Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.09.1999, Az.: L 4 KR 14/96
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 22.09.1999
- Aktenzeichen
- L 4 KR 14/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 34262
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:1999:0922.L4KR14.96.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim
Rechtsgrundlagen
- § 13 Abs. 3 SGB V
- § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB V
- § 27 Abs. 1 Nr. 3 SGB V
- § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V
- § 34 Abs. 3 Satz 2 SGB V
- § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB V
- § 135 Abs. 1 SGB V
- § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG
- § 13 Abs. 1 Satz 1 AMG
- § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG
Fundstellen
- KVuSR 2000, 110-112
- KVuSR 2001, 25-29
- NZS 2000, 194
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Das Fehlen einer Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur ASI-Therapie stellt ein Systemversagen der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne des Urteils des BSG vom 16.9.1997 - 1 RK 28/95 - da.
- 2.
Die ASI-Therapie ist in der Praxis und in der fachlichen Diskussion verbreitet im Sinne des Urteils des BSG vom 16.9.1996 - IRK 28/95 -.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Kostenerstattung iHv 12.420,00 DM für ihre Behandlung mit der aktiv-spezifischen Immuntherapie (ASI-Therapie), bei der ein Impfstoff aus inaktivierten patienteneigenen Tumorzellen hergestellt und dem Patienten eingeimpft wird.
Die 1944 geborene Klägerin erkrankte an einem progredient verlaufenden intra-abdominell metastisierenden Siegelring-Karzinom des Magens und an einem Ovarial-Karzinom. Primär wurde eine ausgedehnte Lebermetastasierung, eine Infiltration der Milzvene und der Befall der Milz diagnostiziert. Die Klägerin befand sich deshalb mit Unterbrechungen in der Zeit vom 01. März bis 27. Mai 1994 zur Operation und stationären Behandlung im St.-Martini-Krankenhaus D. Die eingeleitete zytostatische Kombinationstherapie mit gängigem Schema musste wegen Progression während der ersten drei Zyklen abgebrochen werden. Vom 07. bis 26. Juni 1994 wurde im Klinikum Aschaffenburg eine erneute Laparatomie mit höchster Ektomie, Adnexektomie beiderseits sowie paraortaler und pelvinaler Lymphonodektomie und Omendektomie durchgeführt.
Am 11. Juli 1994 stellte die Klägerin bei der Beklagten den Antrag auf Kostenübernahme für die geplante ASI-Therapie und bat um baldigen positiven Bescheid, um den Therapiebeginn nicht unnötig zu verzögern. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des behandelnden Frauenarztes Dr Neßelhut ein. Dr Neßelhut ist außerdem Dipl-Biologe und Geschäftsführer des Institutes für Tumorimmunologie GmbH, Duderstadt, das für die Behandlung mit der ASI-Therapie Vakzine aus patienteneigenen Tumorzellen herstellt. Dr Neßelhut teilte am 22. Juli 1994 mit, bislang seien eine (abgebrochene) zytostatische Behandlung und eine Tumorreduktion durchgeführt worden. Er bat nochmals um zügige Bearbeitung und führte die ASI-Therapie mit sieben Zyklen durch. Im November 1994 wurde eine erneute Progression der Lebermetastasen festgestellt. Daraufhin unterzog sich die Klägerin nochmals einer zytostatischen Behandlung über sechs Zyklen, die jedoch in Folge weiterer Progression ebenfalls abgebrochen werden musste.
Am 16. September 1995 verstarb die Klägerin an einer Magenblutung.
Ihren Antrag vom 11. Juli 1994 lehnte die Beklagte nach Einholung des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN), des Arztes für Innere Medizin B. vom 29. August 1994 mit Bescheid vom 14. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1994 ab: Die ASI-Therapie entspreche nicht dem allgemeinen Stand der medizinischen Kenntnisse. Gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit dieser Methode lägen nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 27. Dezember 1994 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Die Beklagte hat ua das Gutachten des MDKN, Arzt für Innere Medizin B. vom 10. Februar 1995 und der pharmazeutischen Beratungsstelle, Dr R. vom 21. Februar 1995 sowie die Gutachten des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg, Prof Dr M., vom 10. Mai 1995 und des Johannes-Gutenberg-Universitäts-Klinikums, Abteilung Hämatologie, Prof Dr H. vom 06. Oktober 1994 zu den Akten gereicht. Das SG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27. September 1995 den Frauenarzt Dr Neßelhut als Zeugen vernommen.
