Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.07.1995, Az.: 4 L 3685/95
Sozialhilfe; Hilfe zum Lebensunterhalt; Regelsatz; Einschulungsbedarf; Gewährung einer einmaligen Leistung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.07.1995
- Aktenzeichen
- 4 L 3685/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 14092
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1995:0712.4L3685.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover 14.03.1995 - 3 A 2205/94 .Hi
- nachfolgend
- BVerwG - 28.03.1996 - AZ: BVerwG 5 C 33/95
Rechtsgrundlagen
- § 11 BSHG
- § 12 BSHG
- § 21 BSHG
- § 22 BSHG
- § 1 RegSatzV
Amtlicher Leitsatz
Der anläßlich der Einschulung eines Kindes in die 1. Klasse der Grundschule entstehende Bedarf an Arbeits- und Lernmitteln (Einschulungsbedarf) ist ein einmaliger Bedarf und (deshalb) nicht durch die nach Regelsätzen gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt gedeckt. Hierfür kommt die Gewährung einer einmaligen Leistung (Beihilfe) in Betracht.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hildesheim - vom 14. März 1995 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens hat der Beklagte zu tragen. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten nur noch über die Verpflichtung des Beklagten, der Klägerin zu 2) eine Beihilfe zur Deckung des Einschulungsbedarfes zu gewähren.
Die Klägerinnen erhalten - wie ihre Eltern - vom Beklagten Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt). Die Klägerin zu 1) besuchte ab August 1994 die 2. Klasse der Grundschule A. im Landkreis H. Die Klägerin zu 2) wurde zu diesem Zeitpunkt eingeschult. Beide Klägerinnen legten dem Beklagten jeweils eine von der Grundschule A. herausgegebene Liste über die erforderliche Ausrüstung der Schüler und die notwendigen Arbeitsmaterialien vor, wegen deren Einzelheiten auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen wird. Die für den Beklagten handelnde Gemeinde A. bewilligte mit Bescheid vom 18. August 1994 der Klägerin zu 1) für ein Paar Turnschuhe eine Beihilfe von 30,-- DM und der Klägerin zu 2) für Turnbekleidung und einen Tornister 120,-- DM; im übrigen lehnte sie eine Kostenübernahme ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 8. November 1994 zurück und führte im wesentlichen aus, daß die Einzelpreise der beantragten und nicht schon bezuschußten Lernmittel 20,-- DM - wie in den Richtlinien des Landkreises Hildesheim festgelegt - nicht überstiegen.
Mit der Klage haben die Klägerinnen ihr Begehren weiterverfolgt und sinngemäß beantragt,
den Bescheid der Gemeinde A. vom 18. August 1994 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20. Oktober 1994 insoweit aufzuheben, als darin die Gewährung einmaliger Leistungen für Einschulungsbedarf und Schulbedarf abgelehnt worden ist, und den Beklagten zu verpflichten, ihnen zur Bestreitung des Schulbedarfs weitere Beihilfen unter Zugrundelegung der Listen über Arbeitsmaterialien der Grundschule Algermissen für das 1. und 2. Schuljahr zu bewilligen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat ergänzend zu den Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vorgetragen: Den Hilfeempfängern sei zuzumuten, die von ihnen aufzubringenden Beträge, die an jedem Schuljahresanfang anfielen, jedenfalls bis zur Höhe des nach den Richtlinien maßgeblichen Betrages von 20,-- DM in jedem Monat anzusparen. Dementsprechend seien je Schuljahr Kosten für kleinere Lernmittel bis zu einem Betrag von 240,-- DM nicht gesondert erstattungsfähig.
Mit Urteil vom 14. März 1995 hat das Verwaltungsgericht die Klage der Klägerin zu 1) abgewiesen und der Klage der Klägerin zu 2) in vollem Umfang stattgegeben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch der Klägerinnen auf Gewährung einmaliger Leistungen zur Deckung des geltend gemachten schulischen Bedarfs bestehe nur insoweit, als die anfallenden Kosten nicht bereits mit den Regelsatzleistungen nach § 22 BSHG und § 1 RegelsatzVO abgegolten seien. Regelbedarf in diesem Sinn sei der ohne Besonderheiten des Einzelfalles bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehende und nicht nur einmalige Bedarf aus den in § 1 Abs. 1 RegelsatzVO genannten Bedarfsgruppen. Hierunter falle der von der Klägerin zu 1) geltend gemachte Bedarf, weil die Notwendigkeit, zum Schuljahresanfang die vorhandene Ausrüstung für die Schule wieder zu vervollständigen und zu ergänzen, ein bei Schülern regelmäßig auftretender Bedarf sei. Hierfür könnten deshalb zusätzliche Leistungen nicht gewährt werden. Anders verhalte es sich beim Einschulungsbedarf. Denn dieser Bedarf entstehe nicht bei vielen Hilfeempfängern aus der Gruppe der Haushaltsangehörigen bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 RegelsatzVO) gleichermaßen, sondern nur bei den Schulanfängern. Hierfür sei deshalb eine Beihilfe zu gewähren.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, die der Senat zugelassen hat wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob und in welchem Umfang Lernmittel, die zur Einschulung zu beschaffen sind, zu den "persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens" im Sinne des § 1 Satz 1 RegelsatzVO gehören. Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hildesheim - vom 14. März 1995 insoweit zu ändern, als es der Klage der Klägerin zu 2) stattgegeben hat, und auch die Klage der Klägerin zu 2) abzuweisen.
