Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.11.1999, Az.: L 10 RI 403/98

Zu einem Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente nach einem Bandscheibenvorfall; Unmöglichkeit der weiteren Ausübung des erlernten Facharbeiterberufs; Keine Verweisung auf den Beruf des Gabelstaplerfahrers; Tätigkeit als Sägenschärfer

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
11.11.1999
Aktenzeichen
L 10 RI 403/98
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1999, 13793
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:1999:1111.L10RI403.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 12.11.1998 - AZ: S 7 RI 587/96

Prozessführer

E. C., H., H.

Prozeßbevollmächtige: Rechtsanwälte B. und Partner, A., ... H.

Prozessgegner

Landesversicherungsanstalt Hannover,

der Geschäftsführer, Lange Weihe 2, 30880 Laatzen,

In dem Rechtsstreit
hat der 10. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
am 11. November 1999 gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
durch
den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. K.
den Richter am Landessozialgericht P. und
den Richter am Landessozialgericht S.

beschlossen:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Hannover vom 12. November 1998 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

1

I.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Die Entscheidung über die Berufung konnte deshalb gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluß ergehen.

2

II.

Die Beteiligten streiten um Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

3

Der 1970 geborene Kläger hat den Beruf des Zimmermanns erlernt und bis September 1995 ausgeübt. Dannach war er arbeitsunfähig krankgeschrieben. Seit Mai 1997 ist er als selbständiger Taxiunternehmer tätig. Am 13. November 1995 beantragte er bei der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte holte ein Gutachten des Orthopäden Dr. R. vom 11. März 1996 ein, in dem dieser trotz eines kernspintomographisch festgestellten Bandscheibenvorfalls zwischen dem 3. und 4. Halswirbelkörper keine funktionellen Einbußen feststellte und den Kläger für in der Lage hielt, sämtliche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anfallenden Arbeiten ohne zusätzliche Einschränkungen zu verrichten. Die Beklagte lehnte daraufhin den Rentenantrag mit Bescheid vom 29. April 1996 ab, weil der Kläger seinen erlernten Beruf als Zimmermann weiterhin ausüben könne. Der hiergegen erhobene Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10. September 1996).

4

Im nachfolgenden Klageverfahren vor dem SG Hannover hat der Kläger nur noch Rente wegen BU geltendgemacht. Hierzu hat er vorgetragen, seinen Beruf als Zimmermann wegen des schweren Bandscheibenvorfalls nicht mehr ausüben zu können. Das SG hat verschiedene ärztliche Befundberichte sowie ein Gutachten des Orthopäden Dr. S. vom 12. Oktober 1997 eingeholt. In seinem Gutachten hat der Sachverständige ein Hypermobilitätssyndrom und myostatische Syndrome an der Hals- und Lendenwirbelsäule festgestellt. Der Kläger könne lediglich noch leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten verrichten, nicht jedoch ausschließlich in einer Körperhaltung oder unter häufigen körperlichen Zwangshaltungen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12. November 1998 hat das SG den berufskundigen Sachverständigen K. gehört. Dieser hat den Kläger für nicht mehr in der Lage gehalten, die körperlich schwere Arbeit eines Zimmermanns auszuüben. Der Kläger könne jedoch noch die angelernte Tätigkeit eines Gabelstaplerfahrers verrichten. Das SG hat daraufhin mit Urteil vom 12. November 1998 die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, daß der Kläger nicht berufsunfähig sei. Er könne zwar nicht mehr in seinem erlernten Facharbeiterberuf als Zimmermann tätig sein. Sein verbliebenes körperliches Leistungsvermögen erlaube es ihm jedoch, als Gabelstaplerfahrer zu arbeiten. Da diese Tätigkeit dem Bereich der angelernten Tätigenkeiten zugeordnet werden müsse, sei dem Kläger eine Verweisung hierauf auch sozial zumutbar.

5

Der Kläger hat gegen das ihm am 9. Dezember 1998 zugestellte Urteil am 29. Dezember 1998 Berufung eingelegt. Er vertritt die Auffassung, aufgrund des Bandscheibenvorfalls und seiner Wirbelsäulenbeschwerden weder die Tätigkeit eines Gabelstaplerfahrers noch sonst eine ihm als Facharbeiter sozial zumutbare Tätigkeit verrichten zu können.