Mit Urteil vom selben Tag hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 14. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1994 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die ASI-Therapie iHv 12.420,00 DM zzgl 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das SG insbesondere ausgeführt: Die Beklagte habe die Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt. Denn der Anspruch der Versicherten auf Krankenbehandlung schließe auch besondere Therapierichtungen ein. Auch Behandlungsmethoden, die - wie die ASI-Therapie - vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen noch nicht empfohlen seien, könnten ausnahmsweise anzuwenden sein. Eine Behandlungsmethode gehöre dann zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Erprobung abgeschlossen sei und über Qualität und Wirkungsweise zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden könnten. Zur Sicherstellung des Qualitätsstandards genüge eine Plausibiltätskontrolle, weil bei akut lebensbedrohenden Erkrankungen wie im Falle der Klägerin ein geringerer Qualitätsstandard angesetzt werden müsse. Die ASI-Therapie befinde sich zwar noch im Stadium der Erprobung. Es lägen aber erste Ergebnisse vor, die auf ihre Wirkungsweise hindeuten würden. Die ASI-Therapie könne damit eine gewisse Erfolgsaussicht für sich in Anspruch nehmen. Das werde ua durch die Stellungnahme von Dr Mallmann vom 22. September 1994 bestätigt. Bei der Klägerin seien sämtliche schulmedizinische Behandlungsmethoden ausgeschöpft gewesen. Weder die Chemotherapie noch die operative Tumorentfernung sei erfolgreich gewesen. Als Lebenszeit verlängernde Behandlungsmaßnahme sei daher nur noch die ASI-Therapie geblieben.
Gegen das ihr am 29. Dezember 1995 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. Januar 1996 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingelegt und im Laufe des Verfahrens zahlreiche Unterlagen zu den Gerichtsakten gereicht. Zur Begründung hat sie vor allem ausgeführt: Eine Kostenerstattung komme nicht in Betracht. Denn die ASI-Therapie sei vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nicht als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode anerkannt worden. Bei der ASI-Therapie handele es sich nicht um eine besondere Therapierichtung, sondern in Folge einer Behandlung mit Vakzinen um eine schulmedizinische Behandlungsform. Ein Wirksamkeitsnachweis könne daher nicht durch eine therapie-immanente Plausibilitätsprüfung erbracht werden; erforderlich seien randomisierte kontrollierte klinische Studien. Solche Studien gäbe es bislang nicht. Die Erforschung der Wirksamkeit der ASI-Therapie sei vielmehr von methodischen Defiziten, Wunschdenken und Schönfärberei geprägt. Da bei der ASI-Therapie kein Impfstoff angewendet werde, es sich somit um eine Behandlungsmethode handele, sei die ASI-Therapie dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB-Ausschuss) zur Entscheidung vorgelegt worden. Dieser habe eine negative Empfehlung zur ASI-Therapie abgegeben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 27. September 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend und haben ihrerseits zahlreiche Unterlagen zu den Gerichtsakten gereicht.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Frauenarztes und Sachverständigen Dr Neßelhut im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter vom 27. November 1996. Außerdem hat der Senat das schriftliche Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin Dr A. vom 15. September 1998 eingeholt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes, des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Vortrages der Beteiligten wird auf die Prozessakten des ersten und zweiten Rechtszuges und auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Gründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist zulässig.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Durchführung der ASI-Therapie in Höhe von 12.420,00 DM. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig.
Der Anspruch der Klägerin folgt aus § 13 Abs. 3 2. Alternative Fünftes Sozialgesetzbuch - SGB V - in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes - GSG - vom 22. Dezember 1992 (BGBl I 2266).
Danach hat die Krankenkasse die Kosten für eine selbstbeschaffte notwendige Leistung zu erstatten, wenn sie die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch Kosten entstanden sind. Der Kostenerstattungsanspruch tritt an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs, den die Kasse in Folge eines Versagens des Beschaffungssystems nicht erfüllt hat. Ein solcher Anspruch besteht demzufolge nur dann, wenn die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art. nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzliche Krankenkasse als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat (vgl BSG Urteil vom 23. Juli 1998 - B 1 KR 19/96 - in NZS 1999 S 245 [BSG 23.07.1998 - B 1 KR 19/96 R] mwN).
Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin vor. Ihr Sachleistungsanspruch ergibt sich aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 iVm Nr. 3 SGB V. Bei der ASI-Methode handelt es sich um eine Behandlung in Form einer Arzneitherapie. Denn die ASI-Therapie besteht aus der Herstellung eines Impfstoffes aus inaktivierten patienteneigenen Tumorzellen (sog Vakzinen), der in die Haut des Patienten eingeimpft wird.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V ua die ärztliche Behandlung (Nr. 1) und die Versorgung mit Arzneimitteln (Nr. 3), soweit diese nicht nach §§ 31, 34 SGB V ausgeschlossen sind. Eine Leistungspflicht besteht nur für solche Maßnahmen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; Qualität und Wirksamkeit müssen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V). An der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Arzneitherapie fehlt es, wenn das verordnete Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedarf, die Zulassung aber nicht erteilt worden ist (BSG, Urteil vom 23. Juli 1998 - B 1 KR 19/96 - in NZS 1999, 245 [BSG 23.07.1998 - B 1 KR 19/96 R]).
Eine arzneimittelrechtliche Zulassung ist für die bei der ASI-Therapie eingesetzte Tumorvakzine nicht erforderlich. Es handelt sich bei der Tumorvakzine zwar um ein Arzneimittel, das aber kein Fertigarzneimittel und daher nicht zulassungspflichtig ist.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln vom 24. August 1976 idF der Bekanntmachung des Gesetzes vom 19. Oktober 1994, BGBl I 1976, 2445; 1994, 3018, (AMG aF) dürfen Fertigarzneimittel, die Arzneimittel iSd § 2 Abs. 1 AMG aF sind, im Geltungsbereich des AMG nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind. Gem § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG aF sind Arzneimittel Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen Körper Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen. Der dem Patienten im Rahmen der ASI-Therapie indizierte Impfstoff, die Vakzine, ist ein Arzneimittel in diesem Sinne. Denn er wird aus patienteneigenen Tumorzellen hergestellt und in die Haut des Patienten geimpft.
Das Arzneimittel Vakzine ist jedoch kein zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel. Darunter fallen nach § 4 Abs. 1 AMG aF die Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden.
Die bei der ASI-Therapie verwendeten Vakzine werden für den einzelnen Patienten aus inaktiven patienteneigenen Tumorzellen hergestellt, sie werden individuell bearbeitet und nur dem Patienten eingeimpft, von dem die Vakzine stammt. Sie sollen das Immunsystem des individuellen Patienten gezielt gegen Antigene seines eigenen Tumors mobilisieren. Nach den Bekundungen des Frauenarztes Dr Neßelhut wird jeder Patient auf seine Reaktionswahrscheinlichkeit auf die ASI-Therapie getestet. Wird sie verneint, wird die Therapie nicht durchgeführt. Besteht eine Reaktionswahrscheinlichkeit, werden aus dem entnommenen krebsbefallenen Gewebe in dem Institut für Tumorimmunologie GmbH, Duderstadt, die Krebszellen isoliert, gereinigt und ihre Oberfläche geändert, um ihre Erkennbarkeit für die Immunabwehr zu erhöhen. Anschließend erfolgt eine Begutachtung durch die Universitätsklinik Bonn zur Feststellung, ob Krebszellen vorliegen. Dann wird die Vakzine durch ein unabhängiges zugelassenes Labor hinsichtlich Sterilität und Pyrogenität überprüft. Wenn das Ergebnis positiv ist, erfolgt die Impfung mit der Vakzine in die Haut des Patienten.
Die erforderliche Erlaubnis zur Herstellung der Tumorvakzine liegt vor. Eine Erlaubnis der zuständigen Behörde bedarf nach § 13 Abs. 1 Satz 1 AMG aF derjenige, der Arzneimittel iSd § 1 Abs. 1 AMG gewerbs- oder berufsmäßig zum Zwecke der Abgabe an andere herstellen will. Dem Institut für Tumorimmunologie GmbH, Duderstadt, ist eine Herstellungserlaubnis zur Herstellung von Arzneimitteln und für die Herstellung von autologen Tumorvakzinen seitens der Bezirksregierung Braunschweig unter dem 7. Oktober 1993 erteilt worden.