Die Klägerin zu 2) beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat ihn zu Recht verpflichtet, der Klägerin zu 2) zur Deckung des Einschulungsbedarfes ein einmalige Leistung (Beihilfe) zu gewähren.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. Januar 1991 (BGBl I S. 94, 808) und der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) ist Hilfe zum Lebensunterhalt dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG umfaßt der notwendige Lebensunterhalt besonders Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Bei Kindern und Jugendlichen umfaßt der notwendige Lebensunterhalt gemäß § 12 Abs. 2 BSHG auch den besonderen, vor allem den durch das Wachstum bedingten, Bedarf.
Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten, die einem Schüler durch die Beschaffung von Schulunterrichtsmaterialien (Arbeitsmaterial und Lernmittel) entstehen, setzt - abgesehen von der hier unstreitig erfüllten Voraussetzung der Hilfebedürftigkeit - somit voraus, daß die zu beschaffenden Gegenstände zum notwendigen Lebensunterhalt gehören. Das hängt nicht davon ab, ob die anfallenden Kosten einer der in § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG genannten Bedarfsgruppen zugeordnet werden können. Denn diese Bedarfsaufzählung ist nicht abschließend (BVerwG, Urt. v. 21. 1. 1993 - BVerwG 5 C 34.92 -, BVerwGE 92, 6 ff).
Es ist Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG) und ihm die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft möglich macht (vgl. § 9 SGB I). Die Sozialhilfe hat der sozialen Isolierung des Hilfebedürftigen zu begegnen, die dann droht, wenn es ihm nicht möglich ist, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Dementsprechend umfaßt der "notwendige Lebensunterhalt" nach § 12 BSHG nicht nur das physiologisch Notwendige, sondern den gesamten zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Bedarf (vgl. BVerwG, Urt. v. 13. 12. 1990 - BVerwG 5 C 17.88 -, BVerwGE 87, 212, 214[BVerwG 13.12.1990 - 5 C 17/88] m.w.N.). Dabei sind auch die herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 12. 4. 1984 - BVerwG 5 C 95.80 -, BVerwGE 69, 146, 154[BVerwG 12.04.1984 - 5 C 95/80] und vom 9. 2. 1995 - BVerwG 5 C 2.93 -, DVBl. 1995 S. 697). Allerdings ist dabei nicht auf die Bevölkerung im allgemeinen, sondern auf die Bevölkerungsteile mit niedrigem Einkommen abzustellen (vgl. § 22 Abs. 3 BSHG). Daraus folgt, daß jedenfalls solche Arbeitsmaterialien und Lernmittel, über die ein Schüler aus dieser Bevölkerungsgruppe üblicherweise verfügt bzw. deren Vorhandensein von der Schule als erforderlich angesehen wird, zum notwendigen Lebensunterhalt eines Schülers gehören. Das Recht des jungen Menschen auf Schulbildung würde verletzt, wenn die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht etwa dadurch in Frage gestellt würde, daß er nicht über die notwendige Ausrüstung für die Bewältigung der Arbeit in der Schule verfügt. In einem solchen Fall bestünde auch die Gefahr seiner sozialen Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Mitschüler.
Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob der von der Klägerin zu 2) geltend gemachte Einschulungsbedarf zu einer der in § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG genannten Bedarfsgruppen - hier gegebenenfalls zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens - gehört oder ein Bedarf der in § 12 Abs. 2 BSHG genannten Art ist. Gemäß § 21 Abs. 1 BSHG kann Hilfe zum Lebensunterhalt durch laufende und einmalige Leistungen gewährt werden. Zur Deckung des Regelbedarfes werden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 laufende Leistungen zum Lebensunterhalt außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen nach Regelsätzen gewährt. Regelbedarf ist der ohne Besonderheiten des Einzelfalles (§ 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG) bei vielen Hilfeempfängern (zu deren Einteilung in Gruppen vgl. § 2 Regelsatzverordnung) gleichermaßen bestehende, nicht nur einmalige Bedarf gemäß § 1 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 22 des BSHG - RegelsatzVO - (BVerwG, Urt. v. 9. 2. 1995 a.a.O.). Danach gehört der Bedarf eines Kindes, der anläßlich seiner Einschulung in die erste Klasse entsteht, nicht nur in dem von dem Beklagten angenommenen Umfang (insbesondere eine Erstausstattung mit Turnkleidung), sondern auch im übrigen (Ausstattung mit Arbeitsmaterialien wie Schreibheften, Bleistiften, Buntstiften, Spitzer, Radiergummi, Deckfarbenkasten und dergleichen) nicht zum Regelbedarf. Er besteht nicht bei vielen jeweils zu einer Altersgruppe (hier gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 2 RegelsatzVO) gehörenden Kindern gleichermaßen, sondern nur bei denen, die mit dem Schulbesuch beginnen. Deshalb ist der Einschulungsbedarf insgesamt ein einmaliger Bedarf.
Nicht gefolgt werden kann der Auffassung des Beklagten, soweit es sich bei dem Einschulungsbedarf um Verbrauchsgegenstände von geringem Wert handele, deren Kosten für Anschaffung bzw. Ersatz in den Regelsätzen berücksichtigt seien, sei er aus den Regelsatzleistungen ggf. durch rechtzeitig einsetzendes Ansparen zu decken. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob und in welchem Umfang dieser Bedarf bei der Festsetzung der Regelsätze tatsächlich berücksichtigt worden ist. Entscheidend ist, daß mit dem Zeitpunkt der Einschulung einmalig die Notwendigkeit entsteht, eine Vielzahl dieser Gegenstände gleichzeitig zu beschaffen. Ein Verlangen, hierfür aus den Regelsatzleistungen rechtzeitig Rücklagen zu schaffen, widerspräche dem Strukturprinzip des Bundessozialhilfegesetzes, nach dem Hilfe nur in einer gegenwärtigen Notlage gewährt wird. Danach sind die Regelsatzleistungen so bemessen, daß der laufende, Monat für Monat entstehende Bedarf gedeckt werden kann. Ersparnisse kann ein Hilfeempfänger somit aus den Regelsatzleistungen im allgemeinen nicht bilden (dies ist ihm aus Rechtsgründen allerdings nicht verwehrt), und er darf deshalb auch nicht darauf verwiesen werden, "anzusparen", um sich Gegenstände zu beschaffen, die zum notwendigen Lebensunterhalt gehören (Senat, Urt. v. 27. 11. 1991 - 4 L 2/90 -, info also 1992 S. 134). In diesem Sinn versteht der Senat auch die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in dessen Urteil vom 13. 12. 1990 (aaO auf Seite 217 oben). Es hebt dort einerseits die Freiheit des Hilfeempfängers hervor, die Sozialhilfeleistung nach seinem Belieben zu verwenden, und weist andererseits auf seine Eigenverantwortung hin, "die Sozialhilfeleistungen so auf die einzelnen Bedarfsgruppen und -gegenstände zu verteilen (d.h. unter Umständen auch anzusparen), daß der Hilfeempfänger die gerade ihm für seine Person wichtigen Bedürfnisse befriedigen kann". Daß das Bundesverwaltungsgericht damit auch dem Sozialhilfeträger das Recht zubilligen wollte, den Hilfeempfänger auf eine bestimmte Verwendung der nach Regelsätzen gewährten Leistungen (und damit ggf. auch ein Ansparen) zu verweisen, ist nicht ersichtlich und würde dem genannten Grundsatz der freien und eigenverantwortlichen Verwendung der Leistungen widersprechen.
Von dritter Seite - etwa der Schulverwaltung - hat die Klägerin zu 2) zur Deckung des Einschulungsbedarfes Leistungen nicht erhalten und auch nicht erhalten können. Die zu der Erstausstattung für den Schulbesuch der Klägerin zu 2) gehörenden Gegenstände werden von dem Niedersächsischen Gesetz über Lernmittelfreiheit vom 24. April 1991 - NLFrG - (Nds.GVBl S. 174), geändert durch Gesetz vom 23. 6. 1993 (Nds.GVBl S. 178), nicht erfaßt. Ihrem Anspruch auf Gewährung einer einmaligen Leistung zur Deckung des Einschulungsbedarfes steht deshalb auch § 2 Abs. 1 BSHG nicht entgegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat läßt die Revision zu, da die Frage, ob und in welchem Umfang zur Deckung der Kosten für Lern- und Arbeitsmittel, die zur Einschulung eines Kindes zu beschaffen sind, einmalige Leistungen im Sinne des § 21 Abs. 1 BSHG zu gewähren sind, grundsätzliche Bedeutung hat und eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hierzu noch nicht vorliegt (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Willikonsky
Zeisler
Berthold