Abschnitt A VP-RdErl
Bibliographie
- Titel
- Richtlinien über die verdeckte Informationsgewinnung im Rahmen der Strafverfolgung durch Informantinnen und Informanten, Vertrauenspersonen, Verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler und sonstige nicht offen ermittelnde Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte
- Redaktionelle Abkürzung
- VP-RdErl,NI
- Normtyp
- Verwaltungsvorschrift
- Normgeber
- Niedersachsen
- Gliederungs-Nr.
- 21021
Von der 65. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 4./5. 11. 1993 und der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren am 26. 11. 1993 sind die folgenden Richtlinien vereinbart worden:
I.
Inanspruchnahme von Informantinnen und Informanten sowie Einsatz von Vertrauenspersonen
(V-Personen) im Rahmen der Strafverfolgung
1.
Grundsätzliches
1.1 Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sind Polizei und Staatsanwaltschaft in zunehmendem Maße auf Informationen und Hinweise aus der Öffentlichkeit angewiesen. Diese lassen sich oft nur gegen Zusicherung der Vertraulichkeit gewinnen.
1.2 Darüber hinaus ist bei bestimmten Erscheinungsformen der Kriminalität der Einsatz von V-Personen erforderlich. Sie können regelmäßig nur dann für eine Mitarbeit gewonnen werden, wenn ihnen die Geheimhaltung ihrer Identität zugesichert wird.
1.3 Die Inanspruchnahme von Informantinnen und Informanten und der Einsatz von V-Personen sind als zulässige Mittel rechtsstaatlicher Strafverfolgung anerkannt.
1.4 Der Zeugenbeweis ist eines der wichtigsten Beweismittel, das die Strafprozessordnung zur Wahrheitserforschung zur Verfügung stellt. Die besondere Natur dieses Beweismittels gebietet es grundsätzlich, dass die Zeugin oder der Zeuge vor der Staatsanwaltschaft und/oder dem Gericht aussagt. Daher kann Informantinnen und Informanten und V-Personen nur nach den folgenden Grundsätzen Vertraulichkeit oder Geheimhaltung zugesichert oder bestätigt werden.
2.
Begriffsbestimmungen
2.1 Informantin oder Informant ist eine Person, die im Einzelfall bereit ist, gegen Zusicherung der Vertraulichkeit der Strafverfolgungsbehörde Informationen zu geben.
2.2 V-Person ist eine Person, die, ohne einer Strafverfolgungsbehörde anzugehören, bereit ist, diese bei der Aufklärung von Straftaten in der Regel auf längere Zeit vertraulich zu unterstützen und deren Identität grundsätzlich geheimgehalten wird.
3.
Voraussetzungen der Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung
3.1 Vor der Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung im Bereich der Strafverfolgung ist soweit möglich zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 96 StPO auch im Hinblick auf das spätere Hauptverfahren vorliegen.
3.2 Die Inanspruchnahme von Informantinnen und Informanten und der Einsatz von V-Personen gebieten eine Abwägung der strafprozessualen Erfordernisse der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der vollständigen Sachverhaltserforschung einerseits und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung andererseits. Hierbei ist der Grundsatz des rechtsstaatlichen fairen Verfahrens zu beachten.
- a)
Die Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung kommt im Bereich der Schwerkriminalität, der Organisierten Kriminalität, des illegalen Betäubungsmittel- und Waffenhandels, der Falschgeldkriminalität und der Staatsschutzdelikte in Betracht.
- b)
Im Bereich der mittleren Kriminalität bedarf es einer besonders sorgfältigen Prüfung des Einzelfalles. Die Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung wird ausnahmsweise dann in Betracht kommen, wenn durch eine Massierung gleichartiger Straftaten ein die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und die Allgemeinheit ernsthaft gefährdender Schaden eintreten kann.
- c)
In Verfahren der Bagatellkriminalität kommt die Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung nicht in Betracht.
3.3 Informantinnen und Informanten dürfen nur in Anspruch genommen, V-Personen nur eingesetzt werden, wenn die Aufklärung sonst aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Werden sie in Anspruch genommen oder eingesetzt, so ist Ziel der weiteren Ermittlungen das Beschaffen von Beweismitteln, die den strafprozessualen Erfordernissen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme entsprechen und einen Rückgriff auf diese Personen erübrigen.
3.4 Einer Informantin oder einem Informanten darf Vertraulichkeit nur zugesichert werden, wenn diese/dieser bei Bekanntwerden ihrer/seiner Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden erheblich gefährdet wäre oder unzumutbare Nachteile zu erwarten hätte.
