Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.10.1986, Az.: 4 OVG B 182/86
Begriff des notwendigen Lebensunterhalts im Sozialhilferecht; Beihilfe zum Erwerb eines Kühlschranks für Sozialhilfeempfänger; Die "Dichte" der Versorgung mit Haushaltsgeräten als Indiz für die Notwendigkeit zur menschenwürdigen Lebensführung; Kühlschrank als notwendiges Haushaltsgerät im Sozialhilferecht; Unterscheidung zwischen "Primärbedarf" und "anderem Bedarf" im Sozialhilferecht; "Sockelelektrifizierung" (Licht, Kleingeräte, Kühlschrank, Waschmaschine, Elektroherd und Warmwasser für Bad und Küche) für Sozialhilfeempfänger
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 13.10.1986
- Aktenzeichen
- 4 OVG B 182/86
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1986, 12832
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1986:1013.4OVG.B182.86.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 27.06.1986 - AZ: 4 VG D 73/86
- nachfolgend
- OVG Schleswig-Holstein - 13.10.1986 - AZ: 4 B 182/86
Rechtsgrundlagen
- Art. 2 § 7 Abs. 1 EntlG
- § 72 BSHG
- § 21 Abs. 1 BSHG
- § 21 Abs. 12 BSHG
- § 1 Abs. 2 S. 2 BSHG
- § 154 Abs. 2 VwGO
- § 188 S. 2 VwGO
Verfahrensgegenstand
Sozialhilfe (Beihilfe zur Beschaffung eines Kühlschrankes) - einstweilige Anordnung-.
Prozessführer
des Herrn ...
Prozessgegner
das Landessozialamt Niedersachsen, Domhof 1, Hildesheim,
In der Verwaltungsrechtssache hat der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein am 13. Oktober 1986
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer - vom 27. Juni 1986 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.
Gründe
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
Der Senat weist sie aus den tragenden Gründen des angefochtenen Beschlusses zurück (Art. 2 § 7 Abs. 1 EntlG). Im Hinblick auf die Begründung der Beschwerde ist ergänzend auszuführen:
Der Antragsgegner muß dem Antragsteller gemäß §§ 72, 21 Abs. 1, 12 BSHG in Verbindung mit § 8 der Verordnung zu § 72 BSHG eine Beihilfe für einen gebrauchten Kühlschrank bewilligen.
Der Begriff des notwendigen Lebensunterhalts orientiert sich an dem in § 1 Abs. 2 Satz 2 BSHG festgelegten Grundsatz, daß dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll. Dies ist nicht schon dann gewährleistet, wenn das physiologisch Notwendige vorhanden ist; es ist vielmehr zugleich auf die jeweiligen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, insbesondere der Bürger mit niedrigem Einkommen, abzustellen (vgl. BVerwGE 35, 178, 180[BVerwG 22.04.1970 - V C 98/69]/181 = FEVS 17, 321). Dem Hilfesuchenden soll es ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. BVerwGE 36, 256 ff[BVerwG 11.11.1970 - V C 32/70] -258-).
Für die Beantwortung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Kühlschrank zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ist daher von erheblicher Bedeutung, daß deutsche Haushalte durchweg mit Kühlschränken (oder Kühl- und Gefrierkombinationen) ausgestattet sind (Jahrbuch der Statistik 1985 -einschließlich des Haushaltstyps 3, das sind 2-Personen-Haushalte von Renten -und Sozialhilfeempfängern). Die "Dichte" der Versorgung mit Haushaltsgeräten ist als Indiz für die in der Bevölkerung anzutreffende Auffassung über deren Notwendigkeit sowie für die diesbezüglichen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen anzusehen (vgl. Urt. d. Sen. v. 25. Februar 1981, FEVS 31, 146). Allerdings ist aus dem Grundsatz, daß dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll, nicht abzuleiten, daß durch den Träger der Sozialhilfe sämtliche Normalbedürfnisse im Sinne eines durchschnittlichen Lebensstandards befriedigt werden müßten; was weitgehend als Annehmlichkeit empfunden wird, ist nicht immer eine von der Menschenwürde her gebotene Notwendigkeit (vgl. BVerwGE 48, 237, 239[BVerwG 22.05.1975 - V C 43/74] = FEVS 21, 214; Urt. d. Sen. a.a.O.). Ein Kühlschrank dürfte aber heutzutage für alle Haushalte, also auch Einpersonenhaushalte, schon zum unteren Lebensstandard gehören und wird nicht nur als Annehmlichkeit empfunden, sondern als notwendiges Haushaltsgerät, das eine einwandfreie und kostensparende Aufbewahrung von Lebensmitteln ermöglicht. Diese Maßstäbe gelten jedenfalls dann, wenn der Hilfesuchende keinen (Keller-)Raum hat, der dafür geeignet ist, Lebensmittel kühl zu lagern.