6

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 12. November 1998 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 29. April 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 1996 zu ändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Dezember 1995 Rente wegen BU zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 12. November 1998 zurückzuweisen.

8

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und den Kläger weiterhin für nicht berufsunfähig.

9

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein Gutachten des Orthopäden Priv.-Doz. Dr. G. vom 23. April 1999 eingeholt. In einem Beweisaufnahmetermin am 2. September 1999 ist sodann der berufskundige Sachverständige K. zur Frage möglicher Verweisungsberufe gehört worden. Der Senat hat ferner einen Befundbericht der Augenärztin B. vom 29. September 1999 eingeholt und die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts Hannover sowie die Gerichtsakten des SG Hannover zum Az.: S 30 Vs 741/93 beigezogen.

10

Dem Senat haben außer den Prozeßakten die Verwaltungsakten der Beklagten und die genannten beigezogenen Aktenvorgänge vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

11

Die Beteiligten sind mit Verfügung des Vorsitzenden vom 14. Oktober 1999 darauf hingewiesen worden, daß der Senat beabsichtige, über die Berufung durch Beschluß gemäß § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden. Sie haben insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.

12

III.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig. Dem Kläger steht auch nach Auffassung des Senats kein Anspruch auf Rente wegen BU gemäß § 43 SGB VI zu.

13

Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente wegen BU sind nicht erfüllt, denn der Kläger ist nicht berufsunfähig im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI. Aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren und während des Berufungsrechtszuges durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, daß der Kläger aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung nicht mehr in der Lage ist, körperlich schwere Arbeiten zu verrichten oder in Zwangshaltungen zu arbeiten. Daraus folgt ohne weiteres, daß eine weitere Ausübung des erlernten Facharbeiterberufs des Zimmermanns nicht mehr möglich ist. Dies allein bedingt jedoch noch keine BU. Der Kläger muß sich nämlich gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI auf alle Tätigkeiten verweisen lassen, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Nach dem vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung angewandten Mehrstufenschema kann ein Versicherter, dessen bisheriger Beruf dem Leitberuf eines Facharbeiters zuzuordnen ist, sozial zumutbar nur auf eine andere Facharbeitertätigkeit oder eine angelernte Tätigkeit verwiesen werden. Entgegen der Auffassung des SG hält der Senat im vorliegenden Fall eine Verweisung auf die Tätigkeit eines Gabelstaplerfahrers für nicht möglich. Aus zahlreichen anderen Verfahren ist dem Senat bekannt, daß ein Gabelstaplerfahrer über eine uneingeschränkte Funktion und Beweglichkeit der Wirbelsäule sowohl im Hals- als auch im Lendenbereich verfügen muß. Dies folgt ohne weiteres aus dem Umstand, daß Gabelstapler typischerweise nicht über Außenspiegel verfügen, so daß beim Rückwärtsfahren eine Drehbewegung des Achsorgans erfolgen muß. Darüberhinaus müssen regelmäßig Gegenstände in größere Höhe transportiert werden, was eine freie Beweglichkeit der Halswirbelsäule erforderlich macht. Da der Kläger sowohl an der Hals- auch auch an der Lendenwirbelsäule funktionell nicht unerheblich beeinträchtigt ist, muß für ihn die Tätigkeit eines Gabelstaplerfahrers als Verweisungsberuf ausscheiden.

14

Der Kläger ist nach seinem verbliebenen Leistungsvermögen jedoch auf die Tätigkeit eines Sägenschärfers verweisbar. Diese Tätigkeit ist ihm auch sozial zumutbar, denn sie gehört dem Bereich angelernter Tätigkeiten an. Der Senat folgt insoweit dem ihm nachvollziehbar und überzeugend erscheinenden Ausführungen des berufskundigen Sachverständigen K. Danach sind Sägenschärfer in der Holz- und Möbelindustrie sowie in Sägewerken beschäftigt, also sowohl in Industrie als auch im Handwerk. Für ihre Tätigkeit ist das Berufswissen eines Tischlers, Zimmerers oder Metallbearbeiters erforderlich- Die Qualität der Arbeit liegt darin, daß der Sägenschärfer über die Weiterverwendung oder Auswechslung des Sägebands entscheiden und in der Lage sein muß, das Sägeblatt zu überarbeiten oder auszuwechseln. Diese Tätigkeit wird entlohnt wie die eines Facharbeiters oder aber im Angelerntenbereich. Ob, worauf der Kläger hinweist, die Tätigkeit eines Sägenschärfers ein anerkannter Fachberuf ist, oder ob, wie der vom SG gehörte berufskundige Sachverständige K. ausgeführt hat, es sich hierbei um einen Teilbereich des Berufs eines Holzbearbeitungsmechanikers handelt, kann der Senat dahingestellt sein lassen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen K. ist festzustellen, daß es die Arbeitsplätze eines Sägenschärfers in der Möbel- und Holzindustrie sowie in Sägewerken tatsächlich in größerer Anzahl gibt, daß diese Facharbeiterkenntnisse, zum Beispiel aus einem Holzbearbeitungsberuf wie dem eines Zimmermanns, erfordern und demgemäß auch entsprechend entlohnt werden.

15

Der Kläger ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen auf medizinischem Gebiet auch in der Lage, die Tätigkeit eines Sägenschärfers vollschichtig zu verrichten. Nach dem überzeugenden Gutachten des vom SG gehörten Sachverständigen Dr. R. kann der Kläger noch leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten. Er darf lediglich keine Lasten von über 15 kg heben oder tragen und nicht in häufigen körperlichen Zwangshaltungen arbeiten. Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten des Orthopäden Priv.-Doz. Dr. G. Auch dieser Sachverständige hat lediglich körperlich schwere Arbeiten für ausgeschlossen erachtet. Der berufskundige Sachverständige K. hat die einzelnen Tätigkeiten, die ein Sägenschärfer verrichten muß, beschrieben und dabei ausgeführt, daß die Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und zeitweiligen Sitzen ausgeführt würden. Er hat die in den einzelnen Fachbereichen verwandten Sägeblätter beschrieben und deren Gewicht mit 0,8 bis 7 kg angegeben. Hieraus folgt zur Überzeugung des Senats ohne weiteres, daß der Kläger unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Lage ist, den Anforderungen der Tätigkeit eines Sägenschärfers ohne Gefahr einer Leidensverschlimmerung zu genügen. Soweit der Kläger darauf hingewiesen hat, daß er infolge der Linsenlosigkeit seines linken Auges keine Arbeit verrichten könne, die auch nur die geringste Staubentwicklung hervorrufe, konnte dies in der nachfolgenden weiteren Beweisaufnahme nicht bestätigt werden. Eine Empfindlichkeit gegen Staubeinwirkung hat sich weder aus den beigezogenen Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts Hannover oder den Prozeßakten des SG Hannover zu dem dort anhängig gewesenen Schwerbehindertenverfahren ergeben, noch aus dem Befundbericht der behandelnden Augenärztin B. vom 29. September 1999. Die Augenärztin B. hat auf die ausdrückliche Frage nach einer besonderen Empfindlichkeit allein auf die bereits bekannte erhöhte Blendempfindlichkeit des linken Auges hingewiesen. Aus dem Befundbericht ergibt sich weiter, daß dem Kläger im September 1998 im linken Auge eine Hinterkammerlinse implantiert worden ist, so daß er seither keine Kontaktlinse mehr tragen muß. Diesem Befund entspricht es, daß der Sachverständige Priv.-Doz. Dr. G. bei seiner Untersuchung des Klägers am 23. April 1999 festgestellt hat, daß die Pupillen prompt und seitengleich auf Licht und Konvergenz reagierten. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat nicht festzustellen, daß der Kläger wegen einer Beeinträchtigung seines Sehorgans an der vollwertigen Verrichtung der Tätigkeit eines Sägenschärfers gehindert ist.

16

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

17

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.