Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 25.08.1998, Az.: 1 B 57/98
Sofortige Vollziehung der Überweisung an eine Schule ; Anforderungen an die Begründung des besonderen öffentlichen Interesses gem. § 80 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); Inhaltliche Anforderungen an das besondere öffentliche Vollzugsinteresse ; Vorliegen einer auffälligen körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung während des Schulbesuchs als Voraussetzung eines sonderpädagigischen Förderbedarfs; Recht des Schülers auf bestmögliche Berücksichtigung seiner Anlagen und Befähigungen bei der Auswahl des ausbildungsgeeigneten Schultyps; Rechte der Eltern bei Auswahl des ausbildungsgeeigneten Schultyps
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 25.08.1998
- Aktenzeichen
- 1 B 57/98
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1998, 11331
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:1998:0825.1B57.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 5 VwGO
- Art. 2 Abs. 1 GG
- Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG
- Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
Verfahrensgegenstand
Feststellung sonderpädag. Förderbedarfs u. Überweisung an eine Sonderschule - § 80 Abs. 5 VwGO -
Prozessführer
Eheleute ...
Prozessgegner
Bezirksregierung ...
In der Verwaltungsrechtssache
hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Lüneburg
am 25. August 1998 beschlossen:
Tenor:
- 1.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens haben die Antragsteller zu tragen.
- 2.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.
Gründe
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. Juli 1998 wurde für den Sohn ... der Antragsteller ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt und seine Überweisung an eine Schule für Lernhilfe - die "... schule" in ... - für das Schuljahr 1998/1999 angeordnet. Dagegen erhoben die Antragsteller Widerspruch, der durch Widerspruchsbescheid vom 10. August 1998 zurückgewiesen wurde. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehung der Überweisung an die gen. Schule im öffentlichen Interesse angeordnet.
Der am 18. August 1998 bei der Kammer gestellte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - in der Form der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO - hat keinen Erfolg.
Zunächst einmal ist das besondere Vollzugsinteresse für die Anordnung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO in einer dem Gesetzeszweck des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hinreichend Rechnung tragenden Weise schriftlich begründet worden. § 80 Abs. 3 VwGO ist Ausdruck des rechtsstaatlichen Grundsatzes, daß dem von behördlichen Maßnahmen betroffenen Bürger die maßgebenden Gründe zu eröffnen sind, damit er seine Rechte wahrnehmen und die Erfolgsaussichten etwaiger Rechtsmittel abschätzen kann. Zugleich soll der Behörde der Ausnahmecharakter der sofortigen Vollziehung vor Augen geführt und sie so zu einer sorgfältigen Prüfung der Frage angehalten werden, ob nun wirklich einen sofortigen Vollzug rechtfertigende Interessen vorliegen. - Hier ist den Beteiligten und dem Gericht ist in schriftlicher Form offengelegt worden, aus welchen Gründen die Antragsgegnerin eine Anordnung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für geboten hält. Das ist auch nicht nur formelhaft und durch Verwendung allgemeiner Wendungen geschehen, sondern durch eine auf den Einzelfall abgestellte Begründung (S. 3 des Widerspruchsbescheides). Das genügt dem dargelegten Zweck des § 80 Abs. 3 VwGO.
Kein Hindernis des vorliegenden Antrags ist es, daß seitens der Antragsteller noch keine Klage erhoben worden ist: Unter Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 4 GG und in entsprechender Anwendung des § 123 Abs. 1 VwGO ist es während des Laufs der Klagefrist nicht erforderlich, daß in der Hauptsache ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden könnte (Kopp, VwGO-Kommentar, 11. Auflage 1998, § 80 Rdn. 139 m.w.N. zum Streitstand).
Es liegen nach Auffassung der Kammer auch den Sofortvollzug in der Sache rechtfertigende Umstände und Gründe vor. Nach der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden wertenden Einschätzung der Kammer ist die angeordnete sofortige Vollziehung hier durch ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse geboten. Hierbei ist davon auszugehen, daß die Befugnis der Kammer nicht auf die bloße (kassatorische) Kontrolle der behördlichen Vollzugsanordnung beschränkt ist, sondern - gestaltend und daher weitergehend (Finkelnburg/Jank, a.a.O., Rdn. 650 m.w.N.) - sich auch auf die Frage erstreckt, ob die aufschiebende Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO auf dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG von Rechts wegen wiederherzustellen ist. Maßstab hierbei ist eine eigenständige gerichtliche Einschätzung, Bewertung und Abwägung der einander widerstreitenden Interessen. Die behördliche Vollzugsanordnung und deren Gründe kommen dabei nur noch als ein Faktor unter anderen, das Gericht leitenden Abwägungsgesichtspunkten in den Blick.
Unter Berücksichtigung der hier maßgeblichen Umstände ist die aufschiebende Wirkung nicht wiederherzustellen. Denn gem. § 1 Nr. 1 b der Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs v. 01.11.1997 (Nds.GVBl. S. 458) ist ein Förderbedarf dann festzustellen, wenn eine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung oder eine Beeinträchtigung des sozialen Verhaltens während des Schulbesuchs auffällig wird und das Erreichen der Bildungsziele der betreffenden allgemeinbildenden Schule nicht oder nur durch sonderpädagogische Förderung möglich erscheint, wobei ein solcher Bedarf nach den ergänzenden Bestimmungen zur gen. Verordnung vom 06.11.1997 (SVBl. S. 385) bei Kindern und Jugendlichen zu vermuten ist, deren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten derart beeinträchtigt sind, daß sie Hilfe über einen längeren Zeitraum benötigen. Diese Voraussetzungen dürften bei Yilmaz, soweit das im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes übersehbar ist, uneingeschränkt vorliegen. Insoweit kann auf die Darlegungen im Widerspruchsbescheid (S. 2/3) Bezug genommen werden.