Der Anspruch der Klägerin scheitert also nicht an den Voraussetzungen des AMG.
Auch §§ 31, 34 SGB V stehen ihrem Anspruch nicht entgegen. Die Tumorvakzine ist nicht nach § 34 SGB V ausgeschlossen.
Bei den Tumorvakzinen handelt es sich um apothekenpflichtige Arzneimittel iSd § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V iVm § 2 AMG. Sie werden rezepturmäßig hergestellt. Die Bezirksregierung H. hat unter dem 13. Mai 1998 bestätigt, dass die hergestellten autologen Tumorvakzine als "verlängerte Rezeptur" verkehrsfähig und zum Zwecke der Anwendung bei einem bestimmten Patienten ärztlich verschreibungspflichtig seien.
Die autologe Tumorvakzine ist auch nicht von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen.
Nach § 34 Abs. 3 Satz 2 SGB V kann ein Arzneimittel von der Verordnungsfähigkeit bei fehlendem therapeutischen Nutzen ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss ist im Falle der autologen Tumorvakzine weder durch die Verordnung über wirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (Negativliste) noch durch die Richtlinien des Bundesauschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinien) erfolgt.
Der Anspruch der Klägerin nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 SGB V entfällt auch nicht in Ansehung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (vgl ua Urteil vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 -).
Nach dieser Rechtsprechung schließt § 135 Abs. 1 SGB V die Leistungspflicht der Krankenkasse für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden solange aus, bis diese vom zuständigen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als zweckmäßig anerkannt sind. Hat der Bundesausschuss über die Anerkennung einer neuen Methode ohne sachlichen Grund nicht oder nicht zeitgerecht entschieden, kann ausnahmsweise ein Kostenerstattungsanspruch des Versicherten nach § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht kommen, wenn die Wirksamkeit der Methode festgestellt wird. Lässt sich die Wirksamkeit aus medizinischen Gründen nur begrenzt objektivieren, hängt die Einstandspflicht der Krankenkasse davon ab, ob sich die fragliche Methode in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion durchgesetzt hat.
Der erkennende Senat hat Bedenken, sich dieser Rechtsprechung grundsätzlich anzuschließen. Im vorliegenden Fall kann aber offen bleiben, ob der Senat dem BSG folgt. Denn auch bei Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dem Erstattungsbegehren der Klägerin nicht entgegen.
Nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen ua über die Anerkennung des diagnostischen, und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit abgegeben hat.
Die ASI-Therapie ist eine neue Behandlungsmethode iSd genannten Bestimmung. Eine medizinische Vorgehensweise erhält dann die Qualität einer Behandlungsmethode, wenn ihr ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zugrunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet und ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll (BSG Urteil vom 23. Juli 1998 - B 1 KR 19/96 - in NZS 1999, S 245, 246 [BSG 23.07.1998 - B 1 KR 19/96 R]).
Ein solches Konzept ist für den Einsatz der ASI-Therapie in der Krebsbehandlung zu bejahen. Der Therapieansatz der ASI-Therapie ist nach dem Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin Dr A. vom 15. September 1998 auf die Behandlung von Metastasen gerichtet, die den gesamten Organismus betreffen. Der Wirkmechanismus der Behandlung beruht auf einer Sensibilisierung/Immunisierung der Körperabwehr gegen die betreffenden Tumorzellen. Dabei entstehen innere Killerzellen und Gedächtniszellen, die im Rahmen ihrer natürlichen Überwachungsfunktion im gesamten Organismus immer dann aktiv werden, wenn sie auf die Tumorzellen bzw auf die für den jeweiligen Tumor charakteristischen Strukturen (Antigene) treffen. Diese Konzeptbeschreibung wird bestätigt durch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Onkologie eV und der Arbeitsgruppe Tumorvakzinierung der Deutschen Gesellschaft für Immunologie zur aktiv-spezifischen Immuntherapie mit autologen Tumorvakzinen. Danach liegt der ASI-Therapie ein naturwissenschaftlich plausibler Denkansatz zugrunde. Die Wirkung autologer Tumorvakzine wird durch Immunogenisierung von schwachen Tumorantigenen über verschiedene Verfahren erzielt. Die vom Immunsystem nur schwach erkannten Antigene erhalten zusätzliche Amplifier, damit es, ähnlich wie bei einer Infektion mit Viren oder Bakterien, zur spezifischen Abwehrreaktion kommt.
