Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.02.2024, Az.: 12 WF 15/24
Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für ein Ehescheidungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 20.02.2024
- Aktenzeichen
- 12 WF 15/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 10967
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2024:0220.12WF15.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Neustadt a. Rbge - 18.12.2023 - AZ: 38 F 159/23
Rechtsgrundlage
- § 114 ZPO
Fundstellen
- FamRZ 2024, 957
- MDR 2024, 671-672
- NJW-RR 2024, 560-561
- NZFam 2024, 522
Amtlicher Leitsatz
Es ist nicht mutwillig i. S. v. § 114 ZPO, wenn ein Ausländer vor einem nach Art. 3 Brüssel IIb-VO zuständigen Gericht ein Scheidungsverfahren betreibt, bei dem das Gericht aufwändig ausländisches Recht ermitteln muss.
In der Familiensache
pp.
hat der 12. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht F., den Richter am
Oberlandesgericht S. und den Richter am Oberlandesgericht W. am 20. Februar 2024 beschlossen:
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Neustadt a. Rbge. vom 18. Dezember 2023 aufgehoben und das Verfahren wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats an das Amtsgericht - Familiengericht - Neustadt a. Rbge. zurückverwiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für ein Ehescheidungsverfahren.
Die Beteiligten haben am ... 2010 vor dem Standesamt in K. in Polen die Ehe geschlossen. Beide Beteiligte sind polnische Staatsangehörige. Aus der Ehe sind zwei im März 2009 und im September 2013 geborene Kinder hervorgegangen, die in Polen bei ihrer Mutter leben. Der letzte gemeinsame Aufenthaltsort der Ehegatten befand sich in Polen.
Der Antragsteller lebt seit ca. 2012 dauerhaft in Deutschland.
Das Familiengericht hat mit der angefochtenen Entscheidung den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zurückgewiesen. Die von dem Antragsteller beabsichtigte Rechtsverfolgung sei mutwillig im Sinne von § 113 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO. Zwar sei das angerufene Familiengericht für das Ehescheidungsverfahren zuständig. Da im vorliegenden Fall auf die Scheidung polnisches Recht anzuwenden sei, müsse das Gericht - mangels Kenntnis des einschlägigen polnischen Scheidungsrechtes - ein voraussichtlich erhebliche Kosten verursachendes Gutachten zum Inhalt des polnischen Scheidungsrechts einholen. Ein verständiger Beteiligter, der die anteiligen Gerichtskosten aus eigener Tasche zu zahlen hätte, würde dieses Scheidungsverfahren nicht in Deutschland anhängig machen. Der Antragsteller sei darauf zu verweisen, das Verfahren auf Ehescheidung in Polen zu betreiben.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers, mit der er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung seines Rechtsanwaltes erstrebt. Für den Antragsteller wäre das Betreiben eines Ehescheidungsverfahrens in Polen aufgrund der weiten Entfernung und den damit verbundenen hohen Reisekosten jedenfalls keine günstigere Alternative. Zudem sei es nicht ausgeschlossen, dass die Antragsgegnerin dem Scheidungsbegehren zustimmt und die Einholung eines kostenträchtigen Gutachtens nicht erforderlich wird.
Das Familiengericht hat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen und die Akten dem Oberlandesgericht vorgelegt. Ergänzend ist mitgeteilt worden, dass voraussichtlich die beiden Kinder durch das deutsche Gericht werden angehört werden müssen.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung hat der Einzelrichter das Verfahren auf den Senat übertragen.
II.
Auf die zulässige sofortige Beschwerde des Antragstellers ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Verfahren an das Familiengericht zurückzuverweisen. Die begehrte Verfahrenskostenhilfe kann nicht mit der Erwägung, im vorliegenden Fall sei die beabsichtigte Rechtsverfolgung mutwillig, zurückgewiesen werden.
Gem. Art. 3 a) v) Brüssel IIb-VO sind die Familiengerichte in Deutschland für die Ehescheidung zuständig, weil der Antragsteller sich seit mindestens einem Jahr vor der Antragstellung in Deutschland aufgehalten hat. Die Ehescheidung beurteilt sich gem. Art. 8 c) Rom III-VO nach polnischem Recht, weil beide Ehegatten die polnische Staatsangehörigkeit haben und diese im Jahr vor der Antragstellung keinen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten.
Der Senat ist mit dem OLG Karlsruhe (5 WF 122/10 = FamRZ 2010, 2095) der Auffassung, dass der Antragsteller einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes in bürgerlich-rechtlichen Rechtsstreitigkeiten hat. Dieser Justizgewährungsanspruch resultiert aus dem Rechtsstaatsprinzip in Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG (BVerfGE 85, 337, 345; 88, 118, 123; 108, 341, 347). Danach darf der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 81, 123, 129 [BVerfG 29.11.1989 - 1 BvR 1011/88]).
