Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 23.10.1998, Az.: 4 B 79/98
Eingliederungshilfe für Wohnheimbetreuung und für Betreuung in einer Werkstatt für Behinderte; Versagung einer Eingliederungshilfe bis zur Klärung des individuellen Hilfebedarfs durch amtsärztliches Gutachten oder fachliche Stellungnahmen ; Ermöglichung der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft als Schutzzweck der Eingliederungshilfe; Ungeeignetheit arbeitsfördernder und berufsfördernder Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung als Voraussetzung der Hilfe zur Beschäftigung in einer anerkannten Werkstatt für Behinderte; Beachtlichkeit von Altersgrenzen bei der Gewährung von Eingliederungshilfe; Wegfall des Eingliederungshilfebedarfs
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 23.10.1998
- Aktenzeichen
- 4 B 79/98
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1998, 11332
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:1998:1023.4B79.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG
- § 41 Abs. 1 BSHG
Verfahrensgegenstand
Eingliederungshilfe,
Prozessführer
die Frau ...
vertr.d.d. Betreuerin ...
Prozessgegner
Landkreis ...
In dem Verwaltungsrechtssache
hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Lüneburg
am 23. Oktober 1998 beschlossen:
Tenor:
- 1.
Der Antragsgegner wird durch einstweilige Anordnung verpflichtet, die Kosten der Betreuung der Antragstellerin in der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe in ... ab dem 25. August 1998 vorläufig, bis zur Feststellung des konkreten Bedarfs der Antragstellerin hinsichtlich der Fortführung des Besuchs der Werkstatt für Behinderte durch Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens oder anderer ärztlicher oder sonstiger fachlicher Stellungnahmen, längstens bis zur Entscheidung im Klageverfahren 4 A 142/98 zu tragen.
In diesem Umfange wird der Antragstellerin Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ..., bewilligt.
Im übrigen wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen und der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe abgelehnt.
Die Antragstellerin und der Antragsgegner tragen jeweils die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
- 2.
Der Gegenstandswert wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.
Gründe
Die am 23. Juni 1938 geborene Antragstellerin begehrt, den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihr auch nach Vollendung des 60. Lebensjahres und über den 31. Juli 1998 hinaus Eingliederungshilfe für die Wohnheimbetreuung und für die Betreuung in der Werkstatt für Behinderte zu gewähren.
Der Antrag hat in dem aus den Tenor ersichtlichen Umfange Erfolg.
Soweit die Antragstellerin die Gewährung von Eingliederungshilfe für die Wohnheimbetreuung begehrt, fehlt es an der für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung erforderlichen besonderen Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund). Der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin hat in seinem Schriftsatz vom 24. August 1998 mitgeteilt, daß "im Wege der Hilfe zur Pflege eine Kostenübernahme für das Wohnheim gegeben" sei. Zwar mag die Antragstellerin möglicherweise ein Rechtsschutzinteresse haben hinsichtlich einer Verpflichtung des Antragsgegners im parallelen Klageverfahren (4 A 142/98), die Kosten für die Wohnbetreuung im Rahmen der Eingliederungshilfe und nicht im Rahmen der Hilfe zur Pflege zu tragen, doch ist die Entscheidung dieser Frage nicht eilbedürftig und muß deshalb der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Auch hat der Antrag keinen Erfolg, soweit die Antragstellerin begehrt, die Kosten ihrer Betreuung in der Werkstatt für Behinderte ab dem 1. August 1998, also bereits vor der Antragstellung bei Gericht am 25. August 1998, zu tragen, da es insoweit nicht um den gegenwärtigen dringenden Bedarf der Antragstellerin geht und daher ebenfalls die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung zu verneinen ist.
Die Antragstellerin hat jedoch einen Anspruch auf Übernahme der Kosten ihrer Betreuung in der Werkstatt für Behinderte für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht, bis ihr individueller Hilfebedarf durch ein amtsärztliches Gutachten oder andere fachliche Stellungnahmen geklärt ist.
Die Antragstellerin gehört aufgrund einer erheblichen geistigen Behinderung zu dem Personenkreis, dem nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Nach Abs. 3 des § 39 BSHG ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Nach § 41 Abs. 1 BSHG wird Behinderten, bei denen wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in Betracht kommen, die aber die Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte erfüllen, Hilfe zur Beschäftigung in einer anerkannten Werkstatt für Behinderte gewährt. Der Anspruch nach dieser Vorschrift setzt lediglich voraus, das arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in Betracht kommen und der Behinderte "werkstattfähig" ist (Schellhorn, BSHG, Kommentar, 15. Auflage 1997, § 41 Rdnr. 7). Beide Voraussetzungen sind nach den von dem Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin vorgelegten Entwicklungsberichten des Hauses der Lebenshilfe in ... gegeben.