Der Vorbehalt des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V gilt nach Auffassung des BSG für alle Arten von neuen Untersuchungs- und Behandlungsverfahren und somit grundsätzlich auch für neuartige Arzneitherapien (BSG Urteil vom 23. Juli 1998 - B 1 RK 19/96 - in NZS 1999 S 245, 247 [BSG 23.07.1998 - B 1 KR 19/96 R]). Daher gilt § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch für die ASI-Therapie bei Krebserkrankungen. Denn sie hat noch keine Aufnahme in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab-Ärzte gefunden und ist demzufolge keine Vertragsleistung iSd Einheitlichen Bewertungsmaßstab-Ärzte.
Eine Empfehlung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen liegt jedoch nicht vor. Die streitige Behandlungsmethode ist vom Bundesausschuss weder abgelehnt noch anerkannt worden. Gleichwohl hat die Klägerin einen Anspruch auf Kostenerstattung; denn es liegt ein Systemmangel vor, weil der Bundesausschuss über die Anerkennung der ASI-Therapie bei Krebserkrankungen nicht zeitgerecht entschieden hat (vgl hierzu BSG Urteil vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 -).
Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen - NUB-Ausschuss - war zwar bereits 1994 gemäß § 135 Abs. 1 SGB V mit der Prüfung der Wirksamkeit der ASI-Therapie befasst. Die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Baden hatte in Abstimmung mit den Kliniken der Universität Heidelberg - Frauenklinik - bei dem Bundesausschuss den Antrag gestellt, die ASI-Therapie vor dem zuständigen NUB-Ausschuss zu beraten. Ziel dieser Beratung war die Prüfung, ob die ASI-Therapie das Stadium der medizinisch-wissenschaftlichen Erforschung und Erprobung bereits verlassen habe, ob ihre Wirksamkeit belegt sei, ob sie als allgemein anerkanntes medizinisches Verfahren gelten könne und ob sie sich für die breite ambulante vertragsärztliche Anwendung eigne. Ausweislich des Ergebnisprotokolls der 23. Sitzung des NUB-Ausschusses am 11. März 1994 war es bis dahin nicht gelungen, Sachverständige zur Stellungnahme zur ASI-Therapie zu gewinnen. Im Rahmen seiner Beratungen hatte der Bundesausschuss im Jahre 1994 schwerwiegende Probleme hinsichtlich der Verwendung von Rezeptur-Arzneimitteln festgestellt und war zu der Auffassung gelangt, dass zum Schutz der Patienten durch eine Novellierung des Arzneimittelgesetzes Rezepturarzneimittel ebenso wie Fertigarzneimittel der Überprüfung, Zulassung und Überwachung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte unterworfen werden sollten. Mit Schreiben vom 16. November 1994 bat der Bundesausschuss daher den Bundesminister für Gesundheit, die erkannten Mängel durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen zu beheben. Nachdem entsprechende gesetzliche Regelungen nicht erlassen worden waren, wandte sich der Bundesausschuss nach vier Jahren mit Schreiben vom 16. Juni 1998 erneut an den Bundesminister für Gesundheit, um unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 16. November 1994 um Stellungnahme zu bitten, ob und ggf wann und welche Regelungen für diesen Bereich der Tumorvakzinierung zu erwarten sei. Gleichzeitig wies der Bundesausschuss darauf hin, dass er sich anhand der geltenden Rechtslage für zuständig sehe, über die Zulässigkeit der Rezeptur-Arzneimittel in der vertragsärztlichen Versorgung im Sinne der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu entscheiden. Allerdings stehe ihm das zur qualitativen Bewertung dieser Methoden erforderliche Instrumentarium nicht ohne weiteres zur Verfügung; das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sei dazu viel eher in der Lage. Gleichzeitig wurde der Bundesminister darum gebeten, ggf bis zur Schaffung neuer Rechtsgrundlagen das Bundesinstitut zu bitten, dem Bundesausschuss bei seiner Bewertungstätigkeit derartiger Methoden Hilfestellung zu leisten.