Der Justizgewährungsanspruch ist auch bei der Gestaltung der Verfahrenskostenhilfe, die der Situation einer unbemittelten Person weitgehend der Situation eines bemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes angleichen soll (BVerfGE 67, 245, 248), zu beachten. Dabei kann die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe davon abhängig gemacht werden, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (BVerfG FamRZ 2010, 793). Der Begriff der Mutwilligkeit muss aber unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlich geschützten Justizgewährungsanspruchs bestimmt werden. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, den Antragsteller zu verpflichten, im Rahmen der Justizgewährung den kostengünstigsten oder einfachsten Weg zu wählen, wenn auf diese Weise das erstrebte Rechtsschutzziel gleichwertig erreicht werden kann (Zöller/Schultzky ZPO35 § 114 Rn 47). Durch eine solche Verweisung wird die Justizgewährung als solche nicht beeinträchtigt. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Hier wird der Gesichtspunkt der Kostengünstigkeit dazu verwendet, den Antragsteller auf eine Prozessführung im Ausland zu verweisen. In diesem Fall wird nicht die Justizgewährung im Einzelfall gestaltet, sondern insgesamt verweigert.
Soweit in Einzelfällen Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, weil nach Auffassung des erkennenden Gerichts die Prozessführung im Ausland kostengünstiger oder unter erleichterten Bedingungen durchgeführt werden konnte (OLG Frankfurt FamRZ 1991, 94; OLG Celle NdsRpfl 1998, 90; OLG Hamm FamRZ 2011, 1533), lassen sich diese Erwägungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Insoweit ist von Bedeutung, dass der Antragsteller seit über zehn Jahren seinen Wohnsitz in Deutschland hat. Der europäische Gesetzgeber hat in Art. 3 Brüssel IIB-VO mehrere Gerichtsstände zur Auswahl gestellt, die gleichrangig nebeneinanderstehen (Winter, Internationales Familienrecht bei Fällen mit Auslandsbezug, 2023, Rn 74). Von dem insoweit anwendbaren Recht kann aber im Rahmen des Justizgewährungsanspruchs nicht abhängig gemacht werden, ob Verfahrenskostenhilfe gewährt wird oder nicht. Es handelt sich nicht um Gesichtspunkte, die eine unterschiedliche Gewährung von Verfahrenskostenhilfe und damit eine Ungleichbehandlung von Antragstellern, die die übrigen Voraussetzungen der Verfahrenskostenhilfe erfüllen, rechtfertigen. Die Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte führt zu einer Verletzung von Art. 3 GG und dem dadurch geschützten Recht auf unterschiedslose und absolute gleichwertige Gewährung von Rechtsschutz. Zudem läge hier drin auch zu Lasten von EU-Bürgern ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG-Vertrag, der auch verdeckte, an Kriterien wie Wohnsitz und ähnliche anknüpfende Ungleichbehandlungen verbietet.
Ergänzend kommt hinzu, dass das Familiengericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob für den Antragsteller eine Rechtsverfolgung vor einem polnischen Gericht tatsächlich günstiger wäre und er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wirtschaftlich in der Lage wäre, von Deutschland aus das Verfahren in Polen zu betreiben.
Die Sache ist allerdings noch nicht entscheidungsreif. Das Familiengericht hat es - aus seiner Sicht folgerichtig - unterlassen, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers zu prüfen. Darüber hinaus ist der Antragsgegnerin bislang kein rechtliches Gehör gewährt worden, § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Aufhebung und Zurückverweisung gibt dem Familiengericht die Gelegenheit, die erforderlichen Schritte nachzuholen.
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
- Der Antragsteller wird die von ihm eingereichte Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (JV 205) zu unterschreiben haben. Bei der von ihm eingereichten Erklärung fehlt die Unterschrift.
- Der Antragsteller wird zu erläutern haben, welche Bewandtnis es sich mit dem im November 2023 aufgenommenen Darlehen bei der D. hat. Soweit die Darlehensvaluta - wie im Darlehensvertrag vermerkt - zur Ablösung anderer, fälliger Kredite verwandt worden ist, dürfte dies bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu akzeptieren sein. Auffällig ist jedoch, dass in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse handschriftlich das Darlehen eingetragen worden ist und den Vermerk trägt "zur freien Verfügung und Scheidung".
- Der Antragsteller wird das Verfahren beschleunigen können, indem er unmittelbar Kontakt mit der Antragsgegnerin aufnimmt, diese über das Verfahren informiert und sie dazu anhält, Anfragen des deutschen Gerichts unverzüglich zu beantworten. Auch eine vorherige Verständigung über Scheidungsfolgen könnte das Verfahren beschleunigen.
- Das Familiengericht wird in eigener Verantwortung zu prüfen haben, auf welche Weise es das anzuwendende polnische Scheidungsrecht ermittelt (BGH NJW 1992, 2026 [BGH 30.04.1992 - IX ZR 233/90]). In Betracht kommen verschiedene Erkenntnisquellen:
o Es kann deutschsprachige Literatur über das polnische Recht (die zum Beispiel in der Bibliothek des Oberlandesgerichts angefordert werden kann) ausgewertet werden.
o Andere Erkenntnisquellen (z. B. FTCAM) können genutzt werden.
o In Betracht zu ziehen sein wird eine Anfrage aufgrund des Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht (Londoner Übereinkommen) (vgl. MüKomm/ZPO6 Prütting § 293 Rn 33 ff).
o Die Einholung eines Gutachtens zur Klärung konkreter Rechtsfragen.