Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 23.02.1971, Az.: III A 67/70
Bewilligung von Erziehungsbeihilfe für den Besuch einer kaufmännischen Privatschule; Sicherstellung einer angemessenen Ausbildung eines Waisen nach seinen Anlagen und Fähigkeiten
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 23.02.1971
- Aktenzeichen
- III A 67/70
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1971, 15203
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:1971:0223.III.A67.70.0A
Rechtsgrundlagen
- § 27 Abs. 1 BVG
- § 7 Abs. 1 KOFVO
- § 10 KOFVO
- § 20 Abs. 1 KOFVO
Verfahrensgegenstand
Erziehungsbeihilfe
Die III. Kammer Braunschweig des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 1971
durch
Verwaltungsgerichtsdirektor Dr. Osterloh,
Verwaltungsgerichtsrat Dr. König und
Gerichtsassessor Radke sowie
die ehrenamtlichen Verwaltungsrichter Gaul und Hagena
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Bescheide des Beklagten vom 26. September 1969 und vom 22. April 1970 werden aufgehoben.
Die Kosten trägt der Beklagte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Der im Jahre 1944 geborene Kläger ist der Sohn eines kriegsverschollenen Landwirts, der in Landeshut (Schlesien) eine eigene Landwirtschaft zur Größe von 21,25 ha bewirtschaftet hatte. Seine Mutter flüchtete mit ihm bei Kriegsende in das Bundesgebiet.
Der Kläger hat bis Ostern 1958 die Volksschule besucht. Anschließend durchlief er in den Jahren 1958 bis 1961 auf einer Zeche in Bochum eine Ausbildung als Barglehrling (unter gleichzeitigen Besuch einer Bergberufsschule), die er mit der Ablegung einer Knappenprüfung abschloß. Es war im Anschluß daran noch bis zum September 1962 im Bergbau tätig. Ab Oktober 1962 arbeitete er bei den Opel-Werken als Naßschleifer und später als Spritzlackierens. Vom Januar 1964 bis zum Januar 1968 diente er als Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr.
In der Zeit von Anfang April 1966 bis Ende März 1970 besuchte der Kläger einen zweijährigen Lehrgang bei Kaufm. Privatschule in ... (die nach einem staatlich genehmigten Lehrplan an 30 Wochenstunden unterrichtet), im sich damit die Grundlage für eine spätere Tätigkeit entweder in der Verwaltung oder - gegebenenfalls nach weiterer Ausbildung einer Wirtschaftsoberschule - in der Wirtschaft zu schaffen. Bis Anfang Juli 1968 finanzierte der Kläger den Besuch dieser Schule durch eine Ausbildungsbeihilfe, die er von der Bundeswehr erhielt. Im Juni 1968 beantragte er, ihm für die Zeit nach dem Auslaufen der Bundeswehrförderung bis zum Lehrgangsabschluß Erziehungsbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG - zu gewähren. Der Beklagte bewilligte dem Kläger auch die Erziehungsbeihilfe, zuletzt durch Bescheid vom 24. April 1969 (geändert durch Bescheid vom 9. Mai 1969) für die Zeit vom April 1969 bis Ende März 1970.
Im August 1969 beanstandete der Präsident des Niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig anläßlich einer Rechnungsprüfung die Gewährung der Erziehungsbeihilfe, da der Kläger mit der abgeschlossenen Berglehre bereits eine angemessene Berufsausbildung habe. Dementsprechend widerrief der Beklagte durch Bescheid vom 26. September 1969 den Bewilligungsbescheid vom 24. April 1969 mit Wirkung vom 30. September 1969. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Bescheid vom 22. April 1970 zurück. Dagegen richtet sich die an 19. Mai 1970 erhobene Klage.
