Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 11.06.1992, Az.: 5 U 110/90

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.06.1992
Aktenzeichen
5 U 110/90
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 28441
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 10.04.1990 - AZ: 17 O 464/89

In dem Rechtsstreit
...
wegen Schadensersatzes
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 1992 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters ... und der Richter Dr. ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das am 10. April 1990 verkündete Urteil der 17. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise, geändert und insgesamt neu gefaßt:

  1. I.
    1. 1.

      Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 64.780,87 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 19. Dezember 1989 zu zahlen.

    2. 2.

      Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin 2/3 des weiteren auf sie übergegangenen Schadens zu ersetzen, der aus dem Arbeitsunfall des Herrn ... vom 26. August 1984 herrührt.

    3. 3.

      Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

  2. II.

    Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 1/3 und die Beklagte 2/3.

  3. III.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    Die Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin, gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 83.000 DM und die Klägerin ihrerseits darf die Vollstreckung der Beklagten hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 5.000 DM vorläufig abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Beiden Parteien wird nachgelassen, die Sicherheit auch durch Beibringung einer schriftlichen, unbedingten, unbefristeten, unwiderruflichen und selbstschuldnerischen Bürgschaft einer Bank oder Sparkasse mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland zu erbringen.

  4. IV.

    Beschwer der Beklagten: über 60.000 DM und Beschwer der Klägerin: unter 60.000 DM.

Tatbestand

Die Klägerin macht aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) Schadensersatzansprüche nach einem Arbeitsunfall des bei ihr versicherten Arbeiters ... geltend.

Im Rahmen der Umlegung der Bundesstraße 6 in Bremen mußten u.a. Brückenbauarbeiten im Bereich ... ...bahnstrecke Bremen-Oldenburg, ausgeführt werden. Den Zuschlag für diese Brückenbauarbeiten erhielt eine Arbeitsgemeinschaft, an der u.a. die Firma ... beteiligt war, für die ... tätig war.

Im ... 1984 war zur Vorbereitung der Bauarbeiten ein Lehrgerüst montiert worden. Außerdem waren zwischen Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaft, der ... ...bahn und des Amtes für Straßen- und Brückenbau Absprachen über die Abschaltung der vorhandenen stromführenden Oberleitungen getroffen worden. Nach Durchführung der Arbeiten sollte im ... 1984 der Ausbau des Gerüstes erfolgen. Bei diesen Arbeiten in der Nacht vom ... zum ... 1984 fiel eine Holzbohle von dem Baugerüst auf die etwa 5m entfernt liegende Speiseleitung; von dem Polier der Firma ... wurde der Arbeitgeber ... angewiesen, diese Bohle zu entfernen. Bei Annäherung an die Speiseleitung, die Strom führte, sprang ein Funke über und verletzte ... schwer. Zu diesem Zeitpunkt war lediglich die ebenfalls stromführende Fahrleitung abgeschaltet worden.

Die Klägerin hat für ... Aufwendungen in Höhe von 97.551,31 DM erbracht und macht diesen Betrag voll gegen die Beklagte geltend. Ferner begehrt sie eine Feststellung der Eintrittspflicht der Beklagten für jeden weiteren Schaden. Die Beklagte leugnet jegliche Haftung. Das angefochtene Urteil hat der Klage entsprochen.

In der Berufungsinstanz streiten die Parteien weiterhin über die Verpflichtung der Beklagten, im Rahmen der ihr angekündigten Baumaßnahmen den Strom beider Oberleitungen abzustellen und um den Inhalt der hierüber vor dem Unfall getroffenen Absprachen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, im Hinblick auf Ziffer 36.1 der "Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen im Straßen- und Brückenbau" habe die Firma ... im Verhältnis zur Beklagten für Schäden allein einzustehen, so daß die Grundsätze des gestörten Gesamtschuldverhältnisses heranzuziehen seien. Im übrigen habe allein ein Fehlverhalten von Mitarbeitern der Firma ... zu dem Unfall geführt. Der Polier ... habe gewußt, daß die Speiseleitung entsprechend eindeutiger Absprachen der Parteien zuvor zum Unfallzeitpunkt nicht abgeschaltet gewesen sei. Die bei diesen Absprachen benutzten Begriffe hätten einen eindeutigen Inhalt gehabt. Im damaligen Sprachgebrauch sei die Oberleitung nur die Fahrleitung gewesen, der Begriff der Oberleitung habe sich daher nicht auf die Speiseleitung bezogen. Zwischenzeitlich habe sich der Sprachgebrauch gewandelt. Nach heutigen Gebräuchen seien Fahrleitung und Speiseleitung zusammen als Oberleitung anzusprechen.

