Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 19.08.1992, Az.: 1 A 184/91
Bewilligung von Hilfe zur Pflege; Bewertung der Pflegebedürftigkeit; Dauernde Bedürftigkeit fremder Hilfe in erheblichem Umfang; Bindende Wirkung der Feststellung des Versorgungsamtes ; Pflege von behinderten Kindern durch die Eltern
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 19.08.1992
- Aktenzeichen
- 1 A 184/91
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1992, 17219
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:1992:0819.1A184.91.0A
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs. 4 SchwbG
- § 33b Abs. 3 EStG
- 69 Abs. 2 BSHG
Verfahrensgegenstand
Pflegegeldes gemäß § 69 Abs. 2 BSHG
Prozessführer
der Frau ...
Prozessgegner
den ...
Redaktioneller Leitsatz
Mit Vorliegen des Merkzeichens "H" im Schwerbehindertenausweis ist gleichsam zwangsläufig auch die allgemeine Pflegebedürftigkeit als tatbestandliche Voraussetzung für die Gewährung der Pflegebeihilfe gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 BSHG erfüllt.
In dem Rechtsstreit
hat die 1. Kammer Stade des Verwaltungsgerichts Stade
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. August 1992,
an der teilgenommen haben:
Präsident des Verwaltungsgerichts Schmidt
Richter am Verwaltungsgericht Steffen
Richter Wermes
Ehrenamtlicher Richter
Ehrenamtlicher Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Bescheid der Stadt ... vom 20. November 1990 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 27. September 1991 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Pflegegeldes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Bewilligung von Hilfe zur Pflege.
Die 1961 geborene Klägerin ist aufgrund einer Oligophrenie bei Trisomie 21 (Mongolismus) zu 100 % erwerbsgemindert. Nach dem. Besuch der Sonderschule für geistig Behinderte ist sie im Arbeitsbereich der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe ... GmbH beschäftigt. Vom Versorgungsamt ... wurde die Klägerin als schwerbehindert anerkannt.
Mit Bescheid vom 2. April 1986 entschied das Versorgungsamt ..., daß bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen vorliegen. Unter Ziffer 2.3 des Bescheides war als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen aufgeführt:
"2.3 Hilflosigkeit infolge der Behinderung besteht bei Personen, die für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedürfen (Merkzeichen H)".
Dementsprechend wurde in dem Bescheid festgestellt, daß Hilflosigkeit vorliegt.
Der Schwerbehindertenausweis der Klägerin, der das Merkzeichen "H" aufweist, wurde am 17. Januar 1990 ohne neuerliche gutachtliche Stellungnahme bis Ende 2005 verlängert.
Die Klägerin lebt im Einfamilienhaus ihrer Eltern.
In einer amtsärztlichen Stellungnahme vom 24. Oktober 1990 wurde festgestellt, daß die Klägerin das Aufstehen, tägliche Duschen, wöchentliche Baden, An- und Auskleiden, Haarewaschen und -kämmen ohne Anleitung bewältigt. Lediglich bei der Nagelpflege benötigt sie Hilfe. Danach ist nur bezüglich der häuslichen Sauberkeit eine regelmäßige Kontrolle erforderlich. Diesen Betreuungsumfang der Klägerin bestätigten die Eltern der Klägerin.
In dem Ergänzungsbogen zu dem von der Klägerin am 23. Oktober 1990 gestellten Antrag auf Gewährung eines Pflegegeldes bejahte der Vater der Klägerin, daß sie Tag und Nacht ständige Aufsicht benötigt. Er ließ aber die Rubrik "Hauswirtschaftliche Verrichtungen zur Pflege des Hilfesuchenden" offen.
Die Klägerin ist beim Einkaufen auf die Hilfe der Eltern angewiesen, da sie weder den Wert von Hartgeld noch von Scheinen richtig einzuschätzen vermag und auch nicht rechnen kann. Ebenso müssen ihre Eltern sie bei der Reinigung ihres Zimmers anleiten. Die Selbstversorgung der Klägerin beschränkt sich allenfalls auf die Zubereitung von Kaffee, Tee und Broten. Jedoch ist sie nicht in der Lage, warme Mahlzeiten anzurichten. Nach Auskunft der Mutter der Klägerin ist die Klägerin ständig anzuhalten, ihre Körperpflege vorzunehmen. Die Klägerin müsse morgens geweckt werden und zum Zähneputzen angehalten werden. Da sie diesen notwendigen Tätigkeiten im Rahmen der Körperpflege nicht aus eigenem Antrieb nachkomme, sei sie insofern ständiger Aufsicht bedürftig.
