kurdischen Organisation, insbesondere der PKK, geraten sind, und die Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei sind die Faktoren, die im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben. Diese Faktoren können nicht als dauerhaft beseitigt angesehen werden.
Eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist, kann in der Türkei daher nicht angenommen werden. Dazu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (U. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de) festgestellt, dass auch nach Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terrorgesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.
Diesen Feststellungen schließt sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung an (U. v. 16.12.2008 - 5 A 277/08 - www.dbovg.niedersachsen.de). Sowohl auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte als auch des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte stellt das erkennende Gericht ausdrücklich fest, dass die beschriebene Lage sich seit der zitierten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht verbessert, sondern eher verschärft hat.
In der tatsächlichen Umsetzung der Reformen bestehen erhebliche Defizite. Es kommt weiterhin zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams. Im Jahre 2007 wurde im Vergleich zum Vorjahr ein erheblicher Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlungen festgestellt. Vornehmlich wegen der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung von Foltertätern ist es nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Über den Umfang der darüber hinaus gehenden inoffiziellen Ingewahrsamnahmen mit Misshandlungen und Folter durch Zivilisten und Sicherheitskräfte in Zivil liegen derzeit keine zuverlässigen Erkenntnisse vor. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen finden Misshandlungen aber oft nicht mehr in Polizeistationen sondern an anderen Orten statt. Es werden dabei Formen unsichtbar bleibender Misshandlungen, wie etwa Elektroschocks, angewandt (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 08.04.2011, S. 21 ff.; VG München, U. v. 03.03.2011 - M 24 K 09.50456 - [...] unter Bezugnahme u.a. auf OVG Münster, U. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A; VG Göttingen, U. v. 12.11.2008 - 1 A 392/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de, m.w.N.; VG Stuttgart, U. v. 14.01.2008 - A 11 K 4866/07 -, [...]).
Mit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften ist es zu einem Anstieg von Menschenrechtsverletzungen sowie von Übergriffen der Sicherheitskräfte und der kurdischen Kräfte gekommen (vgl. Langanger, Minderheiten in der Türkei, Länderinformation des Bundesasylamtes der Republik Österreich, Juli 2011, ecoi.net. "Kurdische Rebellen erschießen laut Behörden 3 türkische SoldatInnen bei einem Hinterhalt", Radio Free Europe am 24.07.2011, ecoi.net; "Kurdish rebells Kill 13 Turkish Soldiers", New York Times, 14.07.2011, ecoi.net). Der türkische Generalstab hat zudem mehre Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, die einer strengen Kontrolle unterliegen (vgl. VG Göttingen, U. v. 12.11.2008, a. a. O, m.w.N.). Insbesondere nach einem Angriff von PKK-Kämpfern auf einen türkischen Grenzposten mit 38 Toten hat sich die Situation seit Anfang Oktober 2008 weiter verschärft. Von der türkischen Regierung wurde darauf die Vernichtung der PKK als wichtigstes Ziel ausgerufen, und die türkische Armee forderte freie Hand gegen die PKK (vgl. VG Ansbach, U. v. 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 -, [...], m.w.N.). Der weitere Verlauf des Konfliktes ist unklar ("Geheimtreffen auf der Insel", Der Spiegel 25/2011 S. 82).
Seit der Änderung des Antiterrorgesetzes im Jahre 2006 ist es zu zahlreichen Verhaftungen wegen "Terrorpropaganda" gekommen, deren Auslöser z.T. lediglich prokurdische Äußerungen waren (Reporter Ohne Grenzen e.V., .... systematische Verfolgung kritischer Journalisten in der Türkei", 31.03.2011, na-presseportal; Süddeutsche Zeitung v. 09.04.2010, "Der türkische Staat konterkariert mit harten Gerichtsurteilen die eigene Friedenspolitik gegenüber den Kurden"). Die ehemalige Parlamentsabgeordnete Leyla Zana ist wegen zweier Reden zur Isolationshaft von Abdullah Öcalan zu drei Jahren Haft mit der Untersagung jeder politischen Tätigkeit verurteilt worden (Neue Züricher Zeitung v. 12.04.2010).
Angesichts der geschilderten Entwicklung des Kurdenkonflikts in der Türkei ist nicht davon auszugehen, dass die Umstände, die die berechtigte Verfolgungsfurcht des Klägers begründet haben, dauerhaft entfallen sind. Im Einzelfall des Klägers hat dessen Tochter glaubhaft gemacht, erhebliche Aktivitäten für die PKK entwickelt zu haben, was den türkischen Behörden bekannt geworden ist. Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass türkische Behörden aufgrund der paternalistischen Gesellschaftsstruktur der Türkei ihn als Vater für die PKK-Tätigkeit seiner Tochter verantwortlich machen würden, so dass ihm zumindest anlässlich der Überprüfung bei der Einreise politisch motivierte Verfolgung in Gestalt von Misshandlungen drohte. Die berechtigte Verfolgungsfurcht des Klägers erstreckte sich daher nicht nur auf die Gefahr sippenhaftähnlicher Verfolgung, sondern auch auf eine eigene Gefährdung als für das Verhalten der Tochter verantwortlicher Vater. Diese Gefahr ist nicht dauerhaft entfallen. Soweit im angefochtenen Bescheid unter Bezugnahme auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes ausgeführt wird, in den letzten Jahren sei kein Fall mehr bekannt geworden, in dem auch exponierte Mitglieder der PKK bei Wiedereinreise menschrechtswidrig behandelt worden seien, ist dem entgegenzuhalten, dass es sich bei den rückgeführten Personen nur um solche Personen gehandelt haben kann, bei denen im Asylverfahren - gerichtlich - festgestellt worden war, dass eine Verfolgungsgefahr nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit bestand (vgl. OVG Münster, U. v. 27.03.2007 - 4728/05.A - Rdnr. 80 des Jurisabdrucks; VG München, a.a.O., Rdnr. 54 ff. und 58 des Jurisabdrucks). Daher ist die Prognose zu treffen, dass sich die der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zugrunde liegenden Umstände nicht derart geändert haben, dass die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung nicht mehr begründet erscheint und der Kläger es weiterhin anlehnen kann, den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen.
Unter diesen Voraussetzungen ist die Feststellung des Urteils vom 09.01.1996, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen drohen, im angefochtenen Widerrufsbescheid vom 17.11.2009 im Einzelfall nicht ausreichend widerlegt.
Auf die vom Kläger angesprochene Frage der verspäteten Einleitung des Widerrufsverfahrens kommt es danach nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO.