Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 14.06.1974, Az.: 4 W (Baul) 39/74

Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung im Verfahren auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung; Rechtsmittel gegen die einstweilige Einstellung der Vollziehung des Besitzeinweisungsbeschlusses

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
14.06.1974
Aktenzeichen
4 W (Baul) 39/74
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1974, 13927
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1974:0614.4W.BAUL39.74.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 29.04.1974 - AZ: 2 O (Baul) 123/74

Fundstelle

  • NJW 1974, 2290-2291 (Volltext mit amtl. LS)

In der Baulandsache
hat der Senat für Baulandsachen des Oberlandesgerichts Celle
auf die sofortige Beschwerde der Eigentümerin
vom 18. Mai 1974
gegen den Beschluß der Kammer für Baulandsachen des Landgerichts Lüneburg
vom 29. April 1974
in der Sitzung vom 14. Juni 1974
beschlossen:

Tenor:

Das Rechtsmittel wird auf Kosten der Rechtsmittelführerin (§§ 161 Abs. 1 Satz 1 BBauG, 97 ZPO) als unzulässig verworfen.

Geschäftswert: 3.000,- DM.

Gründe

1

I.

Gegen den angefochtenen Beschluß, eine (ablehnende) Sachentscheidung nach § 161 Abs. 1 Satz 1 BBauG in Verbindung mit §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO, gibt es kein Rechtsmittel. Die gegenteilige, im Kommentar zum Bundesbaugesetz von Zinkahn/Bielenberg (1973) in Rdnr. 22 zu § 164 BBauG vertretene Ansicht ist nicht haltbar.

2

1.

Seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg 1 W 46/68 vom 19.8.1968 (NJW 1968, 2024 [BVerwG 27.06.1968 - II C 70/67] = MDR 1968, 1017) sind die Kommentatoren des Bundesbaugesetzes, soweit sie diese Frage überhaupt erörtern, übereinstimmend der Meinung, daß in einem durch Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung eröffneten Gerichtsverfahren die einstweilige Einstellung der Vollziehung des Besitzeinweisungsbeschlusses angeordnet werden kann (so Zinkahn/Bielenberg Rdnrn. 11, 12 zu § 164 BBauG, Schrödter (3. Aufl.) Rdnr. 10 zu § 165 BBauG, Heitzer/Östreicher (5. Aufl.) Anm. 2 zu § 164 BBauG; keine Stellungnahme bei Knaup/Ingenstau und im Kohlhammer-Kommentar).

3

Gleicher Auffassung ist auch der beschließende Senat: Nach § 161 Abs. 1 Satz 1 BBauG sind - "soweit sich aus den §§ 157 bis 171 nichts anderes ergibt", was für diesen Fragenkomplex nicht der Fall ist - "in Sachen, die auf Grund eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung bei den Gerichten anhängig werden, die bei Klagen in bürgerlichen Streitigkeiten geltende Vorschriften", also die einschlägigen Vorschriften der Zivilprozeßordnung, "entsprechend anzuwenden", und damit auch diejenigen, die der Prozeßrichter nach Einlegung von Einspruch oder Berufung mit Bezug auf die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung anzuwenden hat. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung führt - im Rahmen der bei Gericht gestellten Sachbegehren - zu einer neuen Verhandlung über das Vorliegen der Voraussetzungen, also zu einer berufungsmäßigen Überprüfung (vgl. § 525 ZPO) der von der Enteignungsbehörde getroffenen Entscheidung nach § 116 BBauG, Gemäß §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO kann der Berufungsrichter auf Antrag die Zwangsvollstreckung aus der von ihm zu überprüfenden Entscheidung einstweilen einstellen. Demgemäß gibt die entsprechende Anwendung dieser Vorschriften im Verfahren nach Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung dem damit befaßten Richter die Befugnis, auf Antrag die einstweilige Einstellung der Vollziehung des Besitzeinweisungsbeschlusses anzuordnen. Soweit das Oberlandesgericht Hamburg und ihm folgend Zinkahn/Bielenberg und Heitzer/Östreicher für die Zulässigkeit einer solchen einstweiligen Anordnung noch zusätzlich die Vorschriften der §§ 769, 771 Abs. 3 ZPO ins Feld führen, ist das nicht nur überflüssig, sondern fehlsam: Diese - ebenfalls Anordnungen auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung zulassenden - Vorschriften sind enthalten in Regelungen von Prozeßverfahren, in denen es nicht wie hier um die Überprüfung einer Vorentscheidung (eines "Titels") auf ihre (seine) Richtigkeit geht, sondern um die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Titel (§§ 767, 768 ZPO) oder (aus einem rechtskräftigen oder für vorläufig vollstreckbar erklärten Titel) in bestimmte Gegenstände (§ 771 ZPO), also Verfahren, in denen eine Überprüfung und Änderung des Vollstreckungstitels selbst ausgeschlossen ist. Entsprechend anwendbar sind aber nur Vorschriften aus Verfahren mit gleichartigem oder ähnlichem Verfahrenszweck. Als Rechtsgrundlage für die einstweilige Einstellung der Vollziehung eines Besitzeinweisungsbeschlusses kommt demnach gemäß § 161 Abs. 1 BBauG die entsprechende Anwendung allein der §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO in Betracht (so auch wohl Schrödter a.a.O.).