Mit Bescheid vom 20. November 1990 lehnte die Stadt ... die Gewährung eines Pflegegeldes ab. Den dagegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Bescheid vom 27. September 1991 zurück.
Mit einem am 11. Oktober 1991 eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie ist der Auffassung, daß die Stellungnahme des Gesundheitsamtes ausschließlich auf personenbezogene Pflege ausgerichtet sei. Nach der Rechtsprechung seien jedoch sog. hauswirtschaftliche Verrichtungen, sofern sie behinderungsbedingt sind, bei der Bewertung der Pflegebedürftigkeit gemäß § 69 BSHG zu berücksichtigen. Das Urteil des VG Düsseldorf belege, daß der Einwand, hauswirtschaftliche Verrichtungen könnten nur berücksichtigt werden, wenn Pflegebedürftigkeit hinsichtlich der unmittelbar personenbezogenen Verrichtungen gegeben sei, unzutreffend sei. Die Auffassung des Beklagten, daß Beihilfen zur Erhaltung der Pflegebereitschaft regelmäßig dann nicht in Betracht kommen, wenn unterhaltspflichtige Angehörige die Pflegeleistungen erbringen, stehe ebenfalls nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des OVG Lüneburg. Der Gesetzgeber habe gerade die Intention verfolgt, die Pflegebereitschaft der Eltern von behinderten Kindern zu stärken, um ihnen sowohl die familiäre Bindung zu erhalten als auch eine erheblich kostenintensivere Heimunterbringung zu vermeiden.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Stadt ... vom 20. November 1990 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 27. September 1991 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Pflegegeldes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Meinung, daß die Klägerin bereits nicht pflegebedürftig im Sinne des § 69 Abs. 2 BSHG sei. Eine qualifizierte Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 69 Abs. 3 BSHG liege offensichtlich bei der Klägerin nicht vor. Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 69 Abs. 2 BSHG setze voraus, daß der Pflegebedürftige in den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens nicht nur geringfügige Hilfeleistungen anderer braucht. Nach der ständigen Rechtsprechung gehörten zu diesen Verrichtungen nur die personenbezogenen Verrichtungen wie Aufstehen, Zubettgehen, Körperpflege etc., zu denen die Klägerin weitestgehend in der Lage sei. Bei der Prüfung der Pflegebedürftigkeit seien demnach hauswirtschaftliche Verrichtungen grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Eine Ausnahme bestehe nur dann, wenn die eine oder andere regelmäßig als hauswirtschaftliche Tätigkeit zu bewertende Handlung im Einzelfall in eine personenbezogene Verrichtung umschlage, wie z.B. das Bettenmachen im Falle der Bettlägerigkeit des Pflegebedürftigen.
Eine solche Ausnahme bestehe vorliegend jedoch nicht. Die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten stünden nicht im direkten Zusammenhang mit der Pflege. Im übrigen würde - abgesehen von den tatbestandlichen Voraussetzungen - die Gewährung der Pflegebeihilfe daran scheitern, daß bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden müsse, daß die Pflege von den Eltern der Klägerin geleistet wird.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Klägerin steht ein in das Ermessen des Beklagten gestellter Anspruch auf eine Pflegebeihilfe gemäß § 69 Abs. 2 BSHG zu. Die Versagung des Pflegegeldes mit Bescheid vom 20. November 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 1991 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten.