Der noch kürzlich vertretenen Auffassung (OVG Berlin, NDV 1986, 218; OVG Münster, NDV 1986, 219), der Gebrauch eines Kühlschrankes gehöre durchweg nicht zum notwendigen Lebensunterhalt, vermag der Senat nicht zu folgen, zumal diese Gerichte vom selben Ansatzpunkt wie der Senat ausgehen. Der Senat hält insbesondere die Unterscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin zwischen einem "Primärbedarf" und einem davon zu unterscheidenden "anderen Bedarf" nicht für sinnvoll. Es kommt entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin nicht allein darauf an, ob ein Kühlschrank erforderlich ist, um die zum notwendigen Lebensunterhalt gehörende bedarfsgerechte Ernährung des Hilfeempfängers sicherzustellen. Maßgebend sind vielmehr die Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, die die Nutzung eines Kühlschrankes nicht mehr als "besondere Annehmlichkeit" verstehen dürfte; ein solches Gerät wird, wie bereits betont wurde, inzwischen als ein alltäglich benutzter Gebrauchsgegenstand eingestuft, nicht aber als ein "Luxusgegenstand". Das Oberverwaltungsgericht führt mit seiner Unterscheidung zwischen Primärbedarf (Ernährung, Schutz vor Kälte?) und anderem Bedarf letztlich den Begriff des "notwendigen Lebensunterhalts" auf das für die menschliche Existenz unerläßliche Minimum zurück. Damit wird entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (zuletzt: FEVS 33, 441) diesem Begriff ein neuer Inhalt gegeben; die herrschenden Lebensgewohnheiten und -erfahrungen werden außer acht gelassen.
Diese Erwägungen gelten um so mehr, als nunmehr die Regelsätze nach dem Warenkorbmodell 1985 bemessen worden sind, das die interministerielle Arbeitsgruppe "Warenkorb/Regelsatz - neues Bedarfsmengenschema" für die Konferenz der Minister und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder erarbeitet hat.
Hiernach ist im Teilwarenkorb "Ernährung" die Preisermittlung nach dem sogenannten "ersten Quartil" vorgenommen, das nach Auskunft von Statistikexperten im Jahre 1981 um 13 v.H. unter den Bundesdurchschnittspreisen lag; zusätzlich ist die Position "Schwund, Verderb und unwirtschaftlicher Einkauf" gegenüber dem Warenkorb 1970 beim Haushaltsvorstand von 20 v.H. auf 8 v.H. gekürzt worden. Als Begründung hat die Arbeitsgruppe hierzu angegeben, "ein sorgfältiger Einkauf und eine sachgerechte Aufbewahrung der Nahrungsmittel (seien) dem Hilfeempfänger heute weitgehend möglich". Bei der Bemessung der Regelsätze ist also offenbar davon ausgegangen worden, daß die Hilfeempfängerhaushalte durchweg mit Kühlschränken ausgestattet sind, weil dies unter den heutigen Lebensverhältnissen die sachgerechte Aufbewahrung von Nahrungsmitteln darstellt. Hiermit in Einklang steht, daß der im hauswirtschaftlichen Bedarf enthaltene Ansatz "Haushaltsenergie" nach einer Verbrauchsuntersuchung bemessen wurde, die von einer "Sockelelektrifizierung" (Licht, Kleingeräte, Kühlschrank, Waschmaschine, Elektroherd und Warmwasser für Bad und Küche) ausgeht.
Der Senat sieht neben dem Anordnungsanspruch (der materiellen Schutzbedürftigkeit) auch den Anordnungsgrund (die Eilbedürftigkeit der Regelung) als gegeben an, weil es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, sich bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren, die möglicherweise noch jahrelang auf sich warten läßt, ohne Kühlschrank zu behelfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.