Landgericht Göttingen
Beschl. v. 08.08.2023, Az.: 1 T 11/23

Prüffrist Versicherung; Anlass zur Klageerhebung; sofortiges Anerkenntnis; Anwendbarkeit der Grundsätze des § 93 ZPO im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 91a Abs 1 Satz 1 ZPO

Bibliographie

Gericht
LG Göttingen
Datum
08.08.2023
Aktenzeichen
1 T 11/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 33340
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGGOETT:2023:0808.1T11.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Göttingen - 16.02.2023 - AZ: 18 C 187/22

Fundstelle

  • JurBüro 2023, 586-587

Amtlicher Leitsatz

Zur Anwendung der Grundsätze des § 93 ZPO im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 91a Abs 1 Satz 1 ZPO, insbesondere bei Ankündigung eines Antrags auf Klageabweisung im Rahmen der Verteidigungsanzeige.

In der Beschwerdesache
A., B, C.
- Kläger und Beschwerdeführer -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt D., E, C.,
Geschäftszeichen,
gegen
F. AG vertr. d. d. Vorstand, G., H.
- Beklagte und Beschwerdegegnerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen I., J., H.,
Geschäftszeichen,
hat das Landgericht Göttingen - 1. Zivilkammer - durch den Richter am Landgericht K. als Einzelrichter am 8. August 2023 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 wie folgt abgeändert:

    Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu 77 % und die Beklagte zu 23 % zu tragen.

  2. 2.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu 77 % und die Beklagte zu 23 % zu tragen.

Gründe

I.

Gegenstand des erstinstanzlichen Rechtsstreits war ursprünglich eine Forderung in Höhe von 2.469,62 €, die der Kläger gegen die Beklagte aus einem Verkehrsunfallereignis geltend machte. Der Kläger hatte die Beklagte vorgerichtlich zur Zahlung dieses Betrags mit E-Mail seines Prozessbevollmächtigten vom 12. August 2022 bis zum 26. August 2022 aufgefordert. Die Beklagte leistete zunächst nicht.

Der Kläger erhob daraufhin mit Klageschrift vom 12. September 2022 Klage, die der Beklagten am 20. September 2022 zugestellt wurde. Am 22. September 2022 leistete die Beklagte eine Zahlung in Höhe von 1.536,34 €. Mit Schriftsatz vom 27. September 2022 erklärte der Kläger daraufhin den Rechtsstreit in dieser Höhe für erledigt. Der Erledigungserklärung schloss sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 7. November 2022, beim Amtsgericht eingegangen am 8. November 2022, an. Bereits zuvor, nämlich mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2022, beim Amtsgericht eingegangen am selben Tag, hatte die Beklagte Verteidigungsanzeige verbunden mit einem Antrag auf Klageabweisung abgegeben und - jedenfalls nach dem 13. Oktober 2022 - die Zahlung weiterer 561,68 € an den Kläger veranlasst.

Mit Schriftsatz vom 24. November 2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, erklärte der Kläger den Rechtsstreit in Höhe weiterer 561,68 € teilweise für erledigt und nahm die Klage im Übrigen (wegen 371,60 €) zurück. Der teilweisen Erledigungserklärung schloss sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2022, beim Amtsgericht eingegangen am 13. Dezember 2023, an.

Das Amtsgericht hat dem Kläger mit Beschluss vom 16. Februar 2023 sämtliche Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Seine Entscheidung hat es damit begründet, dass der Kläger die Kosten des zurückgenommenen Teils der Klage nach § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO zu tragen habe. Im Übrigen sei über die Kosten gemäß § 91a ZPO zu befinden und entspreche es billigem Ermessen, dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, weil die Beklagte keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben habe. Der Kläger habe die Beklagte hinsichtlich der Klageforderung nicht in Verzug gesetzt.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner sofortigen Beschwerde. Er macht geltend, dass es für die Frage, ob die Beklagte Anlass zur Klageerhebung gegeben habe, auf die Frage des Verzugs nicht ankomme. Es komme vielmehr darauf an, ob die Beklagte innerhalb der ihr zugebilligten Prüffrist von vier Wochen in die Schadensregulierung eingetreten sei oder nicht. Dies habe die Beklagte vorliegend nicht getan. Zwischen der Aufforderung zur Regulierung und der Klageerhebung hätten 31 Tage gelegen.

Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 7. März 2023 nicht abgeholfen und die Akten dem Landgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Im Verfahren vor der Kammer verteidigt die Beklagte die angefochtene Entscheidung. Sie ist der Auffassung, keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben zu haben.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist gemäß § 793 ZPO der statthafte Rechtsbehelf und in der gemäß § 569 ZPO erforderlichen Form und Frist eingelegt worden.

2. Die sofortige Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

a) Zutreffend hat das Amtsgericht dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits wegen 371,60 € der Klageforderung gemäß § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO auferlegt. Nimmt der Kläger die Klage teilweise zurück, so sind ihm die Kosten des Rechtsstreits insoweit unter Berücksichtigung des § 92 ZPO gemäß § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO aufzuerlegen (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 2019 - VIII ZR 12/18, juris Rn. 55). Der Kläger hat die Klage hinsichtlich eines Betrags in Höhe von 371,60 € (etwa 15% der Klageforderung) zurückgenommen. Ein Ausnahmefall nach § 269 Abs. 3 Satz 2, 3 ZPO ist nicht gegeben. Auch eine Anwendung des § 92 Abs. 2 ZPO scheidet aus, weil der zurückgenommene Anteil der Klageforderung über 10% der ursprünglichen Gesamtklageforderung liegt und daher nicht im Sinne der Vorschrift des § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verhältnismäßig geringfügig ist (vgl. nur Musielak/Voit/Flockenhaus, ZPO, 20. Aufl., § 92 Rn. 6). Ferner ist ein Fall des § 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht gegeben.

b) Soweit das Amtsgericht die Kostenentscheidung im Übrigen auf der Grundlage des § 91a Abs. 1 ZPO getroffen hat, ist die Entscheidung teilweise rechtsfehlerhaft.

Gemäß § 91a Abs. 1 ZPO entscheidet das Gericht über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen durch Beschluss, wenn die Parteien in der mündlichen Verhandlung oder durch Einreichung eines Schriftsatzes oder zu Protokoll der Geschäftsstelle den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.

aa) Bei Beantwortung der Frage, welcher Partei nach billigem Ermessen die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen sind, ist in erster Linie darauf abzustellen, welche Partei im Falle des Fortgangs des Verfahren voraussichtlich obsiegt hätte oder unterlegen wäre (§§ 91, 92 ZPO; vgl. BeckOK ZPO/Jaspersen, Stand: 1. März 2023, § 91a ZPO Rn. 1, 31). Begibt sich eine Partei dabei durch Zahlung auf die Klageforderung freiwillig in die Rolle des Unterliegenden, hat sie insoweit grundsätzlich die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, wenn nicht erkennbar ist, dass die Zahlung aus anderen Gründen erfolgt ist als dem, dass der Rechtsstandpunkt der klagenden Partei im Ergebnis hingenommen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2021 - VI ZR 1232/20, NJW 2021, 2589 Rn. 2 mwN). Dies ist vorliegend der Fall, soweit die Beklagte in Höhe von 2.098,02 € auf die Klageforderung geleistet hat, weshalb ihr insoweit grundsätzlich die Kosten des Verfahrens aufzugeben sind.

bb) Allerdings kann auch der Grundgedanke des § 93 ZPO im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 91a ZPO herangezogen werden (BGH, Beschluss vom 9. Februar 2006 - IX ZB 160/04, NJW-RR 2006, 773 [BGH 09.02.2006 - IX ZB 160/04] Rn. 9 mwN; vgl. auch OLG Karlsruhe, NJOZ 2021, 1432, 1433). Nach dieser Vorschrift fallen dem Kläger die Prozesskosten zur Last, wenn der Beklagte nicht durch sein Verhalten zur Erhebung der Klage Veranlassung gegeben hat und er den Anspruch sofort anerkennt. Eine Kostentragung nach den Grundsätzen der §§ 91, 92 ZPO kommt in diesen Fällen - unter Abweichung von den unter aa) aufgezeigten Maßstäben - nicht in Betracht.