Nach § 69 Abs. 2 BSHG können im Falle der allgemeinen, einfachen Pflegebedürftigkeit, der durch häusliche Wartung und Pflege genügt werden kann, u.a. angemessene Beihilfen gewährt werden. Pflegebedürftigkeit als tatbestandliche Voraussetzung für die Gewährung einer Pflegebeihilfe liegt vor, wenn jemand infolge Krankheit oder Behinderung so hilflos ist, daß er nicht ohne Wartung und Pflege bleiben kann, d.h. für die gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens der Hilfe anderer bedarf. Bei der Klägerin sind diese Voraussetzungen zugrunde zu legen. Das Versorgungsamt ... hat seinerzeit bei der Erteilung des Merkzeichens "H" im Schwerbehindertenausweis gemäß § 3 Abs. 4 SchwbG i.d.F. von 1979 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV geprüft und festgestellt, daß die Klägerin hilflos im Sinne des § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG oder entsprechender Vorschriften ist.
An diese Feststellung ist die Kammer ebenso wie der Beklagte mit der Folge gebunden, daß das Vorliegen der allgemeinen Pflegebedürftigkeit der Klägerin im Sinne von §§ 68 Abs. 1, 69 Abs. 2 BSHG bereits aufgrund dieser Bindungswirkung feststeht, ohne daß noch Raum für eine eigenständige Prüfung eröffnet wäre.
Diese Bindungswirkung setzt voraus, daß die Tatbestände nach ihren Merkmalen in dem vom Versorgungsamt anzuwendenden Gesetz und in dem vom Beklagten zugrunde gelegten Gesetz übereinstimmen (BVerwG vom 17. August 1988, NDV 1989, S. 179), was vorliegend der Fall ist. Die vom Versorgungsamt Verden nach § 3 Abs. 4 SchwbG i.d.F. von 1979 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV getroffene Feststellung der Hilflosigkeit setzt voraus, daß die Klägerin hilflos im Sinne des § 33 b Abs. 3 EStG oder entsprechender Vorschriften ist. Nach § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG i.d.F. der Bekanntmachung vom 24. Januar 1984 (BGBl. I, S. 113) ist die Hilflosigkeit dadurch geprägt, daß die Körperbehinderten infolge der Körperbehinderung ständig nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen können. Nach § 35 BVG i.d.F. vom 22. Januar 1982 (BGBl. I, S. 21), einer entsprechenden Vorschrift im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV, wird die Hilflosigkeit dahingehend definiert, daß der Beschädigte für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Letztere Anforderungen an die Hilflosigkeit hat das Versorgungsamt ... ausweislich Ziffer 2.3 seines Bescheides vom 2. April 1985 seiner Feststellung der Hilflosigkeit zugrunde gelegt. Während die Umschreibung der Hilflosigkeit in § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG der allgemeinen Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG entspricht, gehen die vom Versorgungsamt bei der Feststellung der Hilflosigkeit zugrunde gelegten Kriterien vom Wortlaut her darüber hinaus. Die allgemeine Pflegebedürftigkeit als Grundvoraussetzung für das Einsetzen der Hilfe zur Pflege setzt nur voraus, daß die Person so hilflos ist, daß sie nicht ohne Wartung und Pflege bleiben kann.
Das Versorgungsamt hat dadurch, daß es die über die allgemeine Pflegebedürftigkeit im Sinne von § 33 b Satz 3 EStG bzw. §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG hinausgehenden Anforderungen, nämlich die dauernde Bedürftigkeit fremder Hilfe in erheblichem Umfang, bejaht hat, zugleich auch das Vorliegen einer allgemeinen Pflegebedürftigkeit festgestellt, denn die vom Versorgungsamt zugrunde gelegten Voraussetzungen umfassen die ... Anforderungen, die an das Vorliegen der allgemeinen Pflegebedürftigkeit geknüpft werden. Insoweit sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV und §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG identisch. Bei einer Übereinstimmung der Voraussetzungen geht die ständige Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, von einer Bindungswirkung der Feststellung des Versorgungsamtes im Schwerbehindertenausweis aus (BVerwG vom 27. Februar 1992, NDV 1992, S. 266; BVerwG vom 17. Dezember 1982, BVerwGE 66, 315[BVerwG 17.12.1982 - 7 C 11/81]; vgl. OVG Lüneburg vom 15. Mai 1985 - 4 OVG A 185/83 -).
Die Behörden der Versorgungsverwaltung haben im Schwerbehindertenrecht nicht über soziale Leistungen zu entscheiden, sondern sie haben stellvertretend für andere Verwaltungen nach einheitlichen Maßstäben gesundheitliche Voraussetzungen festzustellen, die außerhalb ihrer Zuständigkeit verschiedenartige Berechtigungen auslösen (BSH vom 6. Oktober 1981, BSGE 52, 168 (174)). Aus diesem Entscheidungsmonopol der Versorgungsbehörden resultiert, daß deren Statusentscheidungen nach § 3 SchwbG für die jeweils zuständigen Verwaltungsbehörden verbindlich sind. Die bindende Wirkung der Feststellung des Versorgungsamtes ergibt sich ferner aus der Funktion und dem Zweck des Schwerbehindertenausweises. Durch die unanfechtbar gewordenen Feststellungen, deren Ergebnis im Schwerbehindertenausweis ausgewiesen wird, wird der Behinderte in die Lage versetzt, die Rechte und Vergünstigungen, die von diesen Feststellungen abhängen, gegenüber jedermann nachzuweisen.
Es soll ihm damit erspart werden, bei der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen stets wieder aufs neue den Grad seiner Behinderung beweisen zu müssen. Entscheidend ist, daß die Feststellungen des Versorgungsamtes, die im Schwerbehindertenausweis ihren Niederschlag gefunden haben, gegenüber jedermann verbindlich sind (BVerwG vom 17. Dezember 1982, BVerwGE 66, 315[BVerwG 17.12.1982 - 7 C 11/81]). Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß der Eintragung des Merkzeichens "H" im Schwerbehindertenausweis lediglich die Feststellung eines weiteren gesundheitlichen Merkmals zugrunde liegt, während sich die Frage der Hilflosigkeit im sozialhilferechtlichen Sinn nicht allein nach ärztlichen Schlußfolgerungen bemißt, sondern auch nach der allgemeinen Lebenserfahrung und den besonderen Umständen des Einzelfalles, insbesondere wie der Hilfesuchende tatsächlich mit den den Alltag bestimmenden Verrichtungen fertigwird. Denn die versorgungsamtlichen Feststellungen beruhen zum großen Teil auf der Bewertung der Auswirkungen, die das Leiden des Behinderten auf seine Lebensbedingungen hat (BVerwG vom 17. Dezember 1982, BVerwGE 66, 315[BVerwG 17.12.1982 - 7 C 11/81]; OVG Lüneburg vom 15. Mai 1985 - 4 OVG A 615/81 -).
Dafür sprechen Wortlaut und Systematik des Gesetzes sowie Sinn und Zweck der Gesetzesbestimmung. Nach § 3 SchwbG gehört zu den Aufgaben der Versorgungsämter, das Vorliegen einer Behinderung und dessen Grad festzustellen. Diese Feststellungen beschränken sich nicht auf den medizinischen Befund, sondern bewerten zugleich, inwieweit sich die Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit des Behinderten auswirkt, was in einem bestimmten Grad der Behinderung ausgedrückt wird. In § 3 Abs. 4 SchwbG i.d.F. von 1979 werden "weitere gesundheitliche Merkmale" den Auswirkungen der Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit gleichgestellt. Die Verknüpfung des Merkmals "Minderung der Erwerbsfähigkeit" mit dem Begriff "weitere gesundheitliche Merkmale" und die Verweisung auf § 1 schließen es aus, unter gesundheitlichen Merkmalen nur die medizinischen Befunde zu verstehen (BVerwG vom 17. Dezember 1982, BVerwGE 66, 315[BVerwG 17.12.1982 - 7 C 11/81]).
Auch sind die Vergünstigungen, die andere Gesetze bei Feststellung weiterer gesundheitlicher Merkmale Vorsehen, regelmäßig an bestimmte Auswirkungen des Leidens des Behinderten auf seine Lebensumstände geknüpft. Die Gesetzesregelung würde daher weitgehend ihren Zweck verfehlen, wenn unter den festzustellenden gesundheitlichen Merkmalen ausschließlich die medizinischen Befunde und nicht auch die Auswirkungen der Behinderung verstanden würden (BVerwG vom 17. Dezember 1982, BVerwGE 66, 315 (317)[BVerwG 17.12.1982 - 7 C 11/81]). Mit Vorliegen des Merkzeichens "H" im Schwerbehindertenausweis ist damit gleichsam zwangsläufig auch die allgemeine Pflegebedürftigkeit als tatbestandliche Voraussetzung für die Gewährung der Pflegebeihilfe gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 BSHG erfüllt.
