Landgericht Göttingen
Urt. v. 16.11.1978, Az.: 2 O 152/78
Anspruch auf Auskunft und Einsichtnahme in Krankenunterlagen; Rechtsnatur von Krankenunterlagen
Bibliographie
- Gericht
- LG Göttingen
- Datum
- 16.11.1978
- Aktenzeichen
- 2 O 152/78
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1978, 12798
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGGOETT:1978:1116.2O152.78.0A
Rechtsgrundlagen
- § 810 BGB
- § 282 ZPO
- § 26 IIS. 4 BDSG
Fundstelle
- NJW 1979, 601-603 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Auskunft aus Krankenunterlagen
Die 2. Kammer des Landgerichts Göttingen hat
auf die mündliche Verhandlung vom 12.10.1978
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Landgericht ... und
der Richter am Landgericht ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Beklagten werden verurteilt,
- 1.
der Klägerin schriftlich Auskunft zu erteilen über den Inhalt sämtlicher Krankenaufzeichnungen anläßlich der Untersuchung durch den beklagten Arzt und der Schilddrüsenoperation am 14.3.1975 durch Fotokopien, Abschriften oder in ähnlich geeigneter Weise Zug um Zug gegen Erstattung der Kopierkosten,
- 2.
der Klägerin oder einer von ihr beauftragten Person Einsicht in die oben bezeichneten Krankenunterlagen - auch soweit diese wegen ihres technischen Charakters (z.B. Röntgenbilder) nicht fotokopierbar sind - zu gewähren.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten je zur Hälfte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.500,- DM vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: 10.000,- DM.
Tatbestand
Die Klägerin ließ sich zunächst hinsichtlich einer Schilddrüsenoperation durch den beklagten Arzt privat untersuchen, der Chefarzt der chirurgischen Abteilung des beklagten Krankenhauses ist.
Am 14. März 1975 wurde dann im Rahmen eines totalen Krankenhausaufnahmevertrages ein Teil der Schilddrüse durch zwei Assistenzärzte des beklagten Krankenhauses entfernt, wobei Rekurrensnerv durchtrennt wurde und dadurch eine linksseitige Stimmbandlähmung bei der Klägerin eingetreten ist. Anfang 1978 wurde ein Schlichtungsverfahren durch die norddeutsche Ärztekammer durchgeführt, bei dem durch die Schlichtungsstelle festgestellt wurde, daß auf ärztlicher Seite keine Sorgfaltspflichtverletzung vorgelegen habe.
Die Klägerin möchte prüfen, welche Überlegungen der beklagte Arzt und die nachgeordneten Ärzte des beklagten Krankenhauses aus Anlaß ihrer Erkrankung angestellt haben.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagten zu verurteilen,
- 1.
der Klägerin schriftlich Auskunft zu erteilen über den Inhalt sämtlicher Krankenaufzeichnungen anläßlich der Untersuchung durch den beklagten Arzt und der Schilddrüsenoperation am 14.3.1975 durch Fotokopien, Abschriften oder in ähnlicher geeigneter Weise
notfalls Zug um Zug gegen Erstattung der Fotokopierkosten,
- 2.
der Klägerin oder einer von ihr beauftragten Person Einsicht in die im Antrag zu 1. bezeichneten Krankenunterlagen - auch soweit diese wegen ihres technischen Charakters (z.B. Röntgenbilder) nicht fotokopierbar sind - zu gewähren.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie sind der Auffassung, daß der Klägerin rechtlich ein derartiger Anspruch nicht zustehe. Die Beklagten behaupten, daß die Einsicht in die Krankenpapiere unmöglich sei, da sie durch die Staatsanwaltschaft in einem gegen die beteiligten Ärzte gerichteten Ermittlungsverfahren beschlagnahmt worden seien, und daß das beklagte Krankenhaus keine eigenen Krankenunterlagen führe und besitze.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf die zwischen den Parteien bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Ein Anspruch auf Auskunft und Einsichtnahme in die Krankenunterlagen ist aus § 810 BGB und einem nebenvertraglichen Anspruch aus dem Arztvertrag gegeben.
Krankenunterlagen sind schriftliche Gedankenerklärungen, also Urkunden i.S.v. § 810 BGB, soweit sie nicht infolge technischer Aufzeichnungen entstanden sind, (z.B. Röntgenbilder, Elektrokardiogramme, etc.). Diese Urkunden sind im Interesse der Patienten errichtet, da eine Pflicht zur Aufzeichnung besteht. Bei der Vielzahl der Patienten und dem heutigen Umfang der Diagnose - und Therapiemöglichkeiten kann der Arzt seine vertraglichen Pflichten nur durch eine angemessene Aufzeichnung erfüllen. Das gilt für eine Weiterbehandlung sowohl durch ihn selbst, als auch durch einen möglichen Nachfolger (Daniels NJW 76, 348).