4

2.

Der Gesetzgeber der Zivilprozeßordnung hat in § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Anfechtbarkeit einer einstweiligen Anordnung des Gerichts, das sich mit der Überprüfung einer Vorentscheidung auf ihre Richtigkeit zu befassen hat, ausdrücklich geregelt: "Eine Anfechtung des Beschlusses findet nicht statt." Für ihre Ansicht, daß § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO in Verfahren nach Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung "nicht angewendet werden kann", vermögen Zinkahn/Bielenberg keine stichhaltige Begründung zu geben:

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a)

Soweit sie dazu auf die "volle Nachprüfbarkeit" einer die Zustimmung zu Zwangsmaßnahmen betreffenden Entscheidung des Gerichts nach § 164 BBauG hinweisen, lassen sie außer acht, daß das Gericht in dem Falle nicht mit der Überprüfung einer Vorentscheidung befaßt ist, sondern eine "erste" Entscheidung zu treffen hat. Es handelt sich also nicht um eine vergleichbare Verfahrenssituation oder Tätigkeit des Gerichts.

6

b)

Soweit sie zur Begründung anführen, es handle "sich nicht um die unmittelbare Anwendung des § 707 ZPO, sondern nur um einen dieser Vorschrift zugrunde liegenden Rechtsgedanken", ist ihre Argumentation verfehlt:

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Ist - wie in § 161 Abs. 1 BBauG - eine anderweitige gesetzliche Regelung schlicht für entsprechend anwendbar erklärt, so kann deren entsprechende Anwendung nur innerhalb des Rahmens und der Grenzen erfolgen, die in dieser Regelung gesetzt sind. Es kann im Falle einer schlichten Rechtsgrundlagenverweisung wie in § 161 Abs. 1 BBauG also nicht angehen, die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels gegen eine durch entsprechende Anwendung einer anderweitigen gesetzlichen Regelung überhaupt erst ermöglichte Sachentscheidung anzunehmen, wenn die für entsprechend anwendbar erklärte Regelung dessen Statthaftigkeit ausdrücklich ausschließt. Die Statthaftigkeit könnte in solchem Falle nur durch deren Statuierung in der verweisenden Bestimmung begründet werden; § 161 Abs. 1 BBauG bestimmt jedoch nichts dergleichen.

8

Daß aber die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung im Verfahren auf gerichtliche Entscheidung gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung nicht aus der entsprechenden Anwendung eines "Rechtsgedankens" (der auch in §§ 769, 771 Abs. 3 ZPO seinen Ausdruck gefunden habe), sondern aus einer entsprechenden Anwendung allein der Vorschriften §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO hergeleitet werden kann, ist bereits zu Ziffer 1) dargelegt. §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO enthalten eine Sonderregelung für Verfahren, in denen das Gericht eine Vorentscheidung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen hat. Diese Sonderregelung enthält - im Gegensatz zu den Regelungen in §§ 769, 771 Abs. 3 ZPO, die eine Anfechtbarkeit nach § 793 ZPO nicht ausschließen - eben die ausdrückliche Bestimmung des § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO, wonach gegen den Beschluß, der eine Sachentscheidung über einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO trifft, "eine Anfechtung nicht stattfindet". Der Gesetzgeber hat die Sonderregelung - zweifellos - mit Bedacht getroffen. Ist sie in der Art wie in § 161 Abs. 1 BBauG für entsprechend anwendbar erklärt, so kann ihre entsprechende Anwendung auch nur im ganzen geschehen.

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c)

Soweit Zinkahn/Bielenberg schließlich noch bemerken, daß "von der Vorschrift des § 793 ZPO auszugehen" sei, so ist das nichts weiter als eine sachlich nicht begründete und, wie dargelegt, auch nicht weiter begründbare petitio principii.

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Die unzutreffende Ansicht von Zinkahn/Bielenberg hat übrigens, soweit ersichtlich, keine Anhänger gefunden.

11

II.

Eine Sachentscheidung nach § 161 Abs. 1 BBauG in Verbindung mit §§ 719 Abs. 1, 707 ZPO, sei sie stattgebend oder ablehnend, ist somit einer Anfechtung durch Rechtsmittel verschlossen.

12

Eine ganz andere Frage ist es, ob eine Anfechtung des Beschlusses vom 29.4.1974 ausnahmsweise dann zugelassen werden könnte, wenn das Landgericht - ein solcher Sachverhalt lag offenbar der oben erwähnten Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg zugrunde (vgl. Zinkahn/Bielenberg am Schluß von Rdnr. 22 zu § 164 BBauG) - die Statthaftigkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verkannt oder wenn es bei seiner Ermessensentscheidung ("kann ... anordnen") sich nicht im gesetzlichen Rahmen gehalten hätte. Dieser Frage braucht hier jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden. Denn das Landgericht ist von der Statthaftigkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ausgegangen und hat den diesbezüglichen Antrag der Beschwerdeführerin sachlich beschieden. Die Beschwerdeführerin möchte den vorgetragenen Sachverhalt nur anders gewürdigt, also an die Stelle des Ermessens des zur Entscheidung berufenen Gerichts das eines anderen Gerichts gesetzt wissen. Das aber ist vom Gesetzgeber nicht zugelassen.

Streitwertbeschluss:

Geschäftswert: 3.000,- DM.