Auch von den beabsichtigten Arbeiten her sei die Abschaltung der Speiseleitung nicht geboten gewesen. Die Speiseleitung habe anders als die Fahrleitung nicht im unmittelbaren Bereich der erforderlichen Arbeiten gelegen, sondern habe bei einem Abstand von ca. 5m keine konkrete Gefahr gebildet.

Die Beklagte vertritt daher die Auffassung, hinter dem schwerwiegenden Fehlverhalten der leitenden Mitarbeiter der Firma ... trete auch die Gefährdungshaftung gemäß § 2 Haftpflichtgesetz vollständig zurück.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Freistellungsvereinbarung habe im Verhältnis der Parteien keine Bedeutung. Die Beklagte sei darüber hinaus für den Unfall vom ... 1984 allein verantwortlich. Die leitenden Mitarbeiter der Firma ... hätten aufgrund der getroffenen Vereinbarungen von einer Abschaltung nicht nur der Fahrleitung, sondern auch der Speiseleitung ausgehen können. Bereits damals seien die Begriffe eindeutig gewesen: Die Oberleitung habe Speiseleitung und Fahrleitung umfaßt. Im übrigen sei nach den Sicherheitsrichtlinien der Beklagten wegen der Lage dieser Oberleitungen bei der der Beklagten bekannten beabsichtigten Baumaßnahme auch die Abschaltung der Speiseleitung unerläßlich gewesen.

Wegen des weiteren Vortrages der Parteien im einzelnen wird auf die zwischen ihnen in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das angefochtene Urteil verwiesen. Der Senat hat durch Zeugenvernehmung Beweis erhoben; auf das Protokoll der Sitzung vom 17. März 1992 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache nur einen Teilerfolg.

I.

Die Beklagte kann sich auf die Klausel 36 der "Zusätzlichen Vertragsbedingungen für die Ausführungen von Bauleistungen im Straßen- und Brückenbau" nicht berufen, weil das Problem des "doppelt gestörten Gesamtschuldnerausgleichs" nach den Grundsätzen BGHZ 110, 114 im vorliegenden Fall keine Rolle spielt.

II.

In der Haftungsfrage ist gemäß §§ 2, 4 Haftpflichtgesetz, 831, 823, 254 BGB, 116 SGB X 1/3: 2/3 zum Nachteil der Beklagten zu quotieren.

Mitarbeiter der Beklagten und der Firma ... haben sich schuldhaft fehlverhalten und damit zu dem Unfall vom ... 1984 beigetragen; der Mitverantwortungsanteil der Beklagten überwiegt dabei.

1. Nach den überzeugenden Angaben des Poliers ... - die inhaltlich insoweit zwischen den Parteien unstreitig sind - betrug die Entfernung zwischen den Gerüstteilen, die es zu beseitigen galt, und den Oberleitungen (also Fahr- und Speiseleitung) nur je ca. 35 cm im Zwangspunkt; sie entsprach also dem absoluten Mindestabstand. Nach Auffassung des Senats war es unter diesen Umständen erforderlich, den Strom in der Fahrleitung und der Speiseleitung abzuschalten, wenn Arbeiten durchgeführt wurden, bei denen die Bauteile über der Oberleitung bewegt wurden. Die Beklagte hat selbst vorgetragen (Bl. 202 d.A.), daß Gerüstarbeiten in unmittelbarer Nähe der unter einer Spannung von 15.000 Volt stehenden Leitungen nicht nur gefahrgeneigt, sondern hochgefährlich sind. Dem entspricht, daß sie in den "Schutzregeln zur Verhütung von Unfällen", Heft 59, unter Ziffer 82 einen Schutzabstand von mindestens 1,50 m empfiehlt (Seite 32, 33 dieses Heftes, Hülle Bl. 313 d.A.).