3.5 Nicht jede Person kommt als V-Person in Betracht. Der Einsatz von Minderjährigen und Mandatsträgerinnen oder Mandatsträgern des Europäischen Parlaments, des Bundestages oder eines Landesparlaments oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer solchen Mandatsträgerin oder eines solchen Mandatsträgers oder einer Fraktion oder Gruppe eines solchen Parlaments ist nicht zulässig. Eine Person soll nicht als Vertrauensperson verwendet werden, wenn sie ein Angebot zum Ausstieg aus einer Bestrebung nach § 3 Abs. 1 Nrn. 1, 3 oder 4 NVerfSchG angenommen oder die Absicht dazu hat und durch die Verwendung als Vertrauensperson der Ausstieg gefährdet wäre. Berufsgeheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnisträger (§ 53 StPO) sowie Berufshelferinnen und Berufshelfer (§ 53a StPO) dürfen Staatsanwaltschaft und Polizei nicht von sich aus als V-Personen verwenden.
4.
Umfang und Folgen der Zusicherung
Staatsanwaltschaft und Polizei sind an die Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung gebunden. Die einmal erteilte Zusage gilt für sämtliche Abschnitte des Verfahrens und darüber hinaus.
Die Bindung entfällt grundsätzlich, wenn
- a)
die Information wissentlich oder leichtfertig falsch gegeben wird,
- b)
die V-Person von einer Weisung vorwerfbar abweicht,
- c)
sich eine strafbare Tatbeteiligung der Empfängerin oder des Empfängers der Zusicherung herausstellt,
- d)
die V-Person sich bei ihrer Tätigkeit für die Strafverfolgungsbehörden strafbar macht oder
- e)
die V-Person sich sonst als unzuverlässig erweist.
Hierauf ist die Informantin oder der Informant/die V-Person vor jeder Zusicherung hinzuweisen.
5.
Genehmigungsverfahren
5.1 Über die Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung entscheidet im Bereich der Staatsanwaltschaft die Behördenleitung oder eine von ihr besonders bezeichnete Staatsanwältin oder ein von ihr besonders bezeichneter Staatsanwalt, bei Gefahr im Verzuge die Dezernentin oder der Dezernent.
Die Genehmigungsvorbehalte der Polizei richten sich nach den unter Abschnitt B II dieses Gem. RdErl. dargestellten Zuständigkeiten.
5.2 Vor der Zusicherung der Vertraulichkeit gegenüber einer Informantin oder einem Informanten ist die Einwilligung der Staatsanwaltschaft herbeizuführen, es sei denn, dass anderenfalls der Untersuchungszweck gefährdet würde. Ist die Einwilligung nach Satz 1 nicht eingeholt worden, so ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten.
5.3 Soll eine V-Person in einem Ermittlungsverfahren gezielt eingesetzt werden, so ist zur Bestätigung der zugesicherten Geheimhaltung für diesen Einsatz die Einwilligung der Staatsanwaltschaft einzuholen. Kann die Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden, so ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich über den Einsatz zu unterrichten.
5.4 In begründeten Ausnahmefällen unterrichtet die Polizei die Staatsanwaltschaft auch über die Identität der Informantin oder des Informanten/der V-Person. Vertraulichkeit/Geheimhaltung ist zu gewährleisten.
5.5 Die Zusage der Vertraulichkeit/Geheimhaltung umfasst neben den Personalien auch die Verbindung zu Strafverfolgungsbehörden sowie alle Umstände, aus denen Rückschlüsse auf die Eigenschaft als Informantin oder Informant/V-Person gezogen werden könnten.
5.6 Die Staatsanwaltschaft fertigt über das Gespräch mit der Polizei über die Mitwirkung der Informantin oder des Informanten/der V-Person und über die getroffene Entscheidung ohne Nennung des Namens einen Vermerk zu den Generalakten 4110. Die Polizei erhält eine Durchschrift des Vermerks. Vertrauliche Behandlung ist sicherzustellen. Die Polizei verfährt entsprechend.
II.
Einsatz Verdeckter Ermittlerinnen und Ermittler (VE) und sonstiger nicht offen ermittelnder
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamter (NoeP) im Rahmen der Strafverfolgung
1.
Grundsätzliches
1.1 Die qualitativen Veränderungen der Erscheinungsformen der Kriminalität, insbesondere der Organisierten Kriminalität, erfordern dieser Entwicklung angepasste Methoden der Verbrechensbekämpfung.
1.2 Zu ihnen gehört neben der Inanspruchnahme von Informantinnen und Informanten und V-Personen auch der operative Einsatz von VE und von NoeP.
2.
Begriffsbestimmungen
2.1 VE sind Beamtinnen und Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (Legende) ermitteln (§ 110a Abs. 2 StPO).
2.2 NoeP sind Beamtinnen und Beamte des Polizeidienstes, die zeitlich begrenzt verdeckte Maßnahmen durchführen, ohne VE zu sein.
