Amtsgericht Hameln
Beschl. v. 07.06.2007, Az.: 13 VRJs 959/04
allgemeines Strafrecht; Anordnung; Anwendbarkeit; Anwendung; Anwendungsvoraussetzung; Bewährungsregelung; erweiternde Auslegung; erzieherische Wirkung; Freiheitsstrafe; gerichtliche Entscheidung; gesetzliche Führungsaufsicht; Jugendstrafe; Jugendstrafrecht; kraft Gesetzes; materielle Grundlage; Maßregel; nachträgliche Führungsaufsicht; Reformgesetz; Regelungslücke; Strafzumessungssystem; Unterschiedlichkeit; Verschiedenheit; Vollstreckung; Vollverbüßung; Wortlaut
Bibliographie
- Gericht
- AG Hameln
- Datum
- 07.06.2007
- Aktenzeichen
- 13 VRJs 959/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 71694
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 7 JGG
- § 68f StGB
Tenor:
In pp. wird der Antrag der Staatsanwaltschaft .......... auf Festsetzung der Dauer der Führungsaufsicht und Beiordnung eines Bewährungshelfers abgelehnt.
Gründe
Der Verurteilte wird demnächst eine Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren 9 Monaten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung, Diebstahles und versuchter räuberischer Erpressung voraussichtlich vollständig verbüßt haben. Zu prüfen ist daher, ob nach § 68f StGB mit der Entlassung Führungsaufsicht eintritt.
Das ist nicht der Fall, so dass für Entscheidungen nach § 68a bis c StGB die notwendige Grundlage fehlt.
Nach bislang wohl nahezu allgemeiner Auffassung betrifft § 68f StGB auch die verbüßte Jugendstrafe (Eisenberg, JGG, 11. Aufl. 2006, § 7 Rdn. 33; Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 7 Rdn. 8 ff.; Ostendorf, JGG, 5. Aufl. 2000, § 7 Rdn. 14 - jeweils m.w.N.; OLG Hamm, B. v. 04.09.1997, NStZ-RR 1998, 61; OLG München, B. v. 25.02.2002, NStZ-RR 2002, 183).
Dabei wird jeweils unter Berufung auf die Erwähnung der Führungsaufsicht in § 7 JGG ohne nähere Begründung die Vorschrift des § 68f StGB als auch für die Vollstreckung von Jugendstrafe geltend angesehen, obgleich in § 68f StGB (konsequent) nur von Freiheitsstrafe die Rede ist.
Dagegen bestehen schon insofern Bedenken, als nach § 68f StGB in den dort genannten Fällen Führungsaufsicht ohne weitere gerichtliche Entscheidung kraft Gesetzes eintritt. In § 7 JGG ist hingegen bestimmt, dass Maßregeln der Besserung und Sicherung im Sinne des allgemeinen Strafrechts (durch richterliche Entscheidung) angeordnet werden können - wofür wiederum § 68f StGB keine materielle Grundlage gibt.
Die Anwendung von § 68f StGB auf die Vollstreckung von Jugendstrafe beruhte also bislang auf einer über den Wortlaut des § 7 JGG hinausgehenden, erweiternden Auslegung. Dem lag letztlich die Absicht zugrunde, eine tatsächliche oder vermeintliche Regelungslücke zu schließen, um auch nach Vollverbüßung einer längeren Jugendstrafe entlassenen Verurteilten die Unterstützung durch Führungsaufsicht zukommen zu lassen.
Dieser Auffassung kann allerdings nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht ...“ vom 13.04.2007 (BGBl. I S. 513) nicht mehr gefolgt werden. Der Gesetzgeber hat die Regeln über die Führungsaufsicht mit der Novelle recht umfassend ergänzt und verschärft und dabei auch die bislang streitige Frage beantwortet, ob für die Mindestdauer der vollständig vollstreckten Strafe als Voraussetzung für die Anwendung von § 68f StGB auf eine Einzelstrafe abgestellt werden muss oder ob auch eine entsprechend lange Gesamtfreiheitsstrafe ausreicht.
Zur Anwendung der Bestimmung auf Jugendstrafe findet sich im Gesetz wie auch in den Gesetzesmaterialien (Entwurf mit Begründung, BT-DrS 16/1993; Expertenstatements und Protokoll der Sachverständigenanhörung vor dem Rechtsausschuss am 07.03.2007, jeweils unter http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/13_Fuehrungsaufsicht/index.html) indessen kein Wort, obgleich sich eine Erörterung hätte aufdrängen müssen:
Allgemeines Strafrecht einerseits und Jugendstrafrecht andererseits sind gekennzeichnet durch gänzlich unterschiedliche Strafzumessungssysteme.
Im allgemeinen Strafrecht hängt von Zufälligkeiten der Tatchronologie und des Urteilszeitpunktes ab, ob für eine Mehrzahl von Taten mehrere kürzere Freiheitsstrafen oder eine längere Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden und damit auch, ob nach einer längeren Haftzeit gemäß § 68f StGB Führungsaufsicht eintritt oder nicht.
Anders verhält es sich bei der Bemessung von Jugendstrafe. Diese muss unabhängig von den Strafrahmen des allgemeinen Strafrechtes so gebildet werden, dass sie die erforderliche erzieherische Einwirkung ermöglicht, § 18 JGG. Grundsätzlich ist zudem als Reaktion auf eine Mehrzahl von Straftaten eine einheitliche Jugendstrafe zu bilden; § 31 JGG. Dies führt dazu, dass in der Regel zwar nur eine Jugendstrafe vollstreckt wird, diese aber sehr oft länger ist als die Freiheitsstrafe bei vergleichbaren Verfehlungen Erwachsener.
Wegen dieser Unterschiede der Strafzumessung haben die vollständige Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe einerseits und diejenige einer längeren Jugendstrafe andererseits regelmäßig deutlich unterschiedliche Delinquenzvorgeschichten.
Auch die Regelungen hinsichtlich der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung unterscheiden sich maßgeblich. Während nach § 57 StGB die Reststrafenaussetzung bei Freiheitsstrafe unter bestimmten Voraussetzungen zwingend ist („das Gericht setzt aus ...“), gestaltet § 88 JGG die vorzeitige Entlassung aus der Jugendstrafe als gebundene richterliche Ermessensentscheidung aus, die eine positive Legalbewährungsprognose voraussetzt. Folglich ist die vorzeitige Entlassung nur bei Freiheitsstrafen der Regelfall, nicht aber bei Jugendstrafen. Auch dieser Befund grundsätzlich unterschiedlicher Rechtsfolgen der Straftat je nach Anwendung von allgemeinem oder Jugendstrafrecht verbietet es, beiläufig und ohne eindeutige gesetzliche Anordnung eine Bestimmung des allgemeinen Strafrechtes in das Sanktionensystem des Jugendstrafrechts zu übernehmen.
Eine an die Vollverbüßung einer längeren Strafe anknüpfende Führungsaufsicht kann im Einzelfall durchaus auch für nach Jugendstrafrecht Verurteilte sinnvoll sein. Die Kriterien dafür zu bestimmen ist allerdings allein Sache des Gesetzgebers, der seine Entscheidung bewusst und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Sanktionen und deren Folgen treffen muss (vgl. BVerfG, 2 BvR 1673/04 vom 31.05.2006 für die notwendige gesetzliche Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges).