Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 16.04.2015, Az.: 1 U 81/14

Haftung des Lkw-Fahrers für die Folgen eines Unfalls bei der Anlieferung von Schweinen bei einem Landwirt; Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte i.S. von § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
16.04.2015
Aktenzeichen
1 U 81/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 23262
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2015:0416.1U81.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 17.07.2014

Fundstellen

  • AUR 2015, 346-347
  • AuUR 2015, 346-347
  • NZG 2015, 5-6
  • VRS 129, 1 - 4
  • r+s 2015, 576-578
  • zfs 2016, 82-84

Amtlicher Leitsatz

Arbeiten bei der Anlieferung von Tieren (hier: Schweinen) der Lkw-Fahrer und der Landwirt dergestalt Hand-in-Hand zusammen, dass der Fahrer die Rampe des Lkw herablässt und der Landwirt die Stalltür öffnet, dann liegt eine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 SGB VII vor, was eine Haftung des Lkw-Fahrers für einen Unfall bei der Anlieferung ausschließt.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 17.07.2014 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Feststellung der Haftung der Beklagten aufgrund eines Unfalls bei der Anlieferung von Schweinen.

Der Kläger ist Landwirt; für sein Unternehmen ist die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft als Unfallversicherer zuständig. Am 24.07.2013 sollte die Firma ... GmbH & Co. KG dem Kläger Schweine anliefern. Dazu fuhr der Beklagte zu 1), der bei der Firma ... GmbH & Co. KG beschäftigt ist, mit einem Lkw, für den bei dem Beklagten zu 2) die Haftpflichtversicherung nach § 1 PflVG besteht, auf das Betriebsgelände des Klägers.

Der Beklagte zu 1) fuhr den Lkw rückwärts mit heruntergelassener Ladeklappe an den Schweinestall des Klägers heran. Die Stalltür, durch welche die Schweine in den Stall gelangen sollten, ist nur von innen zu öffnen. Der Kläger öffnete die Stalltür leicht (ungefähr bis zu einem Winkel von 45 bis 50 Grad). Durch die Ladeklappe des rückwärtsfahrenden Lkw wurde die Stalltür wieder zugedrückt, wobei die Einzelheiten des Geschehensablaufs streitig sind. Der linke Oberarm des Klägers wurde zwischen Tür und Türrahmen eingequetscht. Der Kläger ist seit dem Unfall arbeitsunfähig krankgeschrieben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat in seinem am 17.07.2014 verkündeten Urteil festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet seien, die materiellen und immateriellen Ansprüche des Klägers aus dem Unfallereignis vom 24.07.2013 zu 75 % zu tragen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass keine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 SGB VII vorliege, so dass die Haftung der Beklagten nicht ausgeschlossen sei. Die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ergebe ein Mitverschulden des Klägers in Höhe von 25 %.

Dagegen richten sich die Berufungen des Klägers und der Beklagten.

Die Beklagten sind der Ansicht, ihre Haftung sei ausgeschlossen, da eine gemeinsame Betriebsstätte vorliege. Im Übrigen sei, da der Kläger sich erheblich selbst gefährdet habe, ein Mitverschulden in Höhe von 50 % anzunehmen.

Die Beklagten beantragen,

das am 17.07.2014 verkündete Urteil des Landgerichts Osnabrück abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil insoweit, als dass keine gemeinsame Betriebsstätte vorliege. Außerdem macht er geltend, dass ihn kein Mitverschulden treffe, zumal der Beklagte zu 1) gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen habe.

Er beantragt, das am 17.07.2014 verkündete Urteil des Landgerichts Osnabrück abzuändern und festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, die materiellen und immateriellen Ansprüche des Klägers aus dem Verkehrsunfallereignis vom 24.07.2013 in vollem Umfang zu ersetzen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

II.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet und führt zur vollständigen Abweisung der Klage. Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.

1. Berufung der Beklagten

a) Der Kläger hat gegen den Beklagten zu 1) keinen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Zwar liegen die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 StVG vor, da der Kläger bei dem Betrieb des vom Beklagten zu 1) gefahrenen Lkw verletzt worden ist. Zudem liegen die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB vor, da der Beklagte zu 1) durch das Rückwärtsfahren den Körper des Klägers fahrlässig (§ 9 Abs. 5 StVO) verletzt hat. Aber die Haftung des Beklagten zu 1) ist - hinsichtlich aller Anspruchsgrundlagen (vgl. BGH, Urt. v. 18.12.2007 - VI ZR 235/06, MDR 2008, 384 [BGH 18.12.2007 - VI ZR 235/06]) - nach den §§ 105 Abs. 1 Satz 1, 106 Abs. 3 SGB VII ausgeschlossen.

