Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 21.03.2019, Az.: 2 B 85/19

Flüchtigkeit; Flüchtigsein; Überstellungsfrist

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
21.03.2019
Aktenzeichen
2 B 85/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69486
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

Der Antrag des Antragstellers,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, eine Überstellung des Antragstellers auf der Grundlage des Bescheides der Antragsgegnerin vom 30.01.2018 zu unterlassen und die diesbezügliche Amtshilfe durch die Ausländerbehörde Göttingen unverzüglich zu stornieren,

hilfsweise,

die Antragsgegnerin einstweilen – bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Übergang der Zuständigkeit für das Asylverfahren des Antragstellers auf die Beklagte – zu verpflichten, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zulasten des Antragstellers durchzuführen,

hat keinen Erfolg. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht geltend gemacht (§§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO.

Aufgrund des Bescheides der Antragsgegnerin vom 30. Januar 2018 steht bestands- und rechtskräftig fest, dass Slowenien für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist. Die hiergegen vom Antragsteller eingelegten Rechtsbehelfe blieben erfolglos. Seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das abschlägige Urteil des VG Osnabrück vom 09. Juli 2018 -5 A 142/18- wies das Nds. Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. August 2018 -10 LA 327/18-, zugestellt am 04. September 2018, zurück. Sein Antrag vom 05. März 2019, mit dem er die Antragsgegnerin auffordert, wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 i.V.m. 2 Dublin III-VO in das nationale Verfahren einzutreten, dessen vorläufiger Absicherung dieses gerichtliche Eilverfahren dienen soll, wird nach der in diesem Verfahren gebotenen vorläufigen Einschätzung der Sach- und Rechtslage keinen Erfolg haben. Der Antragsteller hat deshalb für seinen Antrag nach § 123 VwGO einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Überstellungsfrist ist entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers – noch – nicht abgelaufen.

Die Antragsgegnerin hat von der Möglichkeit der Fristverlängerung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO zulässigerweise Gebrauch gemacht, als sie den slowenischen Behörden unter dem 06. Februar 2019 mitgeteilt hat, die Überstellungfrist laufe erst am 28. Februar 2020 ab, weil der Antragsteller flüchtig gewesen sei.

Nach dieser Vorschrift kann die Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Ein Asylbewerber ist bereits dann flüchtig, wenn er unbekannten Aufenthalts ist, mit dem Ziel, sich vorsätzlich und unentschuldigt der Abschiebung zu entziehen. Erforderlich ist nicht, dass er seine Wohnung (dauerhaft) verlässt, den Ort wechselt bzw. untertaucht und sich dadurch dem Zugriff der Behörden entzieht. Die Formulierung ‚flüchtig ist‘ knüpft nämlich an die ‚Überstellung‘ an. Es reicht daher aus, wenn den Asylbewerber die Pflicht trifft, an einem bestimmten Ort zu verweilen oder jedenfalls seine Abwesenheit anzuzeigen, und er dies nicht tut, um sich der Abschiebung zu entziehen. Anders gewendet muss ein planvolles und vorsätzliches und unentschuldigtes Vorgehen in Bezug auf eine etwaige Überstellung vorliegen (Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, § 29 Rn. 251; weitergehend Filzwieser/Sprung Dublin III-VO, Art. 29 Anm. K 12, wonach es ausreicht, dass der Ausländer aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht auffindbar ist). In einem solchen Fall hat nach der ganz herrschenden erstinstanzlichen Rechtsprechung nicht der Mitgliedstaat, sondern der Asylbewerber den Ablauf der Frist zu vertreten (vgl. VG Berlin, B. v. 20. Februar 2019 -37 L 72.19 A- juris Rn. 15; VG Bayreuth, U. v. 23. Oktober 2017 – B 3 K 17.50068, juris Rn. 31; VG Regensburg, U. v. 20. Februar 2015 - RN 3 K 14.50264, juris sowie VG Magdeburg, B. v. 11. Dezember 2014 - 1 B 1196/14 m.w.N., juris; zum erforderlichen Pflichtenverstoß, VG Berlin, B. v. 25. Januar 2018 – VG 31 L 586.17 A, juris Rn. 14).

In dem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob der Asylbewerber wusste, dass eine Abschiebung bevorsteht und ihm nachgewiesen werden kann, dass er sich der Abschiebung entziehen wollte. Ausreichend ist es, dass sich aus den maßgeblichen Umständen und dem Kontext der Abwesenheit Anhaltspunkte ergeben, die ein Sich-Entziehen überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen (VGH Mannheim, B. v. 15. März 2017 – A 11 S 2151/16 – juris, Rn. 20; VG Berlin, B. v. 4. Februar 2019 – VG 24 L 470.18). So kann auch das pflichtwidrige Sich-Entfernen von der Unterkunft ohne Abmeldung wie hier genügen, um zu verhindern, dass eine Abschiebung fristgerecht geplant, vorbereitet und durchgeführt werden kann (VG Berlin, a.a.O.; VG Ansbach, B. v. 26. September 2017 – AN 14 E 17.51000 – juris, Rn. 41).

Jüngst hat hierzu nun auch der Europäische Gerichtshof Stellung genommen. In seinem Urteil vom 19.03.2019 –C 163/17-, Jawo gegen Bundesrepublik Deutschland, hat er ausgeführt (zitiert nach juris):

„61 Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, auf die die zuständigen Behörden beim Nachweis der Absichten der betreffenden Person stoßen können, könnte die Verpflichtung der Behörden zur Erbringung dieses Nachweises es Personen, die internationalen Schutz beantragen und nicht an den Mitgliedstaat überstellt werden möchten, der nach der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist, ermöglichen, einen Übergang der Zuständigkeit für diese Prüfung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat zu bewirken, indem sie sich bis zum Ablauf der sechsmonatigen Frist den Behörden dieses Mitgliedstaats entziehen.

62 Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, ist daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, annehmen dürfen, dass sie beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.

63 In diesem Kontext ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten – wie die Bundesrepublik Deutschland es offenbar tatsächlich getan hat – nach Art. 7 Abs. 2 bis 4 der Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der Wahl des Aufenthaltsorts, die Asylbewerbern eröffnet ist, beschränken können und von ihnen verlangen dürfen, dass sie zuvor eine behördliche Erlaubnis zum Verlassen dieses Ortes einholen müssen. Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie schreiben die Mitgliedstaaten ferner den Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen.

64 Allerdings müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Aufnahmerichtlinie die Antragsteller über diese Pflichten unterrichten. Einem Antragsteller kann nämlich nicht zum Vorwurf gemacht werden, die ihm zugewiesene Wohnung verlassen zu haben, ohne die zuständigen Behörden darüber informiert zu haben und gegebenenfalls ohne bei ihnen eine vorherige Erlaubnis eingeholt zu haben, wenn der Antragsteller über diese Pflichten nicht unterrichtet worden ist. Das vorlegende Gericht hat im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich über diese Pflichten unterrichtet worden war.

65 Da zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass es stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Antragsteller den zuständigen Behörden seine Abwesenheit nicht mitgeteilt hat, muss ihm die Möglichkeit des Nachweises erhalten bleiben, dass er nicht beabsichtigte, sich den Behörden zu entziehen.“