Die am Unfalltag durchgeführten Arbeiten hätten deshalb nur nach Abschaltung der Oberleitung insgesamt durchgeführt werden dürfen, also von Fahr- und Speiseleitung.

2. Für die Durchführung dieser Abschaltungsmaßnahmen war die Beklagte verantwortlich, weil sie Betreiber dieser Anlage war und - da nur sie über Abschaltmöglichkeiten verfügte - damit "Herr der Gefahr".

Die Beklagte nimmt dabei nicht in Abrede, rechtzeitig über die beabsichtigten Maßnahmen informiert worden zu sein. Ihre Mitarbeiter hatten davon Kenntnis, daß am 1984 mit der Demontage des Lehrgerüstes begonnen werden sollte. Dies ergibt sich aus dem eigenen Vortrag der Beklagten und wird von den Angaben des ...bahnbeamten ... gestützt.

Die Beklagte wäre deshalb in der Lage und verpflichtet gewesen,unabhängig von eventuellen Einzelabsprachen mit Mitarbeitern derFirma ... Abschaltungsmaßnahmen durchzuführen. Für diese Sicherungsmaßnahmen konnte es dabei nicht darauf ankommen, welcher Aufwand erforderlich werden würde und welche Auswirkungen auf den Bahnverkehr eintreten würden. Die erforderlichen Baumaßnahmen geboten vielmehr wegen ihres hohen Risikos, das sich hier in dem Arbeitsunfall verwirklicht hat, die rigorose Einhaltung der gebotenen Sicherungsmaßnahmen.

Auf die Einhaltung dieses Sicherheitsstandards durfte die Beklagte auch nicht deshalb verzichten, weil - aus Sicht ihrer Mitarbeiter - die Bauleitung und Mitarbeiter der Firma ... auf das Risiko hingewiesen worden waren. Das Gefahrenpotential hatte so erhebliches Gewicht, daß es nicht in das Belieben potentiell Geschädigter gestellt werden durfte, auf die gebotenen Sicherungsmaßnahmen zu verzichten.

3. Andererseits hätte auch die zuständige Bauleitung, also die Mitarbeiter der Firma ... sich darüber vergewissern müssen, daß die sich jedermann aufdrängende Notwendigkeit von Sicherungsmaßnahmen bei den zuständigen Mitarbeitern der Beklagten erkannt und konsequent umgesetzt werden würde. Die Beweisaufnahme vor dem Senat hat hierzu ergeben, daß zum Unfallzeitpunkt ein ausgesprochen unklarer Inhalt der Begriffe Oberleitung, Fahrleitung (= Fahrdraht) und Speiseleitung zu verzeichnen war. Die Angaben des Oberbauleiters ... machen gerade auch in der unterschiedlichen Begriffsverwendung in den Betriebsanweisungen Nr. 584 V vom 11. August 1983 und Nr. 467 V vom 1. März 1984 deutlich, daß sich die Mitarbeiter der Firma ... letztlich nur auf ein eigenes Verständnis verlassen haben, obwohl ihnen hätte klar sein müssen, daß in diesem sicherheitsrelevanten Bereich eine vollkommen eindeutige Formulierung von Absprachen erforderlich war. Gerade wenn in der Einbauphase nach einem ausdrücklichen Gespräch darüber, daß Fahrdraht und Speiseleitung abzuschalten seien, im Text nur von der Abschaltung des Fahrdrahtes die Rede war/hätte eine - dann auch möglichst schriftlich fixierte - Klarstellung erfolgen müssen. Aus dem Abschalten von Fahrdraht und Speiseleitung durften allein keine Rückschlüsse auf das Verhalten der ...bahn während der Abbauphase gezogen werden. Auch die Verwendung des Begriffes der Oberleitung in der Betra Nr. 467 V war unter diesen Umständen nicht eindeutig genug.