Dieser Auffassung hat sich nun auch der BGH angeschlossen, (BGH VersR. 78, 1023) unter ausdrücklicher Aufgabe der Auffassung, daß die Krankenunterlagen nur interne Gedächtnisstützen für den Arzt darstellen. In dem Umfang, in dem sie sich aus therapeutischen Erwägungen anbietet, ergibt die Dokumentationspflicht auch eine außerprozessuale Rechenschaftspflicht ähnlich der, die bei der Verwaltung fremden Vermögens seit langem selbstverständlich ist. (BGH, VersR 78, 1024). Aus der Natur des Arztvertrages folgt, daß die Rechenschaftspflicht nur aus therapeutischen Gründen einzuschränken ist, insbesondere wenn die Mitteilung der Wahrheit beim Patienten schwere seelische Erschütterungen hervorrufen würde.
Eine derartige Möglichkeit wurde im vorliegenden Fall nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich.
Gerade therapeutische Gründe sprechen hier für eine Auskunfts- und Einsichtsrecht. Von ärztlicher Seite wird immer wieder betont, wie wichtig das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist. Insbesondere bei einer Operation mit anschließenden Komplikationen wird dieses Vertrauensverhältnis noch mehr belastet, wenn der Arzt die Einsicht in die Krankenunterlagen verweigert.
Das rechtliche Interesse an der Einsichtnahme ergibt sich für die Klägerin aus dem Anspruch auf umfassende und erschöpfende Aufklärung über Diagnose und Therapie im Rahmen des Behandlungsvertrages. Diesen Auskunftsanspruch macht die Klägerin hier geltend.
Dieser Anspruch auf umfassende Aufklärung würde ausgehöhlt werden, wenn der Arzt bei bloßer Auskunftserteilung die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Einsicht zu verweigern und so den Auskunftsanspruch auf bestimmte Tatsachen seiner Wahl zu beschränken. Gegen das Einsichtsrecht des Patienten spricht auch nicht das Argument, daß dieser die Unterlagen meist nicht fachgerecht beurteilen könne, denn der Patient kann diese Zweitunterlagen einem anderen Arzt vorlegen, der sie ihm erklärt.
Weiterhin ist nach Auffassung der Kammer die Gefahr gering, daß Ärzte nur minimale Aufzeichnungen vornehmen oder gar doppelte Krankenblätter führen, da eine Pflicht zu ordnungsgemäßer Dokumentation besteht und bei unzulänglicher Aufzeichnung sich Beweisnachteile gem. § 282 ZPO bis hin zur Beweislastumkehr für einen Arzt im Prozeß ergeben können (BGH in VersR 78/1024). Ein Auskunfts- und Einsichtsanspruch ergibt sich auch aus einem nebenvertraglichen Anspruch des Behandlungsvertrages, da die Dokumentations- und Rechenschaftspflicht aus den obengenannten Gründen letztlich, aus dem Vertrag herzuleiten und nicht nur eine standesrechtliche Pflicht des Arztes ist. Dieser Anspruch ist nicht wie § 810 BGB schriftliche Urkunden beschränkt, sondern umfaßt auch technische Aufzeichnungen.
Einen schriftlichen Auskunftsanspruch gewährt ebenfalls 26 II Bundesdatenschutzgesetz (Weyers, Gutachten A zum 52. Deutschen Juristentag, S. 117). Nach § 26 II S. 4 BDSG ist eine andere Form der Mitteilung angemessen, wenn besondere Umstände dies erfordern. Besondere Umstände liegen dann vor, wenn die Mitteilungen durch den Arzt den Lebenswillen des Patienten schwächen würden oder gar zum Suicid führen könnten (Ordemann/Schomerus BDSG § 26 Anm. 6, 2). Derartige Umstände liegen hier nicht vor; ein Einsichtsrecht ist im BDSG jedoch nicht vorgesehen.
Hinsichtlich der Kosten bestimmt § 811 II BGB, daß sie derjenige zu tragen hat, der die Vorlegung verlangt. Dies muß auch für das vertragliche Einsichtsrecht gelten, da hiermit eine besondere Leistung des Vertragspartners verbunden ist, die nur auf ausdrückliches Verlangen zu erbringen ist. Eine ähnliche Regelung enthält § 26 III BDSG.
Die Einwände der Beklagten, daß die Einsichtnahme wegen der Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft nicht möglich sei und daß das beklagte Krankenhaus keine eigenen Krankenunterlagen führe und besitze, können nicht zur Klagabweisung führen. Bei Fortdauer der Beschlagnahme könnten die Beklagten der Klägerin in die beim Ermittlungsvorgang befindlichen Krankenunterlagen Einsicht gewähren lassen da dadurch der Sicherungszweck der Beschlagnahme nicht gefährdet wird.
Beide Einlassungen sind auch in sich widersprüchlich; wenn die Staatsanwaltschaft im Krankenhaus Unterlagen des beklagten Krankenhauses beschlagnahmt hat, wie dieses selbst vorträgt, kann an deren Existenz kein Zweifel bestehen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91, 100 ZPO, die der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Streitwert: 10.000,- DM.