Eine abstrakt bestimmte Altersgrenze ist weder für die Hilfe nach § 41 BSHG noch für die Eingliederungshilfe im allgemeinen vorgesehen. Eine Altersgrenze für die Hilfe nach § 41 BSHG läßt sich auch nicht aus einem Vergleich der Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte mit einer "normalen" Erwerbstätigkeit herleiten. Die Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte ist gerade für die Behinderten vorgesehen, die nicht für arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommen, und tritt damit an die Stelle von arbeits- und berufsfördernden Maßnahmen im Rahmen der Eingliederungshilfe. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Hilfe nach § 41 BSHG damit das "Schicksal" einer normalen Erwerbstätigkeit auch hinsichtlich des Erreichens der Altersgrenze nach den §§ 35 ff. SGB VI teilt, da die Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte nicht auf die Erzielung wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen ausgerichtet ist, sondern bei ihr der Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten für eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, die Verbesserung der allgemeinen "Lebenstüchtigkeit" des Behinderten sowie die Betreuung im Vordergrund stehen (LPK-BSHG, 4. Auflage 1994, § 40 Rdnr. 40 und Rdnr. 35). Die Hilfe nach § 41 BSHG dient demnach ebenso wie die Eingliederungshilfe im allgemeinen dazu, dem Behinderten, soweit es seine Behinderung erlaubt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dieser Zweck der Eingliederungshilfe endet jedoch nicht mit dem Erreichen einer bestimmten Altersgrenze.
Die Eingliederungshilfe nach § 41 BSHG ist auch deshalb nicht mit einer Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis vergleichbar, weil ein gesunder Erwerbstätiger sich nach seinem Eintritt in den Ruhestand eine andererweitige Beschäftigung und andere Aufgaben suchen kann, dies jedoch bei einem Behinderten nicht in gleicher Weise der Fall ist. Er bedarf der Unterstützung ohne Rücksicht auf sein Alter.
Demnach darf die Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte nicht "automatisch" mit dem Erreichen einer bestimmten Altersgrenze eingestellt werden (so auch LPK-BSHG, a.a.O., § 40 Rdnr. 43). Es ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob der Bedarf für die Hilfe zur Beschäftigung in der Werkstatt für Behinderte noch besteht. Ferner ist zu prüfen, ob gegebenenfalls alternative Betreuungsformen in Betracht kommen. Diese individuelle Prüfung hat der Antragsgegner bislang nicht vorgenommen. Er hat die Einstellung der Hilfe in dem im Klageverfahren angefochtenen Bescheid vom 13. Juli 1998 und in dem Widerspruchsbescheid vom 11. August 1998 ebenso wie in seiner Antragserwiderung lediglich damit begründet, dass die Antragstellerin das sechzigste Lebensjahr vollendet habe und es ein normaler Vorgang sei, dass Behinderte mit einer entsprechenden Minderung der Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsprozess ausschieden. Der Antragsgegner hat jedoch bislang nicht geprüft, ob im konkreten Falle der Antragstellerin der Eingliederungshilfebedarf weggefallen ist. Hierzu liegen auch sonst keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. In dem Entwicklungsbericht des Hauses der Lebenshilfe Uelzen vom 14. März 1996 ist lediglich festgestellt worden, dass ein altersbedingter Leistungsabfall bei der Antragstellerin zu beobachten sei. Dies reicht jedoch nicht für die Annahme, dass die Antragstellerin nicht mehr der Hilfe zum Besuch der Werkstatt für Behinderte bedarf.
Der Antragsgegner ist daher verpflichtet, den Hilfebedarf der Antragstellerin in der im Tenor gekennzeichneten Weise konkret zu prüfen und bis zur Vorlage des Ergebnisses dieser Prüfung die Kosten des Werkstattbesuchs vorläufig weiter zu tragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 und 188 Satz 2 VwGO.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe ist mangels Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO) abzulehnen gewesen, soweit der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach den obigen Ausführungen keinen Erfolg gehabt hat.
Streitwertbeschluss:
Der Gegenstandswert wird auf 8.000,00 DM festgesetzt.