Arbeitsgericht Braunschweig
Urt. v. 23.05.1997, Az.: 7 Ca 8/97

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; Wille zur eigenständigen Regelung; Deklaratorischer Charakter der Übernahme einer gesetzlichen Regelung

Bibliographie

Gericht
ArbG Braunschweig
Datum
23.05.1997
Aktenzeichen
7 Ca 8/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 20057
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGBS:1997:0523.7CA8.97.0A

Die 7. Kammer des Arbeitsgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 23.05.97
durch
den Richter ... als Vorsitzenden und
die ehrenamtlichen Richter ... als Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 151,20 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 10.01.1997 zu zahlen.

  2. 2.

    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

  3. 3.

    Der Streitwert wird auf 151,20 DM festgesetzt.

  4. 4.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

2

Die am 16.11.1955 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als Busfahrerin bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden und einem Stundenlohn in Höhe von 18,66 DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die gewerblichen Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes im Land Niedersachsen Anwendung.

3

Die Manteltarifverträge vom 29.05.1991/23.05.1996 enthalten in § 12 folgende Regelung:

§ 12

Fortzahlung des Entgelts bei Arbeitsverhinderung (betr. §§ 9, 10 und 11)

Das Urlaubsentgelt, Krankengeld und Entgelt bei Arbeitsverhinderung (§§ 9, 10 und 11) wird nach dem durchschnittlichen Jahresbruttoverdienst des vorangegangenen Kalenderjahres berechnet, erhöht um die zwischenzeitlich eingetretene Tariflohnveränderung. Bei der Berechnung des Bruttojahresverdienstes bleiben unberücksichtigt

a)
einmalige Sonderzahlungen (z.B. Weihnachtsgeld, Jubiläumszuwendungen, Prämien),

b)
Urlaubsgeld,

c)
vermögenswirksame Leistungen.

Das tägliche Entgelt wird errechnet, indem der Bruttojahresverdienst durch 260 geteilt wird. Arbeitnehmer, die noch kein volles Kalenderjahr dem Betrieb angehören, erhalten als Entgelt den Betrag, den sie verdienen würden, wenn sie keinen Urlaub hätten (Lohnausfallprinzip § 2 Lohnfortzahlungsgesetz).

Tag der Krankheit, an denen keine Lohnfortzahlung erfolgt, sind vom Divisor abzuziehen.

4

Im Monat November 1996 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Die Arbeitsunfähigkeit zeigte sie der Beklagten gegenüber ordnungsgemäß an. Die Beklagte kürzte die Vergütung der Tage, an denen die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt war um 20 %, insgesamt um einen Betrag in Höhe von 151,20 DM brutto (Bl. 5 d. A.). Die Klägerin machte gegenüber der Beklagten erfolglos einen Anspruch auf Auszahlung des einbehaltenen Betrages geltend.

5

In ihrer am 06.01.1997 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen und der Beklagten am 10.01.1997 zugestellten Klage begehrt die Klägerin die Auszahlung der einbehaltenen 20 %. Sie vertritt die Ansicht, die Beklagte sei zu einer Reduzierung ihres Lohnes für den Zeitraum ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht berechtigt, da die Entgeltfortzahlung in § 12 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des Verkehrsgewerbes im Land Niedersachsen eindeutig und abschließend geregelt sei. In diesem Manteltarifvertrag sei nicht auf die Regelungen im Entgeltfortzahlungsgesetz Bezug genommen.

6

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 151,20 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 10.01.1997 zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Sie meint, im Tarifvertrag sei eine 100 %-ige Lohnfortzahlung nicht geregelt. § 12 MTV regele die Berechnung, aber nicht die Höhe des zu zahlenden Entgelts im Krankheitsfalle.

9

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst den zu den Akten gereichten Anlagen sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 24.01.1997 und vom 23.05.1997 Bezug genommen.

Gründe

10

Die zulässige Klage ist begründet.

11

Die Klägerin kann von der Beklagten die Zahlung von 151,20 DM brutto verlangen.

12

Der zugesprochene Anspruch ergibt sich aus § 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag der Parteien in Verbindung mit § 12 des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer des privaten Verkehrsgewerbes im Land Niedersachsen.

13

Entgegen der Ansicht der Beklagten stellt diese Vorschrift eine eigenständige Regelung dar und regelt neben der Berechnungsart auch die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers.

14

Die Tarifvertragsparteien haben mit § 12 MTV von §§ 2 Abs. 3 LFZG, § 4 Abs. 4 EFZG Gebrauch gemacht, der eine abweichende Regelung des fortzuzahlenden Entgelts durch Tarifvertrag ermöglicht.