Aus dieser Untätigkeit des Bundesausschusses seit 1994 ergibt sich ein Systemmangel iSd höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das hat der Bundesausschuss durch seine Äußerungen selbst wiederholt und eindrucksvoll bestätigt. Ihm steht nach eigener Beurteilung nicht das Instrumentarium zur Verfügung, um fachgerecht über die ASI-Therapie beraten und entscheiden zu können.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, der der erkennende Senat im vorliegenden Fall trotz Bedenken folgt, haben die Gerichte bei Vorliegen eines Systemversagens nicht zu prüfen, ob die neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode den Anforderungen des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V an Qualität und Wirksamkeit entspricht. Das BSG vertritt vielmehr die Auffassung, dass es allein auf die Verbreitung der Methode in Praxis und medizinischer Fachdiskussion ankommt (BSG, Urteil vom 16. September 1997 - 1 RK 28/98 -). Der 1. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 16. September 1997 wiederholt auf die medizinisch-wissenschaftliche Überforderung der Gerichte hingewiesen, soweit eine Behandlungsmethode medizinische Fragen eines bestimmten Schwierigkeitsgrades aufwirft. Eine Beurteilung der Qualität und Wirksamkeit der neuen Behandlungsmethode durch die Rechtsprechung scheidet nach dieser Rechtsprechung auch dann aus, wenn eine Entscheidung des Bundesausschusses noch nicht vorliegt. Es kommt allein auf die Verbreitung der Methode in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion an.
Auf Grund der vorliegenden medizinischen Gutachten und sonstigen Stellungnahmen hat der Senat trotz gewisser Zweifel die Überzeugung gewonnen, dass die ASI-Therapie in der medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden hat und von einer erheblichen Zahl von Ärzten angewandt wird. Nach den medizinischen Unterlagen ist die tatsächliche Verbreitung in der Praxis und der fachlichen Diskussion zu bejahen, auch wenn sich die ASI-Therapie bislang nicht in der Weise durchgesetzt hat, dass sie von der überwiegenden Zahl der Ärzte angewandt wird.
So ergab der Suchbegriff "activ-specific-immunotherapie" nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Onkologie eV und der Arbeitsgruppe Tumorvakzinierung der Deutschen Gesellschaft für Immunologie zur aktiv-spezifischen Immuntherapie mit autologen Tumorvakzinen (Zeitschrift für Onkologie 1998, 101, 102) bei einer Medline-Recherche 1999 1700 Publikationen aus tumorimmunologischen Erkenntnissen der letzten 8 Jahre. Dieses Ergebnis, wird nicht nur durch den Gutachter Dr Ahlert in seinem Gutachten vom 15. September 1998 bestätigt, sondern auch durch die Stellungnahme des MDKN - Referat Arzneimittel - Brendes vom 9. Oktober 1998, der ausführt, dass unter dem Stichwort "ASI" ohne zeitliche Begrenzung 1665 Veröffentlichungen anlässlich einer Medline-Recherche gefunden worden sind. Soweit der Gutachter Brendes aus der Gegenüberstellung zu 809.303 Veröffentlichungen zum Stichwort "Chemotherapie" die Schlussfolgerung zieht, dass die ASI-Therapie so gut wie keine Resonanz in der medizinischen Fachdiskussion gefunden hat, kann ihm der Senat nicht folgen. Chemotherapien gehören zu den ältesten Tumortherapien. Es liegt daher auf der Hand, dass die Anzahl der Publikationen hier außerordentlich hoch ist.