Die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundgedankens der Vorschrift des § 93 ZPO liegen hier - entgegen der Auffassung des Amtsgerichts - nur hinsichtlich der am 22. September 2022 geleisteten 1.536,34 €, nicht aber hinsichtlich der erst nach dem 13. Oktober 2022 geleisteten 561,68 € vor.

(1) Veranlassung zur Erhebung einer Klage gibt ein Verhalten, das vernünftigerweise den Schluss auf die Notwendigkeit eines Prozesses rechtfertigt (BGH, Beschlus vom 8. März 2005 - VIII ZB 3/04, NJW-RR 2005, 1005 unter (II) 2). Dabei ist allgemein anerkannt, dass dem Haftpflichtversicherer (auch in einfach gelagerten Fällen) eine angemessene Überprüfungszeit zur Klärung des Haftungsgrunds sowie der Schadenshöhe zugestanden werden muss, vor deren Ablauf Anlass zur Klageerhebung jedenfalls nicht besteht (vgl. KG, Beschluss vom 30. März 2009 - 22 W 12/09, juris Rn. 7; OLG Karlsruhe NJOZ 2021, 1432, 1433 f.; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2017, 697, 698 [BGH 16.03.2017 - V ZB 150/16]; jeweils mwN) und die für den konkreten Einzelfall zu bemessen ist (vgl. OLG Karlsruhe NJOZ 2021, 1432, 1434 mit zahlreichen Nachweisen).

Demgegenüber führt allerdings nicht jedes Verstreichen der Prüffrist unmittelbar dazu, dass der Geschädigte vernünftigen Anlass zu dem Schluss haben darf, er könne eine Regulierung seines Schadens nur durch eine Klage erreichen. Vielmehr besteht Klageveranlassung erst dann, wenn erkennbar wird, dass eine angemessene Prüfung verzögert oder dem Anspruch bereits ohne Prüfung entgegengetreten wird (vgl. KG, Beschluss vom 30. März 2009 - 22 W 12/09 Rn. 7). Dies gilt bereits deshalb, weil zwischen dem Geschädigten und dem Haftpflichtversicherer des Schädigers - gerade in Anbetracht der bestehenden Unsicherheiten bei der Bemessung der Prüffrist - unterschiedliche Vorstellungen über die Länge der Prüffrist bestehen können. Meint der Haftpflichtversicherer aber, wie auch vorliegend, eine längere Prüffrist zu haben als ihm der Geschädigte einräumen möchte, liegt in der Überschreitung der seitens des Geschädigten angenommenen Prüffrist nicht ohne Weiteres der Erklärungswert, der Haftpflichtversicherer werde nicht ohne Einschaltung der Gerichte leisten.

(2) Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte vorliegend bezüglich der unmittelbar nach Klagezustellung geleisteten 1.536,34 € Anlass zur Klageerhebung nicht gegeben. Der Kläger durfte, nachdem er der Beklagten eine Prüffrist von gerade zwei Wochen eingeräumt hatte, aus der schlichten Nichtzahlung der Beklagten nicht ohne Weiteres den Schluss ziehen, die Beklagte werde ohne Klageerhebung überhaupt nicht leisten. Vielmehr hätte er - gerade angesichts der kurzen gesetzten Regulierungsfrist und der Tatsache, dass die Beklagte mit Schreiben vom 16. August 2022 mitgeteilt hatte, dass sie eine Stellungnahme des Versicherten bisher nicht erhalten habe - Anlass gehabt, sich vor Klageerhebung bei der Beklagten nach dem Stand der Regulierung zu erkundigen, ohne dass es dabei allerdings, wie das Amtsgericht gemeint hat, zwangsläufig auf die Frage der Verzugsbegründung ankommt. Entsprechend durfte die Beklagte auch - nachdem sie an den Kläger 1.536,34 € geleistet hatte - der Klage hinsichtlich dieser Forderung mit einem Klagabweisungsantrag entgegentreten.