15

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urteil vom 23.09.1992 - 2 AZR 231/92 -, BAG, AP Nr. 42 zu § 622 BGB; BAG, AP Nr. 3 zu § 1 Tarifverträge: Verkehrsgewerbe) ist bei Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben.

16

Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie haben dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit lediglich deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten.

17

Unter Berücksichtigung dieser Auslegungsgrundsätze ist § 12 MTV bereits seinem Wortlaut nach keine nur tarifvertragliche Verweisung auf die gesetzlichen Vorschriften. Die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften wurden weder wörtlich noch inhaltlich unverändert in den Tarifvertrag aufgenommen. § 12 MTV ist als selbständige Norm zu sehen, die einen in ihrer normativen Wirkung vom Entgeltfortzahlungsgesetz unabhängige und eigenständige Regelung treffen soll. § 12 MTV weicht insbesondere bei der Rechtsfolge vom Gesetz ab. § 3 Abs. 1 LFZG ordnet an, daß der Anspruch auf das Arbeitsentgelt nicht verloren geht. Mit dieser Regelung wurde der bestehende tarifliche Entgeltanspruch aufrechterhalten, in dem die Einwendung aus § 323 BGB ausgeschlossen wurde. Im Gegensatz dazu sind die §§ 9-12 MTV als Anspruchsgrundlagen zu sehen, die trotz krankheitsbedingter Leistungsunmöglichkeit zur weiteren Zahlung verpflichten. Der Anspruch auf 100 %-ige Lohnfortzahlung ergibt sich auch aus dem systematischen Zusammenhang der angeführten Vorschriften und der Überschrift zu § 12 MTV, die "Fortzahlung des Entgelts bei Arbeitsverhinderung" lautet. Geht man davon aus, daß Überschriften einer Tarifbestimmung regelmäßig auf den wesentlichen Regelungsgegenstand der Bestimmung verweisen, dann folgt aus dieser Überschrift, daß die Tarifvertragsparteien § 12 MTV als eigenständige Regelung verstanden wissen wollten. Der Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien weist deutlich auf einen unabhängigen tariflichen Entgeltanspruch hin.

18

Eine andere Sichtweise hinsichtlich des Regelungscharakters des § 12 MTV würde im übrigen zu der widersinnigen Bestimmung führen, daß den Beschäftigten, die noch kein volles Kalenderjahr dem Betrieb angehören, die Vergütung zu zahlen ist, die sie erhalten hätten, wenn sie keinen Urlaub hätten, also arbeiten würden. Dieser Personenkreis soll nach dem Willen der Tarifvertragsparteien im Krankheitsfall eine 100 %-ige Lohnfortzahlung erhalten.

19

Nach Ansicht der Kammer ist in § 12 MTV kein Ansatzpunkt dafür zu erkennen, daß die Tarifvertragsparteien, für Arbeitnehmer, die bereits länger als ein volles Kalenderjahr beschäftigt sind, im Krankheitsfall eine Kürzung des Entgelts um 20 % beabsichtigten. Für eine eigenständige Regelung spricht insbesondere auch die Art und Weise wie nach § 12 des MTV das fortzuzahlende tägliche Entgelt errechnet werden soll.

20

Für eine Auslegung des Tarifvertrages im Sinne der Klägerin spricht auch, daß § 12 MTV nicht nur die Fortzahlung des Entgelts im Krankheitsfalle, sondern auch in den Fällen der Arbeitsverhinderung nach §§ 9-11 MTV regelt. In diesen Vorschriften ist die Frage des tarifvertraglichen Urlaubes, der bezahlten Freistellung (z.B. bei eigener Hochzeit oder Silberhochzeit) und die Frage der Freistellung der Mandatsträger der ÖTV geregelt. Auch insoweit ist kein Ansatzpunkt in dem Tarifvertrag ersichtlich, daß nach dem Willen der Tarifvertragsparteien die Arbeitnehmer in den in §§ 9-11 MTV geregelten Fällen bei Arbeitsverhinderung einen um 20 % gekürzten Vergütungsanspruch haben sollten.

21

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

22

Die zugesprochenen Zinsen ergeben sich aus §§ 284, 288, 291 BGB.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. Abs. 2 ArbGG i. V. m § 91 Abs. 1 ZPO.

24

Die Berufung war gemäß § 63 Abs. 3 Nr. 2 b ArbGG zuzulassen, da die Rechtssache eine Rechtsstreitigkeit über die Auslegung eines Tarifvertrages, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Arbeitsgerichts Braunschweig hinaus erstreckt, betrifft.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 151,20 DM festgesetzt.

Der Streitwert, der gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen war, beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 3 ff. ZPO und entspricht dem Wert der bezifferten Klagforderung.