Die vom BSG geforderte breite Resonanz wird ferner durch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Onkologie eV belegt. Der Gutachter Brendes führt aus, dass in Deutschland nicht die Deutsche Gesellschaft für Onkologie eV, sondern die Deutsche Krebsgesellschaft die maßgebliche Fachgesellschaft im Bereich der Onkologie sei. Gleichwohl kommt den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Onkologie eV Bedeutung für die Verbreitung der ASI-Therapie zu. Denn ihre Leitlinien führen im Literaturverzeichnis ebenfalls mehr als 115 Veröffentlichungen zur ASI-Therapie aus. Das Gutachten von Abel enthält zur Bewertung der Wirksamkeit der ASI-Therapie mehr als 140 Literaturhinweise. Die vom Gutachter Dr Ahlert anlässlich seines Gutachtens durchgeführte Internetrecherche ergab 17 aktuelle Nachrichten zu dem Thema "cancer vaccines" bei dem Anbieter "Pharmacentica online"; das Gutachten selbst gibt mehr als 50 Literaturhinweise. Entgegen der Auffassung des LSG Berlin (Urteil vom 25. November 1998 - L 9 KR 53/96 - in Breithaupt 1999, 572, 578) hält es der erkennende Senat nicht für entscheidend, dass sich die in Aufsätzen und Gutachten publizierten medizinischen Stellungnahmen zum größten Teil positiv zu einer neuen Behandlungsmethode geäußert haben. Denn die Forderung nach einem rein zahlenmäßigen Übergewicht befürwortender Veröffentlichungen würde Raum für Manipulationen öffnen. Das BSG gibt in seinem Urteil vom 16. September 1997 (1 RK 28/95) daher auch kein Zahlenverhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern der streitigen Behandlungsmethode vor, das vorliegen müsste, damit von Verbreitung der neuen Methode gesprochen werden kann.
Die ASI-Therapie wird schließlich auch von einer erheblichen Zahl von Ärzten angewandt.
Die Anforderungen an diese Voraussetzung dürfen nach Auffassung des erkennenden Senats nicht überzogen werden. Denn es liegt auf der Hand, dass die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für eine Behandlungsmethode Einfluss auf deren zahlenmäßige Anwendung in Deutschland hat. Der Grund dafür liegt darin, dass die Versicherten diejenigen Leistungen, die sie außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenkassen in Anspruch nehmen, selbst finanzieren müssen. Da sie das in vielen Fällen nicht können, andererseits aber 90 % der bundesdeutschen Bevölkerung der gesetzlichen Krankenversicherung angehören, werden diese Behandlungsmethoden dementsprechend weniger nachgefragt und angewendet.
In seiner Stellungnahme zur ASI-Therapie vom 01. Dezember 1997 hat Prof Dr B. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Onkologie eV, ausgeführt, dass die ASI-Therapie derzeit bundesweit in ambulanten Praxen und in Kliniken angewandt wird. Dr A. gibt in seinem Gutachten an, selbst ca 1.000 Krebspatienten mit der ASI-Therapie behandelt zu haben. Dr Neßelhut führt in seiner Stellungnahme vom 12. November 1997 insgesamt 39 Kliniken auf, die die ASI-Therapie anwenden. Die Fa Marcopharm gibt unter dem 31. Oktober 1997 insgesamt 21 Kliniken an und das Immunologische Laboratorium Hannover GmbH 10 Universitätskliniken und 10 Lehrkrankenhäuser. Nach dem Bericht des Paul-Ehrlich-Instituts vom 25. Februar 1995 stellen allein im Bundesgebiet mindestens 11 Labors bzw Pharmazeutische Unternehmen die Tumorvakzine her. Abel und Windeler fanden bei eingehender Recherche des publizierten und unpublizierten Materials zur ASI-Therapie 25 klinische Studien ohne Vergleichsgruppen, 24 nichtrandomisierte vergleichende Studien sowie 16 randomisierte Studien, in denen Aussagen zu antitumoraler oder die Lebenszeit verlängernder Wirkung der ASI-Therapie gemacht werden. Schließlich ist auch die Existenz von Leitlinien zur ASI-Therapie mit autologen Tumorvakzinen ein wichtiger Beleg für die Verbreitung dieser Methode in der ärztlichen Praxis. Denn Leitlinien werden geschaffen, um dem einzelnen Arzt eine Entscheidungshilfe für eine angemessene ärztliche Behandlung bei speziellen gesundheitlichen Problemen zu geben. Sie sind wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Handlungsempfehlungen für eine Vielzahl von Behandlungsfällen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Die Entscheidung des vorliegenden Falles ist in Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfolgt. Es bestand daher kein Grund für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).