Mit ihr erstrebt der Kläger die Weitergewährung der Erziehungsbeihilfe für die Zeit vom 1. Oktober 1969 bis zum 30. März 1970. Er trägt vor: Die Bergbaulehre habe er nur notgedrungen aufgenommen, weil zuvor seine Bewerbung bei der Bundesbahn um Einstellung als Anwärter für den mittleren Dienst (Jungwerker) keinen Erfolg gehabt habe. Sein eigentliches Ziel sei es nur gewesen, eine höhere Handelsschule zu besuchen. Dazu würde ihm sein Vater verholfen haben. Eine derartige Ausbildung entspreche auch seinen - des Klägers - Fähigkeiten und Anlagen.
Der Kläger beantragt,
die Bescheide des Beklagten vom 26. September 1969 und vom 22. April 1970 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er erwidert: Zwar lasse sich angesichts der positiven Zeugnisse, die dem Kläger während der kaufmännischen Ausbildung erteilt worden seien, die Frage stellen, ob sein ursprünglicher Beruf als Bergmann "angemessen" im Sinne der einschlägigen Vorschriften des BVG seine. Dennoch könne der vom Kläger jetzt angestrebte Berufswechsel nicht als förderungswürdig angesehen werde. Wenn man bei der Frage, ob ein Berufswechsel gefördert worden könne, auf die Angemessenheit des ersten Berufes abstelle, so würde die Leistungsgewährung aufzuufern drohen, weil sie beim Entstehen heute noch unbekannter neuer Berufe dann jeweils wieder akut würde.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Parteien sowie auf die Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
II.
Die rechtzeitig erhobene und auch sonst zulässige Klage ist begründet.
Durch die angefochtenen Bescheide ist ein begünstigender Verwaltungsakt widerrufen worden. Ein solcher Widerruf setzt u.a. voraus, daß der begünstigende Verwaltungsakt rechtswidrig war. Daran fehlt es hier; vielmehr hatte der Beklagte dem Kläger zu Recht die Erziehungsbeihilfe für den Besuch der kaufmännischen Privatschule bewilligt.
§ 27 Abs. 1 BVG schreibt u.a. vor, daß für Waisen durch Erziehungsbeihilfe eine angemessene, ihren Anlagen und Fähigkeiten entsprechende berufliche Ausbildung sicherzustellen ist. Einzelheiten regelt die Verordnung zur Kriegsopferfürsorge - KOFVO - i.d.F. vom 27.8.1965 (BGBl I S. 1032). Nach § 20 Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 KOFVO soll es Ziel der Ausbildung, deren Förderung begehrt wird, sein, dem Auszubildenden dazu zu verhelfen, daß er einen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Beruf erlernt und ausübt. Die Förderung endet nach § 20 Abs. 1 i.V.m. § 10 KOFVO, wenn der mit ihr verfolgte Zweck erreicht ist. Diesen Vorschriften ist zu entnehmen, daß Förderungsmaßnahmen solange in Betracht kommen, als der Hinterbliebene einen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Beruf noch nicht erlernt hat. Dieses Stadium hatte der Kläger noch nicht erreicht, als er sich der kaufmännischen Ausbildung zuwandte.
