Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.11.2008, Az.: 4 ME 323/08

Freie und bewusste Willensbildung und Willensbetätigung als Voraussetzung für eine freiwillige Unterschutzstellung im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG); Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.11.2008
Aktenzeichen
4 ME 323/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 28139
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2008:1118.4ME323.08.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 06.10.2008 - AZ: 11 B 2490/08

Fundstelle

  • ZAR 2009, 38 (amtl. Leitsatz)

Amtlicher Leitsatz

Orientierungssatz:

Erlöschen der Rechtsstellung nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG

Amtlicher Leitsatz

Eine freiwillige Unterschutzstellung im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt eine freie und bewusste Willensbildung und Willensbetätigung voraus, die fehlt, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der insofern in Betracht kommenden Handlung unzurechnungsfähig ist.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, soweit dieses den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom ".02.2008" abgelehnt hat, hat Erfolg.

2

Die nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 64 Abs. 4 Nds. SOG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anzuordnen, da der genannte Bescheid der Antragsgegnerin, mit dem diese den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und seine Abschiebung in den Iran angedroht hat, nach dem vorliegenden Sachstand und der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sachlage offensichtlich rechtswidrig ist und daher das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheides das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.

3

Der Antragsteller hat nach der gegenwärtigen Sachlage einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 2 AufenthG, da die aufgrund eines Urteils des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. Mai 1994 (10 A 943/92) vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom 17. Oktober 1994 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (= § 60 Abs. 1 AufenthG) entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erloschen ist. Nach letzterer Vorschrift tritt diese Folge ein, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Der Tatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt damit voraus, dass der Ausländer einen "Vorteil" seines Heimatstaates freiwillig annimmt, diese Handlung objektiv als Unterschutzstellung zu werten ist und aus dem Verhalten des Ausländers auf eine veränderte Einstellung zu seinem Heimatstaat geschlossen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.12.1991 - 9 C 126.90 -, BVerwGE 89, 231, zu § 15 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG a. F.; GK-AsylVfG, Stand: Juni 2008, § 72 Rn. 18). Von einer freiwilligen Unterschutzstellung im Sinne dieser Vorschrift kann daher keine Rede sein, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der insofern in Betracht kommenden Handlung unzurechnungsfähig ist, da es in diesem Falle an einer freien und bewussten Willensbildung und Willensbetätigung fehlt ( VG Arnsberg, Urteil vom 15.9.2006 - 12 K 1181/06.A -). Hier hat der Antragsteller zwar einen am 29. November 1999 ausgestellten iranischen Reisepass erhalten und in den Jahren 2000 bis 2006 in Begleitung seiner Ehefrau sieben Reisen in den Iran unternommen, doch ist er nach dem vorliegenden Sachverhalt im Zeitpunkt der Beantragung des Passes am 9. November 1999 und auch in der Folgezeit unzurechnungsfähig gewesen. Dies ergibt sich aus Folgendem:

4

Nach den von dem Antragsteller vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen vom 9. Oktober 2006, 27. März 2008, 8. April 2008, 28. April 2008 und 18. Oktober 2008 sind die bei dem Antragsteller festgestellten, seine Unzurechnungsfähigkeit begründenden psychischen Störungen und Ausfallerscheinungen auf einen Hirnschaden, den der Kläger als Folge einer Langzeitbeatmung nach einem laparoskopischen Eingriff mit erheblichen Komplikationen im Mai 1999 erlitten hat, zurückzuführen. Es erscheint zwar denkbar, dass der 1938 geborene Antragsteller nach seinem Krankenhausaufenthalt in der Zeit vom 15. Mai bis zum 4. August 1999 zunächst noch zurechnungsfähig gewesen ist und sich sein psychischer Zustand erst danach mit zunehmendem Alter und damit möglicherweise einhergehender Demenz infolge des im Mai 1999 erlittenen Hirnschadens so weit verschlechtert hat, dass er jedenfalls seit Oktober 2006 unzurechnungsfähig ist, was die aufgeführten ärztlichen Stellungnahmen aus den Jahren 2006 bis 2008 belegen. Dafür könnten die Passantragstellung am 9. November 1999 und die zahlreichen Reisen in den Iran in den Jahren 2000 bis 2006 sprechen. Auch hatte sich nach dem unter dem 23. September 1999 verfassten Entlassungsbericht der Klinik, in der sich der Kläger in der Zeit vom 15. Mai bis zum 4. August 1999 befand, das hirnorganische Psychosyndrom während der stationären Behandlung deutlich gebessert. Doch wird in dieser chirurgischen Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine profunde Beurteilung dieses Befundes aufgrund der Sprachbarriere nicht möglich sei, und damit deren Aussagekraft in dieser Hinsicht eingeschränkt. Entscheidend ist daher, dass in der neurologischen Stellungnahme vom 18. Oktober 2008 ohne jede Einschränkung festgestellt worden ist, dass der Antragsteller seit 1999 bis zum heutigen Tage nicht zurechnungsfähig und zu einer Willenssteuerung seiner Handlungen nicht in der Lage sei. Im Hauptsacheverfahren wird zwar gegebenenfalls weiter aufzuklären sein, worauf sich diese Einschätzung konkret stützt und ob nicht auch ein anderer Krankheitsverlauf möglich erscheint. Für das vorliegende Verfahren ist aber nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung des Sachverhalts davon auszugehen, dass der Antragsteller bei der Passbeantragung am 9. November 1999 und in der Folgezeit unzurechnungsfähig gewesen ist.

5

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin bestehen nach dem vorliegenden Sachverhalt auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheinigung des iranischen Generalkonsulats in B. vom 15. Oktober 2008, derzufolge der Antragsteller und seine Ehefrau dort am 9. November 1999 einen Antrag auf Ausstellung iranischer Reisepässe gestellt haben, "irrtumsbedingt unzutreffend ist" und der Antragsteller seinen Pass schon vor seinem Krankenhausaufenthalt beantragt hat. Denn der Antragsteller ist bereits im August 1999 aus der Klinik entlassen worden. Nach dem genannten Entlassungsbericht der Klinik vom 23. September 1999 war der Antragsteller damals "selbständig mobil" und in der Lage, Körperpflege und Ernährung eigenständig durchzuführen. Die Empfehlung einer Rehabilitationsbehandlung im Entlassungsbericht bedeutet nicht, dass der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nicht reisefähig gewesen ist. Erst recht bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Antragsteller drei Monate später nicht in der Lage gewesen sein sollte, in Begleitung seiner Ehefrau nach B. zu reisen. Auch erscheint es durchaus möglich, dass den Mitarbeitern des Konsulats bei der routinemäßigen Bearbeitung des Antrags nicht aufgefallen ist, dass der in Begleitung seiner Ehefrau vorsprechende Antragsteller zu diesem Zeitpunkt gemäß den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht zurechnungsfähig gewesen ist.