3.
Voraussetzungen und Genehmigungsverfahren
3.1 Der Einsatz von VE richtet sich nach den §§ 101 und 110a bis 110c StPO.
3.2 VE dürfen keine Straftaten begehen. Eingriffe in Rechte Dritter sind ihnen nur im Rahmen der geltenden Gesetze gestattet. Als gesetzliche Generalermächtigung kann § 34 StGB nicht herangezogen werden. Unberührt bleiben in Ausnahmefällen eine Rechtfertigung oder eine Entschuldigung des Verhaltens der einzelnen Polizeibeamtin oder des einzelnen Polizeibeamten, z. B. unter den Voraussetzungen der §§ 34 und 35 StGB.
3.3 Bei Verletzungen von Rechtsgütern, die zur Disposition des Berechtigten stehen, kann die Rechtswidrigkeit auch unter dem Gesichtspunkt der mutmaßlichen Einwilligung entfallen.
3.4 Die Entscheidung über die Zustimmung der Staatsanwaltschaft trifft die Behördenleitung oder eine von ihr besonders bezeichnete Staatsanwältin oder ein von ihr besonders bezeichneter Staatsanwalt. Die Genehmigungsvorbehalte der Polizei richten sich nach den unter Abschnitt B II dieses Gem. RdErl. dargestellten Zuständigkeiten.
3.5 Beim Einsatz auftretende materiell- oder verfahrensrechtliche Probleme trägt die Polizei an die Staatsanwaltschaft heran. Die Staatsanwaltschaft trifft ihre Entscheidung in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Polizei.
3.6 Die oder der VE ist von der Strafverfolgungspflicht gemäß § 163 StPO nicht befreit.
3.6.1 Aus kriminaltaktischen Erwägungen können Ermittlungsmaßnahmen, die in den Auftrag der oder des VE fallen, zurückgestellt werden.
3.6.2 Neu hinzukommenden zureichenden Anhaltspunkten für strafbare Handlungen braucht die oder der VE solange nicht nachzugehen, als dies ohne Gefährdung ihrer oder seiner Ermittlungen nicht möglich ist; dies gilt nicht, wenn sofortige Ermittlungsmaßnahmen wegen der Schwere der neu entdeckten Tat geboten sind.
3.6.3 In den Fällen der Nummern 3.6.1. und 3.6.2. ist die Zustimmung der Staatsanwaltschaft herbeizuführen. Kann die Zustimmung nicht rechtzeitig herbeigeführt werden, so ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten. Nummer 3.5 gilt entsprechend.
3.7 Die Staatsanwaltschaft fertigt über die Gespräche mit der Polizei, über die Mitwirkung der oder des VE und über die getroffenen Entscheidungen - ohne Nennung des Namens der oder des VE - Vermerke, die gesondert zu verwahren sind. Die Polizei erhält eine Durchschrift des Vermerks. Vertrauliche Behandlung ist sicherzustellen. Die Polizei verfährt entsprechend.
3.8 Die Entscheidungen nach § 101 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 9 sowie Abs. 5 bis 7 StPO trifft die Staatsanwaltschaft im Benehmen mit der Polizei. Nummer 3.4 gilt entsprechend. Die Staatsanwaltschaft setzt die Polizei über ihre Entscheidung vor deren Ausführung in Kenntnis.
3.9 Die Ermittlungstätigkeit von NoeP richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen. NoeP treten grundsätzlich als Zeugin oder Zeuge vor Gericht offen auf. Ergibt sich im Einzelfall die Notwendigkeit, deren Identität im Strafverfahren geheim zu halten, so ist für den Einsatz die Zustimmung der Staatsanwaltschaft einzuholen. Ist diese nicht rechtzeitig zu erlangen, ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten; sie entscheidet, ob der Einsatz fortgeführt werden soll. Die Staatsanwältin oder der Staatsanwalt, die oder der für die Entscheidung über die Zustimmung zu dem Einsatz zuständig ist, kann verlangen, dass ihr oder ihm gegenüber die Identität der oder des NoeP offenbart wird. Geheimhaltung ist zu gewährleisten.
3.10 Der Einsatz von NoeP darf nicht dazu dienen, die gesetzlichen Regelungen für den Einsatz von VE zu umgehen. NoeP dürfen ohne Vortäuschen eines Zutrittsrechts fremde Wohnungen betreten. Ist das Erfordernis zum Betreten von Wohnungen vorhersehbar, ist die Einwilligung der Staatsanwaltschaft herbeizuführen. Konnte die Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden, so ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten.