Landgericht Göttingen
Urt. v. 02.05.1958, Az.: 3 O 51/58

Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld hinsichtlich der Folgen eines Verkehrsunfalls; Verkehrswidriges Befahren der linken Fahrbahnseite ("Schneiden" einer Kurve); Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund Amputation des linken Beins, leichter Gehirnerschütterung, Platzwunden am Kopf und mehrerer Prellungen

Bibliographie

Gericht
LG Göttingen
Datum
02.05.1958
Aktenzeichen
3 O 51/58
Entscheidungsform
Grundurteil
Referenz
WKRS 1958, 14918
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGGOETT:1958:0502.3O51.58.0A

Verfahrensgegenstand

Schadenersatz

In dem Rechtsstreit
...
hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts in ...
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 1958
unter Mitwirkung
des Landgerichtsdirektors Dr. Stark,
des Landgerichtsrats Dr. Möhle und
des Gerichtsassessors Gebhardt
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.693,40 DM nebst 4 % Zinsen auf 193,40 DM ab 10.6.1957, imübrigen ab 4.3.1958, zu zahlen.

  2. 2.

    Der weitere Zahlungsanspruch wird dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

  3. 3.

    Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen weiteren Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 9.3.1957 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen sind.

  4. 4.

    Das Urteil zu 1) ist gegen Sicherheitsleistung von 6.693,40 DM vorläufig vollstreckbar.

  5. 5.

    Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Tatbestand

1

Der Kläger war Fernfahrer bei der Firma ... Sein Lastzug stand in ... Er fuhr jeweils mit seinem Motorrad, einer DKW 125 ccm, zur Arbeit, Am 9.3.1957 war er früh nach ... gefahren, um bei der dortigen ...fabrik seinen Lastzug ent- und wieder beladen zu lassen. Gegen 20 Uhr fuhr er nach Hause. Seine Geschwindigkeit betrug etwa 45 km/h. Er benutzte die ihm bekannte Landstraße 1. Ordnung Nr. 530, die - in seiner Fahrtrichtung gesehen - in einer weiten Rechtskurve etwa von Süden nach Norden durch den Ort ... führt. Die befestigte Fahrbahn - Teersplit - ist in der Ortsdurchfahrt 5,70-5,80 m breit. Am südlichen Ortseingang ist die Kurve stark gekrümmt. Im weiteren Verlauf läßt die Krümmung etwas nach, um anschließend wieder in starker Rechtskurve - etwa 45 ° - den nördlichen Ortsausgang zu erreichen. Die Kurve ist in ihrer gesamten. Länge nicht zu übersehen. Etwa in der Mitte dieser Kurve kreuzt die Dorfstraße die Fahrbahn.

2

In der Kurve kam dem Kläger der Beklagte entgegen. Dieser hatte bis 20 Uhr auf seinem Arbeitsplatz in der ... fabrik gearbeitet und befand sich nun auf der Heimfahrt, Er fuhr sein 200 ccm Motorrad mit einer Geschwindigkeit von 50-55 km/h. Am nördlichen Ortseingang von ... kam ihm ein Moped entgegen. Er blendete deshalb ab, fuhr aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Als er an dem Moped vorbei war, blendete er wieder auf und fuhr in den Nordteil der langgestreckten Kurve - in seiner Fahrtrichtung eine Linkskurve - hinein. In der Kurve in Höhe der Straßenkreuzung stieß er mit dem Kläger zusagen. Beide kamen zu Fall und rutschten mit ihren Motorrädern ein Stück auf der Straße entlang.

3

Der Kläger ist der Ansicht, daß der Beklagte, der wegen dieses Unfalles durch Urteil des Landgerichts ... vom 28.3.1958 - 9 Ms (Ns) 118/57 - nach § 230 StGB muß einer Geldstrafe von 100,- DM bestraft worden ist, allein schuld an diesem Unfall ist. Er selbst habe, so behauptet der Kläger, mit Abblendlicht seine rechte Straßenseite befahren. Kurz vor der Unfallstelle habe er den Beklagten plötzlich von links auf sich zukommen sehen. Der Beklagte müsse deshalb die rechte Fahrbahnseite nicht eingehalten und die Kurve geschnitten haben. Dies bestätigten auch die Kratzspuren, die beide Motorräder nach dem Zusammenstoß hinterlassen hätten und die der Zeuge Polizeimeister ... festgestellt habe. Die beiden Kratzspuren hätten Jeweils an den Stellen geendet, an denen die Motorräder nach dem Unfall gelegen hätten. Die zum Fahrzeug des Beklagten führende etwa 17 m lange Kratzspur habe sich auf dessen linker Fahrbahnseite etwa 1 m vom linken Rand der befestigten Fahrbahn entfernt, befunden. Die Kratzspur, die sein Motorrad hinterlassen habe, habe ebenfalls auf der linken Fahrbahnseite des Beklagten in unmittelbarer Nahe der anderen Kratzspur begonnen und sei zu dem - in Fahrtrichtung des Beklagten gesehen - links neben der Fahrbahn befindlichen Seiten streifen gelaufen. An der Stelle, an der die beiden Kratzspuren begonnen hätten, hätten ... auch die Glassplitter von den Scheinwerfern und Rückspiegeln der Motorräder gelegen.

4

Unstreitig sind durch den Unfall die Kleidungsstücke, die der Kläger trug, nämlich 1 Lederjacke und Haube, 1 Unterhose, 1 Manchesterhose, 1 Trainingshose, 1 Motorradhose, 1 Paar Strümpfe und 1 Paar Schuhe, unbrauchbar geworden. Dieser Schalen beträgt 193,40 DM. Die Zahlung dieses Betrages mahnte der Kläger am 10.6.1957 an.

5

Das Motorrad des Klägers ist bei dem Unfall ebenfalls beschädigt worden. Der Kläger behauptet, die Reparaturkosten würden etwa 800,- DM betragen.

6

Der jetzt 34 Jahre alte Kläger verlangt ein Schmerzensgeld. Unstreitig erlitt er bei dem Unfall eine leichte Gehirnerschütterung, Platzwunden am Kopf und mehrere Prellungen. Er brach sich das linke Bein mehrmals, so daß es sofort am Oberschenkel amputiert werden mußte. 16 Tage lag der Kläger im Krankenhaus. Anschließend war er noch 8 Monate krank geschrieben. Er trägt jetzt eine Prothese. Seinen Beruf als Fernfahrer kann er nicht mehr ausüben. Er arbeitet jetzt in der Elektroreparaturwerkstatt der Firma ...

7

Der Kläger behauptet weiter, daß er seinen Gesamtschaden noch nicht endgültig berechnen und daß auch in Zukunft ein Schaden entstehen könne. Früher habe er als Fernfahrer wöchentlich 160,- DM netto einschließlich 60,- DM Spesen, von denen er immer 25,- bis 30,- DM übrig gehabt habe, verdient. Jetzt erhalte er dagegen monatlich nur 322,36 DM netto. Die Höhe seines endgültigen Verdienstausfalles könne er noch nicht bestimmen, da - unstreitig - das Rentenverfahren bei der Unfall-Berufsgenossenschaft noch nicht abgeschlossen sei.

8

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Beklagten zu verurteilen, an ihn 943,40 DM nebst 4 % Zinsen auf 193,40 DM seit dem 10.6.1957 und auf 800,- DM seit Zustellung des Schriftsatzes vom 24.1.1953 zu zahlen,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Zustellung der Klage zu zahlen,

  3. 3.

    festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihm sämtlichen weiteren aus dem Verkehrsunfall vom 9.3.1957 entstandenen und künftig entstehenden Schaden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentliche Versicherungsgelder übergegangen seien.

9

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Er ist der Ansicht, daß er keine Schuld, zumindest aber nicht die alleinige Schuld an dem Unfall hat. Er sei, so behauptet der Beklagte, auf seiner rechten Fahrbahnseite gefahren. Er habe die Kurve nicht geschnitten. Der Kläger sei von links auf ihn zugefahren und habe ihn auf seiner rechten Fahrbahnseite etwa in Höhe der Treppe des Hauses ... angefahren.

11

Gemäß Beschluß vom 27.3.1958 ist Beweis erhoben. Das Ergebnis der Beweisaufnahme ist aus der Niederschrift vom 2.5.1958 ersichtlich. Auf diese wird Bezug genommen.

12

Die Akten 9 114 118/57 der Staatsanwaltschaft waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

13

Der Beklagte haftet dem Kläger in vollem Umfang für den durch den Unfall vom 9.3.1957 entstandenen Schaden.

14

Der Schadenersatzanspruch des Klägers wegen der ihm zugefügten Sachschäden ist in Höhe von 193,40 DM begründet, im übrigen dem Grunde nach gerechtfertigt.

15

Der Beklagte ist als Halter des Motorrades dem Kläger aus§ 7 Abs. 1 StVG schadenersatzpflichtig, da der Unfall für ihn kein unabwendbares Ereignis i.S. des § 7 Abs. 2 StVG war. Darüberhinaus ist der Beklagte aber auch nach§ 823 Abs. 1 und 2 BGB i. Verb. mit § 230 StGB und §§ 1, 8 Abs. 2 StVO verpflichtet, den Schaden des Klägers zu ersetzen. Er hat dem Kläger den Schaden durch verkehrswidriges Verhalten zugefügt. Als er mit seinem Motorrad von ... kommend die Kurve - in seiner Fahrtrichtung eine Linkskurve - in ... durchfuhr, hielt er sich nicht auf seiner rechten Fahrbahnseite. Er schnitt die Kurve vielmehr und befuhr diese auf der linken Straßenhälfte. Denn auf dieser Fahrbahnseite stieß er mit dem Kläger zusammen. Das ergeben die Kratzspuren, die die Motorräder nach dein Zusammenstoß, als sie noch ein Stück über die Straße rutschten, hinterließen.

16

Die Kratzspuren beginnen - in Fahrtrichtung des Beklagten gesehen - etwa 1 m vom linken Fahrbahnrand der befestigten Fahrbahn entfernt. Das Krad des Beklagten hinterließ eine 17 m lange Kratzspur, die - in seiner Fahrtrichtung gesehen - auf dem links der Straße befindlichen Seitenstreifen vor dem Hause ... endete und an deren Ende das Motorrad des Beklagten lag. Die 10 m lange Kratzspur vom Motorrad des Klägers begann seitlich etwas versetzt in unmittelbarer Ruhe der anderen Kratzspur und verlief in Fahrtrichtung des Klägershalbrechts über den Asphalt auf dem Seitenstreifen bis zum Hause .... Diesen Verlauf der Kratzspuren hat die Beweisaufnahme ergeben. Der Zeuge ... hat die Spuren nach seinen Angaben unmittelbar nach dem Unfall festgestellt. Die Kammer ist der Überzeugung, daß der Zeuge sehr genau und gewissenhaft die Unfallspuren gesichert hat. An seiner Glaubwürdigkeit können deshalb keine Bedenken bestehen.

17

An der Stelle, an der die beiden Kratzspuren begannen, muß sich der Unfall ereignet haben. Andernfalls hätten die beiden Motorräder keine Kratzspuren in der vorgefundenen Form hinterlassen können, wie der Sachverständige ... ausgeführt hat. Die Kratzspur vom Motorrad des Beklagten für sich allein, betrachtet ließe zwar den Schluß zu, daß der Zusammenstoß auf der rechten Fahrbahnseite des Beklagten etwa in Höhe der Treppe des Hauses ... erfolgt sein könnte. Es könnte so gewesen sein, daß das Motorrad des Beklagten infolge des Zusammenstoßes auf dessen linke Fahrbahnseite geschleudert worden und dann in der gleichen Richtung auf den Asphalt weitergerutscht ist. Dieser Unfallverlauf ist aber mit der vom Motorrad des Kläger, stammenden Kratzspur nicht zu vereinbaren. Das Krad des Klägers müßte dann nämlich infolge des Zusammenstoßes entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung geschleudert worden und dann wieder in der alten Fahrtrichtung weitergerutscht sein. Das ist jedoch nach dem physikalischen Gesetzen unmöglich.

18

Die vorgefundenen Kratzspuren beider Motorräder lassen also nur den Schluß zu, daß der Zusammenstoß an der Stelle erfolgt ist, an der diese Spuren beginnen. Der Beklagte muß deshalb links gefahren sein. Dann hat er sich aber verkehrswidrig verhalten. Er hat entgegen § 8 Abs. 2 StVO nicht die rechte Fahrbahnseite eingehalten und dadurch den Unfall und den Schaden des Klägers verursacht.

19

Der Beklagte hat auch fahrlässig gehandelt, da er die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat. Er wußte, daß er nicht links fahren durfte. Er konnte und mußte auch erkennen, daß ein Linksfahren gefährlich ist und zu einem schweren Unfall führen kann.

20

Der Beklagte ist also sowohl nach § 7 Abs. 1 StVG als auch nach § 823 Abs. 1 u.2 BGB i. Verb. mit § 230 StGB und §§ 1, 8 Abs. 2 StVO verpflichtet, den dem Kläger durch den Unfall entstandenen Schaden zu ersetzen.

21

Die Schadenersatzpflicht des Beklagten besteht in voller Höhe. Auf ein Mitverschulden des Klägers kann er sich nicht berufen.

22

Der Kläger ist nicht nach § 17 Abs. 1 S. 2 StVG ausgleichspflichtig. Diese Ausgleichspflicht besteht nämlich nur im Rahmen des § 7 StVG; sie entfällt, wenn eine Schadenersatzpflicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen ist. Das ist hier bei dem Kläger der Fall; denn für ihn war der Unfall ein unabwendbares Ereignis. Er ist auf seiner rechten Fahrbahnseite durch die Kurve gefahren, wie die vorgefundenen Spuren zeigen etwa 1 m vom Fahrbahnrand entfernt. Den Beklagten konnte er erst aus kurzer Entfernung aus der Kurve auf sich zukommen weder sehen. In dieser Situation war es für ihn unmöglich, weder nach links noch nach rechts auszuweichen noch sonst irgendetwas zu tun, um den Unfall zu vermeiden. Der Beklagte ist deshalb verpflichtet, den Schaden des Klägers in voller Höhe zu ersetzen.

23

Der Kläger gibt seinen Sachschaden mit 993,40 DM an. Hiervon entfallen 193,40 DM auf seine durch den Unfall unbrauchbar gewordenen Bekleidungsstücke. Dieser Betrag ist unstreitig. Er konnte daher dem Kläger nebst 4 % Verzugszinsen (§ 286 Abs. 1 BGB) seit dem 10.6.1957 zugesprochen werden. Die restlichen 800,- DM verlangt der Kläger als Reparaturkosten für sein beschädigtes Motorrad. Die Höhe dieses Betrages ist streitig. Insoweit konnte deshalb der Anspruch des Klägers jetzt nur gemäß § 304 ZPO dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt werden.

24

Der Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes ist nach §§ 823, 847 BGB begründet. Die Kammer hat einen Betrag von 6.500,- DM als angemessen erachtet. Dabei ist berücksichtigt, daß der Kläger bei dem Unfall schwer verletzt worden ist, lange Zeit erhebliche Schmerzen gehabt hat und auch dauernd an den Folgen des Unfalls zu leiden haben wird. Hinzukommt als Folge der Amputation des linken Beines die dauernde Beeinträchtigung der Lebensfreude, die bei dem erst 34 Jahre alten Kläger besonders schwer wiegt. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.500,- DM erschien deshalb angemessen. Der Zinsanspruch ist insoweit aus § 291 BGB begründet.

25

Der Feststellungsantrag des Klägers ist nach§ 256 ZPO gerechtfertigt, da er ein rechtliches Interesse daran hat, schon jetzt eine rechtsverbindliche Erklärung zu erhalten, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihm auch in Zukunft evtl. noch entstehenden Unfallschaden zu ersetzen. Ein weiterer Schaden des Klägers liegt im Bereich des Möglichen. Das ergibt sich schon daraus, daß das Rentenverfahren bei der Unfall-Berufsgenossenschaft noch nicht abgeschlossen ist. Erst nach Abschluß dieses Verfahrens läßt sich aberübersehen, ob das jetzige Einkommen des Klägers geringer ist als sein früherer Verdienst als Fernfahrer.

26

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 710 ZPO. Die Kostenentscheidung war dem Endurteil vorzubehalten.