aa) Die §§ 105 Abs. 1 Satz 1, 106 Abs. 3 SGB VII sind anwendbar, da sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1) kraft Gesetzes unfallversichert sind. Der Kläger ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a) SGB VII unfallversichert, da er Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens ist, und für sein Unternehmen die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft zuständig ist, was sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 01.08.2014 (Blatt 116 der Akte) ersehen lässt. Der Beklagte zu 1) ist als Beschäftigter der Firma ... GmbH & Co. KG unfallversichert nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII.

bb) Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, diesen zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem versicherten Weg herbeigeführt haben. Vorsatz oder ein Wegeunfall liegen hier nicht vor. Zwar sind der Kläger und der Beklagte zu 1) nicht Versicherte desselben Betriebs. Aber nach § 106 Abs. 3 SGB VII gilt, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten, § 105 SGB VII auch für die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger und der Beklagte zu 1) haben vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet.

Als betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte werden Aktivitäten erfasst, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Gemeint ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken (BGH, Urt. v. 17.10.2000 - VI ZR 67/00, NJW 2001, 443). Eine "gemeinsame" Betriebsstätte setzt mehr voraus als "dieselbe" Betriebsstätte (BGH, Urt. v. 23.01.2001 - VI ZR 70/00, NJW-RR 2001, 741). Bei einem Unfall zwischen einem Geschädigten, der von einem Lkw Ware entladen will, und einem Schädiger, der mit einem anderen Lkw zum Anliefern von anderen Waren kommt, oder bei einem Unfall zwischen einem Geschädigten, der als Käufer Ware abholen will, und einem Schädiger, der die Ware aus dem Lager holen und im Bereich der Ladezone ungefähr zwei Meter vom Transporter des Geschädigten entfernt bereitstellen will, liegt nur dieselbe Betriebsstätte vor (vgl. BGH, Urt. v. 23.01.2001 - VI ZR 70/00, NJW-RR 2001, 741; Urt. v. 10.05.2011 - VI ZR 152/10, NJW 2011, 3298). Hingegen ist eine gemeinsame Betriebsstätte bei einem Unfall zwischen einem Geschädigten, der seinen Lkw beladen lässt, und einem Schädiger, der mit seinem Gabelstapler den Lkw belädt, oder bei einem Unfall zwischen einem Geschädigten, der beim Abladen eines Lkw hilft, und dem Lkw-Fahrer als Schädiger gegeben (vgl. BGH, Urt. v. 17.06.2008 - VI ZR 257/06, NJW 2008, 2916; Thüringer OLG, Urt. v. 30.10.2012 - 5 U 573/11, Recht und Schaden 2013, 150).

Insgesamt handelt es sich nach der hier verrichteten Tätigkeit des Abladens der Schweine vom Lkw in den Stall nicht nur um dieselbe Betriebsstätte, sondern um eine "gemeinsame" im Sinne des § 106 Abs. 3 SGB VII. Denn dieser Arbeitsvorgang konnte nur durch ein erfolgreiches Ineinandergreifen mehrerer Arbeitsschritte von beiden Seiten funktionieren. Die Tätigkeiten des Klägers und des Beklagten zu 1) haben sich nicht nur beziehungslos nebeneinander vollzogen, sondern waren bewusst aufeinander abgestimmt und sollten ineinandergreifen. Der Kläger und der Beklagte zu 1) konnten sich "in die Quere kommen". Der Beklagte zu 1) musste den Lkw rückwärts an den Schweinestall des Klägers heranfahren. Der Beklagte zu 1) musste auch die Ladeklappe herunterlassen. Der Kläger musste die Stalltür von innen öffnen. Anders war der Weg für die abzuladenden Schweine nicht gewährleistet. Die Tätigkeit des Einen war ohne die Tätigkeit des Anderen nicht vorstellbar. Es wäre sinnlos gewesen, wenn der Beklagte zu 1) den Lkw vor die geschlossene Stalltür gefahren hätte. Genauso sinnlos wäre gewesen, wenn der Kläger die Stalltür geöffnet hätte, ohne dass der Beklagte zu 1) den Lkw herangefahren hätte. Es liegt also gerade ein bewusstes und gewolltes Zusammenwirken vor, durch das die Schweine vom Lkw in den Stall gelangen sollten.