Darüber hinaus sieht sich die Kammer, abgesehen davon, daß eine gewisse Bindung durch den von der Klägerin gestellten Antrag vorlag, außerstande, eine Bindungswirkung der Feststellungen des Versorgungsamtes im Hinblick auf das Vorliegen der qualifizierten Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 68, 69 Abs. 3 BSHG anzunehmen, da die vom Versorgungsamt der Erteilung des Merkzeichens "H" zugrunde gelegten Merkmale nicht mit denen der §§ 68, 69 Abs. 3 BSHG übereinstimmen. Während das Versorgungsamt die Hilflosigkeit dahingehend geprüft hat, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf, setzen §§ 68, 69 Abs. 3 BSHG voraus, daß der Pflegebedürftige bei solchen Verrichtungen in erheblichem Umfang der Wartung und Pflege dauernd bedarf.
Der einheitliche Begriff "Wartung und Pflege" umfaßt jeweils die Art und das Maß an pflegerischen Leistungen, die der Hilfesuchende wegen seiner Hilflosigkeit benötigt und die vor allem aus persönlichen Hilfeleistungen bestehen. Dagegen ist der Begriff "fremde Hilfe" in Ziffer 2.3 des Bescheides vom 2. April 1985 vom Wortlaut her in einem umfassenderen Sinn zu verstehen. Wenngleich sich die Begriffe in ihrem materiellen Gehalt bedingt durch den Kontext, in dem sie Verwendung finden, auch nur graduell unterscheiden, so können beide Begriffe mit Blick auf §§ 68, 69 Abs. 3 BSHG dennoch nicht als inhaltsgleich eingestuft werden. Im Vergleich zum Begriff "Wartung und Pflege", der eine personenbezogene Zielrichtung angibt, ist den Begriff "fremde Hilfe" Ausdruck einer umfassenden Rundumversorgung, die eben nicht nur vornehmlich unmittelbar personenbezogene Hilfeleistungen abgedeckt wissen will.
Diese Argumentation steht auch nicht im Widerspruch zu der oben festgestellten Bindungswirkung für das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG, die ebenfalls die Worte "Wartung und Pflege" vorsehen, da das Versorgungsamt seinen Feststellungen über § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchbAwV § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG zugrunde gelegt hat, wo von "Wartung und Pflege" die Rede ist, und § 35 BVG, der die Bedürftigkeit fremder Hilfe in erheblichem Umfang fordert, bedingt durch § 3 Abs. 1 Nr. 2 SchwbAwV dahin zu verstehen ist, daß er dem § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG entspricht.
Mit Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG ist das Ermessen des Beklagten über die Gewährung der Pflegebedürftigkeit eröffnet.
Weder im Bescheid vom 20. November 1990 noch im Widerspruchsbescheid vom 27. September 1991 hat der Beklagte bislang Ermessenserwägungen angestellt.
Bei der nunmehr anstehenden Ermessensausübung wird der Beklagte insbesondere zu berücksichtigen haben, daß eine Pflegebeihilfe in Betracht kommt, wenn die Eltern ihr geistig schwerbehindertes Kind zu Hause pflegen. Damit soll primär einem Nachlassen der Pflegebereitschaft und einer möglichen Unterbringung des Kindes in einem Pflegeheim vorgebeugt werden, unabhängig davon, ob eine solche Entwicklung konkret zu erwarten ist (OVG Lüneburg vom 15. Mai 1984 - 4 OVG A 158/83 -).
Da die Gewährung der Pflegebeihilfe im Ermessen des Beklagten steht, kann insoweit nach § 113 Abs. 4 Satz 2 VwGO nur ein Bescheidungsurteil ergehen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 1, 167, 188 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.
Steffen
Wermes