Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 29.09.1980, Az.: 1 W 44/80
Herkunft und Erläuterungen des Grundsatzes der Unschuldvermutung; Grundrechtscharakter der Unschuldvermutung; Respektierung der Unschuldvermutung in Veröffentlichungen im Pressewesen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 29.09.1980
- Aktenzeichen
- 1 W 44/80
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1980, 14163
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:1980:0929.1W44.80.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG ... - 19.08.1980
Rechtsgrundlage
- Art. 6 Abs. 2 EMRK
Fundstelle
- AfP 1981, 292
In dem Rechtsstreitverfahren
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
durch
den Präsidenten des Oberlandesgerichts ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
am 29. September 1980
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des Landgerichts ... vom 19. August 1980 wird zurückgewiesen.
Gründe
Außer Frage steht, daß die Presse in der Bundesrepublik bei ihrer Berichterstattung über Handlungen, die den Verdacht der Strafbarkeit erwecken, die Grenzen zu respektieren hat, die ihr die sog. Unschuldsvermutung zieht, wonach jedermann bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld als unschuldig gilt. Dies folgt zwar nicht aus Art. 6 Abs. 2 EMRK, der in der Bundesrepublik nur als einfaches Gesetz gilt und in der Auslegung durch die Menschenrechtskommission nur die Träger staatlicher Macht bindet. Die Unschuldsvermutung hat aber wenn nicht Grundrechtscharakter, so doch Verfassungsrang. Schon Art. 9 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hat jeden Menschen so lange für unschuldig erachtet, bis er für schuldig erklärt ist, und die Universal Declaration of Human Rights vom 10.12.1948 enthält ebenso die Unschuldsvermutung wie die UNO-Konvention über Bürgerliche und Politische Rechte vom 16.12.1966. Als fundamentales Prinzip leitet sich die Unschuldsvermutung im Recht der Bundesrepublik aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) her. Legt man ihr Grundrechtscharakter bei, so nimmt sie an der Ausstrahlungswirkung auf private Rechtsverhältnisse teil, die das Bundesverfassungsgericht den Grundrechten beilegt; sie würde dann das allgemeine Persönlichkeitsrecht spezifizieren und dieses bei der Abwägung gegenüber der Pressefreiheit in seinem Gewicht verstärken.
Aber auch dann, wenn man die Unschuldsvermutung mit dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verknüpft, wie das beispielsweise Roxin (Lehrbuch des Strafverfahrensrechts, 12. Aufl., S. 54) tut und der Senat für richtig hält, müssen die Medien bei voller Anerkennung des durch die Tat erregten Informationsinteresses der Öffentlichkeit die Unschuldsvermutung respektieren. Denn die Medien können nach diesem Prinzip keine weiteren Eingriffsrechte beanspruchen, als sie der Staatsanwaltschaft und dem Gericht zustehen, die beide an die Unschuldsvermutung gebunden sind. Anderenfalls würde die Kriminalberichterstattung nur deshalb, weil sie von Privaten vorgenommen wird, den Schutzzweck der Unschuldsvermutung unterlaufen. Gesellschaftliche Vorverurteilungen durch die Medien sind wegen ihrer Prangerwirkung eine vorweggenommene soziale Sanktion (zu alledem Wassermann, Justiz und Medien, 1980, S. 66 ff mit Nachweisen).
Die Antragsgegnerin hat im Text ihrer Veröffentlichungen die Unschuldsvermutung respektiert, jedoch in der Überschrift des Berichtes in der Ausgabe vom 25.9.1976 den Antragsteller als Betrüger bezeichnet, obwohl zu dieser Zeit nur ein Tatverdacht bestand und der gesetzliche Nachweis der Schuld noch nicht erbracht war.
Dieser Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Antragstellers kann indessen eine Schadensersatzverpflichtung nur auslösen, wenn dem Antragsteller dadurch ein Schaden entstanden ist. An dieser Darlegung fehlt es, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, so daß das beantragte Armenrecht zu Recht versagt worden ist.