Auch der versicherte Unternehmer selbst, also der Kläger, muss sich, wenn er sich in einer solchen Situation in der Geschädigtenrolle befindet, er also durch den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt wird, die sich aus § 106 Abs. 3 SGB VII für den Schädiger ergebende Haftungsfreistellung entgegenhalten lassen (vgl. BGH, Urt. v. 17.06.2008 - VI ZR 257/06, NJW 2008, 2916 [BGH 17.06.2008 - VI ZR 257/06]). Dies folgt aus dem Gesichtspunkt der Gefahrengemeinschaft, welche die Rechtfertigung für den Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 SGB VII bildet (BGH, aaO.).

b) Der Kläger hat auch gegen den Beklagten zu 2) als Haftpflichtversicherer keinen Anspruch. Zwar liegen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG für einen etwaigen Anspruch des Klägers gegen die Firma ... GmbH & Co. KG als Halterin des Lkw vor. Diesen Anspruch könnte der Kläger grundsätzlich nach § 115 VVG gegen den Beklagten zu 2) geltend machen. Die Haftung der Firma ... GmbH & Co. KG ist auch nicht nach § 106 Abs. 3 SGB VII ausgeschlossen, da die Firma ... GmbH & Co. KG (in der Person des Unternehmers) keine betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet hat.

Aber der etwaige Anspruch gegen die Firma ... GmbH & Co. KG ist nach den Regeln des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs ausgeschlossen: Der Geschädigte kann einen außerhalb des Sozialversicherungsverhältnisses stehenden Zweitschädiger insoweit nicht auf Schadensersatz in Anspruch nehmen, als der für den Unfall mitverantwortliche Unternehmer ohne seine Haftungsfreistellung im Verhältnis zu dem Zweitschädiger (§§ 426, 254 BGB) für den Schaden aufkommen müsste (BGH, Urt. v. 12.06.1973 - VI ZR 163/71, NJW 1973, 1648 [BGH 12.06.1973 - VI ZR 163/71]). In den Fällen, in denen zwischen mehreren Schädigern ein Gesamtschuldverhältnis besteht, können Ansprüche des Geschädigten gegen einen Gesamtschuldner (Zweitschädiger) auf den Betrag beschränkt sein, der auf diesen im Innenverhältnis zu dem anderen Gesamtschuldner (Erstschädiger) endgültig entfiele, wenn die Schadensverteilung nach § 426 BGB nicht durch eine sozialversicherungsrechtliche Haftungsprivilegierung des Erstschädigers gestört wäre (BGH, Urt. v. 13.03.2007 - VI ZR 178/05, NJW-RR 2007, 1027).

Diese Voraussetzungen liegen vor und führen dazu, dass der Kläger gegen die Firma ... GmbH & Co. KG keinen Anspruch geltend machen kann. Denn im Innenverhältnis zwischen dem Beklagten zu 1) und der Firma ... GmbH & Co. KG würde der Beklagte zu 1) allein haften. Denn ist neben demjenigen, welcher aus Gefährdungshaftung zum Ersatz des von einem anderen verursachten Schadens verpflichtet ist, der andere wegen erwiesenen Verschuldens für den Schaden verantwortlich, so ist in ihrem Verhältnis zueinander nach § 840 Abs. 2 BGB der andere allein verpflichtet (vgl. BGH, Urt. v. 18.12.2007 - VI ZR 235/06, MDR 2008, 384 [BGH 18.12.2007 - VI ZR 235/06]). Insoweit ist "ein anderes bestimmt" im Sinne des § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB, denn in den Fällen, in denen auf der einen Seite nur eine Gefährdungshaftung oder eine Haftung aus vermutetem Verschulden, auf der anderen Seite jedoch erwiesenes Verschulden vorliegt, soll im Innenverhältnis derjenige den ganzen Schaden tragen, der nachweislich schuldhaft gehandelt hat (BGH, Urt. v. 11.11.2003 - VI ZR 13/03, NJW 2004, 951).

Der Beklagte zu 1) hat dadurch, dass er rückwärts gefahren ist, ohne auf den Kläger zu achten, fahrlässig gehandelt (§ 9 Abs. 5 StVO). Hingegen hat die Firma ... GmbH & Co. KG nur die Betriebsgefahr zu tragen und allenfalls nach § 831 Abs. 1 BGB für ein vermutetes Verschulden bei der Auswahl und Überwachung einzustehen, so dass im Innenverhältnis auf die Firma ... GmbH & Co. KG kein Schadensanteil entfiele. Wegen des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs kann also der Kläger gegen die Firma ... GmbH & Co. KG keinen Anspruch geltend machen.

Daraus folgt für den Beklagten zu 2) als Haftpflichtversicherer, dass auch er nicht haftet (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.11.2014 - 1 U 205/13, Verkehrsrechtliche Mitteilungen 2015, Nr. 8). Denn weder der Beklagte zu 1) noch die Firma ... GmbH & Co. KG schulden dem Kläger Schadensersatz und Schmerzensgeld.

2. Berufung des Klägers

Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Denn er hat aus den dargelegten Gründen weder gegen den Beklagten zu 1) noch gegen den Beklagten zu 2) Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Senat hat das Rechtsmittel der Revision nicht zugelassen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO hier nicht vorliegen.