(3) Diese Erwägungen gelten allerdings nicht für die weiteren geleisteten 561,68 €, bezüglich derer die dargestellten Grundsätze zu §§ 91, 92 ZPO Anwendung finden. Denn sofort ist ein Anerkenntnis nach § 93 ZPO im laufenden Rechtsstreit nur dann, wenn es zum erstmöglichen Zeitpunkt abgegeben wird. Dies ist regelmäßig der Zeitpunkt der Verteidigungsanzeige. Aus diesem Grund ist ein Anerkenntnis im Rahmen der Klageerwiderung nur dann noch ein sofortiges im Sinne des § 93 ZPO, wenn der Beklagte in der Verteidigungsanzeige keinen Antrag auf Klageabweisung angekündigt hat und dem Klageanspruch auch nicht auf sonstige Weise entgegengetreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2019 - IX ZB 54/18, juris Rn. 7).

Anhand dieses Prüfungsmaßstabs ist der Beklagten hinsichtlich der nach dem 13. Oktober 2022 geleisteten 561,68 € für Sachverständigenkosten die Berufung auf den Grundgedanken des § 93 ZPO versagt. Dies gilt unabhängig von der Beantwortung der zwischen den Parteien streitigen Frage, wann der Beklagten die Rechnung für die der Forderung zugrundeliegenden Sachverständigenkosten seitens des Klägers zur Verfügung gestellt worden ist. Denn für die Beklagte hätte in Anbetracht der erhobenen Klage Anlass bestanden, innerhalb der Frist zur Abgabe der Verteidigungsanzeige zu prüfen, ob sie der geltend gemachten Forderung in Höhe von 561,68 €, nicht, bereits grundsätzlich oder unter dem Vorbehalt einer näheren Prüfung innerhalb der Klageerwiderungsfrist entgegentreten möchte. Für die Beklagte hätte dabei im vorliegenden Fall, um in den Genuss der Kostenregelung des § 93 ZPO zu kommen, insbesondere die Möglichkeit bestanden, die Forderung bereits mit der Verteidigungsanzeige anzuerkennen oder aber - ohne insoweit Klagabweisungsantrag anzukündigen oder sich sonst gegen die Forderung zu verteidigen - geltend zu machen, dass ein Anerkenntnis in Betracht komme und dieses bis zum Ablauf der Klageerwiderungsfrist geprüft werde. Dies hat die Beklagte allerdings nicht getan. Vielmehr hat sie auch hinsichtlich der nach dem 13. Oktober 2022 geleisteten 561,68 € in der Verteidigungsanzeige vom 7. Oktober 2022 die Klageabweisung beantragt und so zu erkennen gegeben, dass sie den Rechtsstreit führen werde.

Nachdem hiernach hinsichtlich dieser Forderung die Anwendung des § 93 ZPO für ein - hier nicht abgegebenes - gerichtliches Anerkenntnis ausschied, ist es der Beklagten - entgegen ihrer Auffassung - auch hinsichtlich der außergerichtlichen Erfüllung, die zur Erledigung des Rechtsstreits geführt hat, versagt, sich im Rahmen der nach § 91a Abs. 1 ZPO zu treffenden Kostenentscheidung auf die Privilegierung des § 93 ZPO zu berufen. Eine anderweitige Betrachtung führte zu einer Umgehungsmöglichkeit des engen Anwendungsbereichs des § 93 ZPO über die Herbeiführung einer Kostenentscheidung nach § 91a ZPO durch außergerichtliche Leistung.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 91 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 1 ZPO.

4. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 3 ZPO liegen nicht vor. Die Zulassung durch den Einzelrichter ist nicht zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2012 - VIII ZB 91/11, juris Rn. 3 f.) und eine Übertragung der Sache auf die Kammer kam nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen des § 568 Satz 2 ZPO nicht gegeben sind. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen zu § 91a Abs. 1, § 93 ZPO sind höchst- oder wenigstens obergerichtlich geklärt. Die Kammer weicht in der getroffenen Entscheidung von diesen Grundsätzen auch nicht ab.