Was im Einzelfall als "angemessene" und damit förderungswürdige berufliche Ausbildung i.S. der genannten Vorschriften anzusehen ist, bestimmt sich einerseits nach der persönlichen und fachlichen Eignung des Auszubildenden und ist andererseits mittels des Grundsatzes abzugrenzen, daß es bei der Erziehungsbeihilfe für Kriegerwaisen um den Ausgleich der wirtschaftlichen Schäden geht, die durch den Tod des Ernährers entstanden sind. Deswegen ist jeweils zu fragen, ob der Vater bei vernünftiger Abwägung, der Umstände und unter Berücksichtigung seines wirtschaftlichen Leistungsvermögens die erstrebte berufliche Ausbildung gefördert hätte. Dabei ergibt sich aus der Rückbeziehung der Erziehungsbeihilfe auf die Erwägungen eines "vernünftigen Vaters" sowie aus dem Ziel der Erziehungsbeihilfe, durch Vermittlung der Ausbildung der Waise eine persönlich und wirtschaftlich befriedigende Ausgangslage für das spätere Berufsleben zu schaffen, von selbst, daß unzweckmäßige, unvernünftige, unwirtschaftliche oder sonst, unangemessene Berufswünsche keine Berücksichtigung finden können. Demgemäß ist förderungswürdig eine Ausbildung, wenn sie dem mutmaßlichen wirtschaftlichen Leistungsvermögen des gefallenen Ernährers und seinem mutmaßlichen Verständnis für die Ausbildungswünsche seines Kindes entspricht, sich im Rahmen der in § 25 a BVG gewährleisteten sozialtypischen Lebenshaltung bewegt und der Auszubildende die erforderliche persönliche Eignung und Befähigung auf zuweisen hat (BVerwG Urt. v. 24.11.1965 - E 22, 360 - und v. 13.12.1967 - E 28, 318 -).
Diese Grundsätze bleiben auch dann anwendbar, wenn - wie hier - die Ausbildung einem Berufswechsel dienen soll. Daß in einem solchen Falle die Gewährung von Erziehungsbeihilfe nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 26.8.1964 (MDR 65, 160 [BVerwG 26.08.1964 - BVerwG V C 26.63]) ausgeführt. Zuvor bereits hatte das Bundesverwaltungsgericht für die Ausbildungshilfe nach dem LAG, die mit der Erziehungsbeihilfe nach dem BVG in etwa vergleichbar ist (vgl. dazu OVG Lüneburg OVG E 17, 363), dargelegt, daß durch einen Umweg des Berufsganges eine erstrebte Berufsausbildung nicht in Frage gestellt zu sein brauche. Vielmehr müsse auch die gesamte Persönlichkeit das Auszubildenden unter Würdigung seiner sozialen Herkunft und seines berechtigten Interesses an einer ihn befriedigenden Berufstätigkeit in Betracht gezogen werden, (BVerwG Urt. v. 28.9.1961 - RLA 62, 46 -, solche Erwägungen liegen ebenfalls dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.5.1969 - V C 67/68 - zugrunde). Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an, die dazu führt, daß eine zu einem Berufswechsel führende Ausbildung als förderungswürdig anzugehen ist, wenn sich herausstellt, daß der bereits erlernte Beruf nicht "angemessen" ist. Die dagegen vom Beklagten erhobenen Bedenken erscheinen der Kammer nicht überzeugend. Die Frage nach der Angemessenheit kann nicht beiseite geschoben werden, weil § 27 Abs. 1 BVG sie in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Eine Ausuferung der Leistungsgewährung ist nicht ernsthaft zu befürchten, weil neue Berufe nicht in rascher Folge entstehen und weil nicht jeder Wunsch nach einem Berufswechsel ohne weiteres einen Förderungsanspruch begründet.