Allein die Tatsache, daß ein Förderbedarf für einen Schüler festgestellt worden ist, führt jedoch noch nicht zwangsläufig dazu, daß er in eine Schule für Lernhilfe zu überweisen ist. Denn bei der Entscheidung der Schulbehörde darüber, an welcher Schule nun (lern-)behinderte Kinder und Jugendliche im Einzelfall zu unterrichten sind, spielen auch das Recht des Schülers auf eine seine Anlagen und Befähigungen möglichst weitgehend berücksichtigende Ausbildung (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie das Recht der Eltern, den Bildungsweg ihres Kindes grundsätzlich frei wählen zu dürfen (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), eine tragende Rolle (BVerfGE 96, S. 288/S. 306). Daneben sind die Bindungen aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zu beachten. Die Überweisung an eine Sonderschule kann demgemäß als Benachteiligung iSv Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in Betracht kommen,
"wenn die Sonderschulüberweisung erfolgt, obgleich der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte" (BVerfGE 96, 307 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]).
Ob eine derartige Benachteiligung und Zurückstellung der zuvor genannten Rechte vorliegt, hängt davon ab, ob eine Gesamtbetrachtung im Einzelfall stattgefunden hat, bei der
"Art und Schwere der jeweiligen Behinderung ebenso zu berücksichtigen sind wie Vor- und Nachteile einerseits einer integrativen Erziehung und Unterrichtung an einer Regelschule und andererseits einer Beschulung in einer Sonder- und Förderschule. Dabei sind, soweit es um die Bewertung einer integrativen Beschulung geht, in den Gesamtvergleich nicht nur die dem behinderten Kind oder Jugendlichen damit eröffneten Chancen für seine Ausbildung und sein späteres Erwachsenenleben einzustellen, sondern auch die mit einer solchen Maßnahme möglicherweise verbundenen Belastungen zu würdigen" (BVerfGE 96, 307 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]).
Großes Gewicht haben bei dieser Gesamtbetrachtung auch die Vorstellungen der Eltern und der Kinder und Jugendlichen darüber, an welcher Schule die Erziehung und Unterrichtung begonnen und fortgesetzt werden soll, so daß eine "eingehende Prüfung des Elternwunsches und eine Auseinandersetzung mit dem in ihm zum Ausdruck gebrachten elterlichen Erziehungsplan" erforderlich sind (BVerfGE 96, 308 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]).
Hier ist bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage davon auszugehen, daß eine den rechtlichen Erfordernissen genügende Gesamtbetrachtung stattgefunden hat, die auch dem Elternwunsch nach einer integrativen Beschulung Rechnung trägt. Zwar hat die Abschlußbesprechung über das Beratungsgutachten am 24. April 1998 (12.30 Uhr) nicht stattfinden können, weil die Antragsteller nicht erschienen waren, aber diesen ist auf diese Weise immerhin doch Gelegenheit gegeben worden, ihre Vorstellungen vortragen und einbringen zu können; wenn sie diese Gelegenheit nicht genutzt haben, so geht das zu ihren Lasten und damit zu einer Minderung der Anforderungen, die im Regelfall für eine Einbeziehung der elterlichen Vorstellungen in die Gesamtbetrachtung (s.o.) gelten. Da im übrigen eine umfassende Auseinandersetzung mit den Lernschwächen des Sohnes der Antragsteller stattgefunden hat, bei der Gesamtbetrachtung auch die Sprachtherapie während des Aufenthaltes im Schulkindergarten und in der 1. Klasse sowie die Fördermaßnahmen in den Fächern Deutsch und Mathematik unter Berücksichtigung der Hausaufgabenhilfe einbezogen worden ist, kann seitens der Antragsteller kaum noch etwas gegen die verfügte Überweisung vorgebracht werden. Vor allem ist seitens der Antragsgegnerin auch angesprochen worden, daß dem erkannten Förderbedarf nicht mehr an der Grund- und Hauptschule Heese-Süd Celle - ggf. unter Heranziehung einer sonderpädagogischen Lehrkraft - Rechnung getragen werden kann (S. 4 des Widerspruchsbescheides), so daß eine integrative Beschulung des Sohnes der Antragsteller ausscheiden dürfte.
Hinsichtlich des Sofortvollzuges der verfügten Überweisung fehlt es nicht an dem besonderen, über das öffentliche Interesse an der Überweisung selbst noch hinausgehenden Vollzugsinteresse, weil Yilmaz aufgrund der bei ihm festgestellten Rückstände (Grob- und Feinmotorik, Kenntnisstand, Leistungsvermögen, Lerntempo usw.) unter Berücksichtigung der schulischen Möglichkeiten jetzt nur noch an einer Schule für Lernhilfe angemessen gefördert werden kann. Damit liegt es im persönlichen Interesse von Yilmaz und zugleich auch im öffentlichen Interesse, möglichst bald zu einer sonderpädagogischen Förderung zu gelangen, die dem erkannten Förderbedarf Rechnung tragen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.