Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.06.2003, Az.: 1 Ss (B) 21/03
anderer Geschehensablauf; Beweiswürdigung; Bruder; Bußgeldverfahren; Einlassung; Fahrereigenschaft; Fahreridentifizierung; Geschwindigkeitsüberschreitung; Haltereigenschaft; Identifizierungsmerkmal; Identitätsfeststellung; Motorradfahrt; Nichterörterung; Radarfoto; Rechtsbeschwerdegericht; Teilschweigen; Verkehrsordnungswidrigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 16.06.2003
- Aktenzeichen
- 1 Ss (B) 21/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48411
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG - 17.03.2003 - AZ: 24 A OWi 905 Js 57084/02
Rechtsgrundlagen
- § 261 StPO
- § 337 StPO
- § 71 OWiG
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Goslar vom 17. März 2003 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an den Bußgeldrichter des Amtsgerichts Goslar zurückverwiesen.
Gründe
I. Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen, der sich dahin eingelassen hat, er habe sein Motorrad verliehen gehabt, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße in Höhe von 300 € und ein Fahrverbot von 3 Monaten verhängt. Den Feststellungen zum Geschwindigkeitsverstoß liegt eine Radarmessung zugrunde. Die Überzeugung davon, dass der Betroffene Fahrer des Fahrzeugs war, hat das Amtsgericht, weil ihm die Eignung der vorhandenen Radarfotos (Bl. 1/1R GA) zu einer Identifizierung fraglich erschien, aus der Haltereigenschaft des Betroffenen, seinem Aussageverhalten, dem Fehlen von Hinweisen auf eine andere als Fahrer in Betracht kommende Person sowie aus Übereinstimmungen der abgebildeten Person mit dem Betroffenen im Bereich der Augen und Augenbrauen gewonnen (S. 2 UG).
Mit der Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte und durch die Erhebung der Sachrüge auch entsprechend begründete Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Das Urteil hält einer Nachprüfung aufgrund der Sachrüge nicht stand, denn die der Tatsachenfeststellung zugrunde liegende Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.
Die im angefochtenen Urteil angeführten Indizien sind nicht zutreffend gewürdigt worden und erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Haupttatsache, nämlich der Fahrereigenschaft des Betroffenen, nicht.
1. Soweit das Amtsgericht dem Einlassungsverhalten des Betroffenen eine belastend indizielle Wirkung beigemessen hat, ist dies fehlerhaft.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (BGH, StraFo 2002, 260) kann zwar von indizieller Bedeutung sein, wenn ein Angeklagter zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen Angaben macht und insoweit lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen unterlässt (sog. Teilschweigen, vgl. BGHSt 45, 367, 369 f. m. w. N.). Das Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO unterliegt (vgl. BGH NStZ 2000, 494, 4 m. w. N.).
Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, nicht er, sondern einer seiner Brüder habe das Motorrad zur Tatzeit geführt; dessen Benennung hat er allerdings verweigert. Darin liegt ein Teilschweigen, das der Tatrichter würdigen durfte, wenn nach den Umständen eine andere mögliche Ursache des Verschweigens ausgeschlossen werden konnte (vgl. BGH, StraFo 2002, 260 [BGH 18.04.2002 - 3 StR 370/01]). Das war hier aber nicht der Fall. Hatte nämlich einer seiner Brüder tatsächlich das Fahrzeug geführt, käme der Schutz des Bruders als andere - nahe liegende - mögliche Ursachen des Verschweigens seines Namens in Betracht.
Da ein Wechsel in der Einlassung des Betroffenen, der vorliegend Schlussfolgerungen zuließe, nicht festgestellt worden und es dem Senat aus Rechtsgründen verwehrt ist, diese Feststellung (vgl. Anhörungsbogen - Bl. 4 -, polizeilicher Vermerk vom 18.10.02 - Bl. 9 - und Schreiben des Betr. vom 19.11.02 - Bl. 20 -) nachzuholen, kann sich die Überzeugungsbildung nicht auf das Aussageverhalten des Betroffenen stützen.
2. Auch die vom Amtsgericht festgestellte Übereinstimmung der Augen und Augenbrauenpartie zwischen dem Betroffenen und dem Lichtbild des Fahrers begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Das Amtsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass nach Inhalt und Qualität des Fotos Zweifel an seiner Eignung als Grundlage für eine Identifizierung des Fahrers bestehen, und hat sich deshalb - im Grundsatz zutreffend - auf Identifizierungsmerkmale gestützt; auf dem Foto sind diese aber nicht als charakteristisch erkennbar. Mangels entsprechender - sich sowohl auf das Foto als auch auf den Betroffenen beziehender - Angaben im Urteil ist es dem Senat daher nicht möglich nachzuvollziehen, ob die festgestellte Übereinstimmung die Überzeugung von der Identität des Betroffenen mit dem abgebildeten Fahrzeugführer überhaupt tragen kann, die vom Gericht gezogene Schlußfolgerung also nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (vgl. BGH, StV 2002, 235; BGH NJW 1982, 2882, 2883 m. w. N.).
3. Soweit das Amtsgericht aus der Haltereigenschaft des Betroffenen den möglichen Schluss gezogen hat, er habe sein Krad bei der Tat selbst geführt, beruht diese Schlussfolgerung auf einer unvollständigen und deshalb rechtsfehlerhaften Würdigung, so dass der Senat als Rechtsbeschwerdegericht insoweit nicht an die Überzeugung des Tatrichters vom Tatgeschehen gebunden ist (vgl. BGH, NStZ 2002, 139-140; StraFo 2002, 82-83). Die Bindung entfällt nämlich dann, wenn bei der Beweiswürdigung die naheliegende Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs unerörtert bleibt (vgl. BGHSt 25, 365, 367; Kuckein in KK 4. Aufl. § 337 Rdn. 29; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 337 Rdn. 26, 29). Der schlichte Hinweis, es lägen keine konkreten Anhaltspunkte für einen anderen Fahrzeugführer vor, schließt die nahe liegende Möglichkeit, das Motorrad einem Bruder überlassen zu haben, nicht aus.
Wegen der aufgezeigten Mängel ist das angefochtene Urteil nach §§ 79 Abs. 3 OWiG, 353 StPO aufzuheben. Da weitere Ermittlungen möglich sind, deren Durchführung nach dem Gesetz allein Aufgabe des Tatrichters ist, kann der Senat auch nicht nach § 79 Abs.6 OWiG selbst in der Sache abschließend entscheiden, sondern hat diese nach §§ 79 Abs. 3 OWiG, 354 StPO an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
III. Eine Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde ist gegenwärtig nicht angezeigt, da der endgültige Ausgang des Verfahrens noch offen ist.