Dem Kläger ist nicht bereits durch die Berglehre eine angemessene Berufsausbildung zuteil geworden. Vielmehr wird erst die nunmehr angestrebte kaufmännische Betätigung (eine Tätigkeit in der Verwaltung erwägt der Kläger nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht mehr) seinen Fähigkeiten und Anlagen wirklich entsprechen. Daß seine Begabung nicht vorwiegend auf praktisches Gebiet liegt, sondern daß bei ihm mit zunehmenden Alter intellektuelle Fähigkeiten in den Vordergrund getreten sind, zeigen die ihm in seinen mehrfachen Ausbildungsgängen erteilten Zeugnisse. Zwar kann sein Volksschulabgangszeugnis im ganzen als nur knapp befriedigend angesehen werden; immerhin fällt auf, daß auch hier die Leistungen in Rechnen bereits mit "gut" bezeichnet wurden. Aber schon in den Zeugnissen aus der Bergwerksausbildung (Knappenbrief und Zeugnisse der Berufsschule) werden die theoretischen Leistungen besser als die praktischen beurteilt. Nach dem Knappenbrief hat der Kläger die Knappenprüfung praktisch "ausreichend", theoretisch "befriedigend" bestanden. Das Abschlußzeugnis der Bergberufsschule attestiert dem Kläger in den fünf dort aufgeführten (theoretischen) Fächern nur "gute" oder "befriedigende" Leistungen. Diese Entwicklung setzte sich auf der kaufmännischen Privatschule fort. Aus allen drei von dieser Schule erteilten Zeugnissen ergibt sich, daß die Leistungen des Klägers durchweg zwischen "gut" und "befriedigend" lagen. Diese Umstände lassen den Schluß zu, daß beim Kläger offenbar im Laufe seiner Entwicklung eine (möglicherweise zunächst verdeckte) Neigung zu verstandesmäßiger Betätigung hervorgetreten ist. Diese Neigung wird als anlagebedingt anzusehen sein. Dafür sprechen die beiden Zeugnisse des Vaters des Klägers, die der letztere dem Gericht vorgelegt hat. Im Volksschulentlassungszeugnis wie im Abgangszeugnis der landwirtschaftlichen Schule sind die Leistungen des Vaters des Klägers bei nur sehr wenigen Ausnahmen durchweg mit "gut" oder "im ganzen gut" beurteilt worden. Die daraus ersichtliche intellektuelle Begabung kehrt, wie dargelegt, beim Kläger wieder. Ihr wird der Kläger gerecht, wenn er danach strebt, sie beruflich einsetzen zu können.
Die demnach angemessene kaufmännische Ausbildung ist für den Kläger auch sozialtypisch. Ein Landwirt in den Lebensumständen, in denen sich der Vater des Klägers befand, wird regelmäßig danach streben, seinen Kindern - soweit sie nicht ihrerseits in der Landwirtschaft tätig werden -eine gehobene Besrufsausbildung zukommen zu lassen. Es kann auch davon aufgegangen werden, daß der Vater des Klägers dazu imstande gewesen wäre. Insoweit kann dahinstehen, ob angesichts der Kriegsfolgen von den Vermögens- und Einkommensverhältnissen ausgegangen werden kann, in denen sich der Vater des Klägers zu seinen Lebzeiten befand. Auch wenn das Vertreibungsschicksal in Rechnung gestellt wird, das ihn - wäre er nicht kriegsverschollen - betroffen hätte, kann angenommen werden, daß er als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1904 und seiner Persönlichkeit nach imstande gewesen wäre, sich nach Kriegsende eine neue Existenz aufzubauen, die ihm die Finanzierung der hier strittigen Ausbildung des Klägers ermöglicht hätte. Davon ist offenbar auch der Beklagte bei der anfänglichen Bewilligung der Erziehungsbeihilfe ausgegangen. - Es spricht auch nichts dagegen, daß der Vater des Klägers dessen Wunsch nach einer gehobenen beruflichen Ausbildung befriedigt hätte.
Nach alledem entsprach die Bewilligung der Erziehungsbeihilfe der Rechtslage. Erweist sich schon deswegen ihr Widerruf als fehlerhaft, so kann offenbleiben, ob zu diesem Ergebnis auch der Umstand hätte führen müssen, daß der Kläger im Zeitpunkt des Widerrufs sich bereits dem Ende der geförderten Ausbildung näherte (vgl. Urt. d. BVerwG v. 13.12.1967 - E 28, 318, 322 - und v. 30.10.1964 - DVBl 64, 324, 326 [BVerwG 30.10.1963 - BVerwG V C 89.62] -).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 Ziff. 4 ZPO.
III.
Gegen dieses Urteil ist die Berufung an das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft, die ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils beim Verwaltungsgericht in Braunschweig schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb dieser Frist beim Oberverwaltungsgericht eingeht.
Dr. König
Radke