Daran gemessen spricht Überwiegendes für ein planvolles Entziehen des Antragstellers im Zeitpunkt des Fristablaufs. Mag die Vergeblichkeit des ersten Abschiebungsversuches am 08. Januar 2019 für sich genommen noch keinen hinreichend sicheren Anhaltspunkt für ein Flüchtigsein bezüglich des Vorsatzes dargestellt haben, kann dies nach Durchführung des zweiten Abschiebungsversuchs am 04. Februar 2019 nicht mehr gelten. Zu diesem Zeitpunkt galt die sofort vollziehbare und mittlerweile nach Rücknahme der dagegen gerichteten Klage (1 A 17/19) bestandskräftige Ordnungsverfügung vom 08. Januar 2019 der Stadt Göttingen, die den Antragsteller einer Abmeldepflicht unterwarf, wenn er seine zugewiesene Unterkunft werktags im Zeitraum 0.00 bis 6.00 verlassen wollte. Sie diente im Sinne des § 46 Abs. 1 AufenthG der Förderung der Abschiebung des vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers dergestalt, dass sie seine Erreichbarkeit des Nachts für die vollstreckende Behörde zur Durchsetzung der Ausreisepflicht sicherstellen wollte. Rechtliche Bedenken gegen diese Ordnungsverfügung der Stadt Göttingen bestehen nicht (vgl. Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 15. Januar 2019 -8 ME 93/18-, juris und die im Verfahren 1 B 18/19 ergangene Hinweisverfügung des Berichterstatters vom 17. Januar 2019).

Gegen diese Abmeldepflicht hat der Antragstelle verstoßen, denn er hat den ihm zugewiesenen Raum in der Gemeinschaftsunterkunft leer hinterlassen und wurde von den Vollzugsbeamten dort am 04. Februar 2019 um 04:15 Uhr nicht angetroffen. Er hat seine Abwesenheit entgegen der ihm mit Verfügung der Stadt Göttingen vom 08. Januar 2019 auferlegten Pflicht dort nicht spätestens am vorherigen Tage angezeigt. Der DRK, Betreiber der Flüchtlingsunterkunft, in der zu wohnen der Antragsteller verpflichtet ist, meldete die Abwesenheit des Klägers erst am 04. Februar 2019 um 16:20 Uhr und der Anwalt des Klägers erst am 13. Februar 2019 bei der Ausländerbehörde der Stadt Göttingen. Nur bei kurzfristiger (spontaner) Abwesenheit besteht nach der Verfügung vom 08. Januar 2019 die Möglichkeit, eine schriftliche Nachricht unter Angabe des Aufenthaltsorts im Eingangsbereich der Wohnung (z.B. an der Eingangstür) zu hinterlassen. Auf diese Regelung beruft sich der Antragsteller zu Unrecht.

Zum einen teilte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers in dem o.a. Schriftsatz vom 13. Februar 2019 mit, sein Mandant halte sich nachts bei einer bestimmten Person und nicht in seiner Unterkunft auf. Hiermit macht er geltend, der Antragsteller halte sich stets und regelmäßig bei der namentlich genannten Person auf. Unabhängig davon, dass hierin wohl ein Verstoß gegen die Pflicht zur Wohnsitznahme in der Einrichtung B zu sehen wäre, schließt dies eine spontane Abwesenheit, die allein einen Hinweiszettel hätte genügen lassen, von vornherein aus.

Selbst wenn man einen solchen Hinweis zu Gunsten des Antragstellers genügen lassen wollte, entlastet ihn dies nicht. Denn nach den Feststellungen der Vollzugsbeamten hat sich ein solcher Hinweis nirgends finden lassen. Dies ergibt sich aus ihrem Einsatzvermerk vom 04. Februar 2019. Aus diesem ergibt sich zudem, dass der Antragsteller nach Auskunft des in der Einrichtung tätigen Sicherheitsdienstes seit September 2018 nicht mehr in der Unterkunft gewesen sei. Demgegenüber hält das Gericht zwei in den Akten der Ausländerbehörde Göttingen befindliche Bescheinigungen von Bewohnern der Unterkunft vom 25. Februar 2019, die im Verfahren auf Leistungskürzung abgegeben worden sind, für Gefälligkeitsbescheinigungen. Aus ihnen lässt sich zudem nicht erkennen, wann denn dieser angebliche Hinweiszettel an der Wohnungstür des Antragstellers gehangen hat.

Im Zusammenhang mit dem vorangegangenen erfolglosen Abschiebungsversuch ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass der Antragsteller im Zeitpunkt des Fristablaufs am 28. Februar 2019 flüchtig war.

Besondere Umstände, die zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO durch die Bundesrepublik Deutschland führen würden, sind seitens des Antragstellers weder konkret vorgetragen noch ersichtlich.