Einen Rückschluß darauf, daß - neben den unterschiedlichen Begriffen in beiden Betriebsanweisungen - in der damaligen Realität unklare Begriffe verwendet wurden, erlauben die Angaben des geschädigten ... selbst.

4. Bei der Abwägung dieser Verursachungs- und Verschuldensanteile ist es gerechtfertigt, die Haftung des Betreibers der Anlage höher anzusetzen, als die der zuständigen Bauleitung der Firma ..., so daß der Senat zu der Quotierung von 2/3: 1/3 kommt.

5. Bei der Abwägung in der Haftungsfrage können Vorgänge unmittelbar vor dem Unfallereignis im Baustellenbereich nicht berücksichtigt werden, weil die Abläufe im einzelnen auch im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme unklar geblieben sind.

a) Die Zeugen ... haben widersprüchliche Angaben zu der Frage gemacht, ob sich ... bei dem Mitarbeiter der Beklagten ... vor Beauftragung des sodann geschädigten Arbeiters ... ausdrücklich vergewissert hat, ob Fahrleitung und Speiseleitung ausgeschaltet seien. Beide Sachdarstellungen sind plausibel und möglich; der Senat sieht keine Möglichkeit, insoweit den Sachverhalt weiter aufzuklären.

b) Es läßt sich ferner nicht feststellen, daß der Polier ... oder der Geschädigte ... an Ort und Stelle die Möglichkeit gehabt haben, festzustellen, daß die Speiseleitung nicht abgeschaltet war. Die Erdung der Fahrleitung ist ohne weiteres sichtbar, weil dies mit einer Stange geschieht, die von der Leitung zur Schiene führt. Hingegen erfolgt die Erdung der Speiseleitung mit einem Kabel, das von der Leitung an den Mast und an diesem herunter zur Erde geführt wird. Dabei kann die Erdung der Speiseleitung auch weiter ab von der Baustelle erfolgen, so daß dies vor Ort nicht unmittelbar erkennbar ist.

c) Es läßt sich ferner nicht feststellen, daß der Verletzte selbst eine eigene Mitverantwortung an dem Arbeitsunfall zu tragen hat. Er durfte sich ohne weiteres auf die Weisung seines Poliers ... verlassen; es fiel nicht in seine Zuständigkeit, sich selbst bei Mitarbeitern der Beklagten zu vergewissern, wann Arbeiten gefahrlos durchzuführen waren. Vielmehr traf den Polier und sonstige Mitarbeiter der Bauaufsicht hierfür die Verantwortung. Weitere dem Verletzten selbst zur Verfügung stehende Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des Risikos seines Handelns sind nicht ersichtlich.

c)

III.

1. Auf der Basis dieser Quotierung von 1/3: 2/3 steht der Klägerin folgender Anspruch zu:

Die erbrachten Aufwendungen von 97.551,31DM sind um 380 DM zu kürzen; wegen dieses Teilbetrages ist die Klage unschlüssig. Aus der Abrechnung der Klägerin Bl. 27, 28 d.A. folgt, daß sich der Verletzte 38 Tage in stationärer Behandlung befunden hat, so daß sich unter Berücksichtigung eines gemäß § 287 ZPO geschätzten Tagessatzes von 10 DM häusliche Ersparnisse von insgesamt 380 DM ergeben. Während der Zeit der stationären Behandlung vom ... bis ... 1984 hat ... dabei keinerlei Leistungen zur Erstattung von Verdienstausfall erhalten, was in der Erörterung vor dem Senat in der letzten mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 1992 unstreitig geblieben ist. Die Klägerin kann daher(nur) von 97.171,31 DM ausgehen, so daß die Beklagte ihr 64.780,87 DM (nebst Zinsen) zu erstatten hat.

2. Antragsgemäß war unter Berücksichtigung der Quotierung und des gesetzlichen Forderungsübergangs gemäß § 116 SGB X in der Haftungsfrage ferner die Verpflichtung der Beklagten festzustellen, der Klägerin weiteren materiellen Schaden zu erstatten.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97 ZPO. Über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist gemäß §§ 708 Nr. 10, 711, 108 ZPO entschieden worden. Die Pestsetzung der Beschwer beruht auf § 546 Abs. 2 ZPO.