Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 23.04.2009, Az.: 5 A 316/08

Ehemann; EU-Bürger; Familienangehöriger; Familienvater; Freizügigkeit; Niederlassungsfreiheit; PKH; Prozesskostenhilfe; Unionsbürger

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
23.04.2009
Aktenzeichen
5 A 316/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 50537
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Gemäß §§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur z.T. oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

2

Grundsätzlich darf der Aufenthalt eines EU-Unionsbürgers im Bundesgebiet nach § 6 FreizügG/EU nur in eng begrenzten Ausnahmefällen untersagt werden. Nach Art. 39 EGV genießen alle EU-Bürger Freizügigkeit. Diese Niederlassungsfreiheit kann nach Art. 39 Abs. 3 EGV nur aus überwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden. Die Ausländerbehörden und Gerichte haben bei jeder Beschränkung der Freizügigkeit die hohe Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen. § 6 FreizügG/EU setzt insoweit Art. 27 Abs. 1 und 2, Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG (vom 29.4.2004, Amtsblatt der EU L 158/77) um, die ihrerseits Art. 39 Abs. 3 EGV konkretisiert.

3

Vorliegend folgen hinreichende Erfolgsaussichten schon aus der Möglichkeit, dass der Kläger - entgegen der Annahme Seite vier des angefochtenen Bescheids - Familienangehöriger eines nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU Daueraufenthaltsberechtigten - seines am 19. März 2001 in Papenburg geborenen Sohnes C. - sein kann. Dass R. F. ein Daueraufenthaltsrecht zusteht, dürfte auch angesichts der Regelung des § 3 Abs. 4 FreizügG/EU unstreitig sein.

4

Auch ist der Kläger als sorgeberechtigter Vater seines minderjährigen Sohnes Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Hierfür spricht zunächst, dass bis zur Inhaftierung des Klägers - dokumentiert im gemeinsamen Wohnsitz - eine häusliche Gemeinschaft zwischen dem Vater, seinem Sohn und der Stiefmutter bestanden hat.

5

Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU in seinem Wortlaut ausdrücklich nur solche Verwandte in aufsteigender Linie als freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige nennt, denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt. Nach dem unmittelbaren Wortlaut der Norm wäre der Kläger damit allerdings nicht Familienangehöriger, da ihm sein minderjähriger Sohn keinen Unterhalt leistet.

6

Zwar entspricht die Definition des Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU einschließlich des Unterhaltserfordernisses den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38/EWG (vom 29.4.2004, Amtsblatt der EU L 158/77).

7

Nach Auffassung der Kammer folgt jedoch aus einer richtlinienkonformen Auslegung der Norm unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH, dass das Tatbestandsmerkmal der Unterhaltsgewährung nicht für minderjährige freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und deren sorgeberechtigte Verwandte in aufsteigender Linie, d.h. für deren sorgeberechtigte Elternteile, anzuwenden ist.

8

Die Pflicht eines Mitgliedstaats, alle zur Erreichung der durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziele erforderlichen Maßnahmen zu treffen, ist eine durch Art. 249 Abs. 3 EGV und durch jeweilige Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht (so zu Artikel 189 Abs. 3 EGV a.F. EuGH, Rs. C-72/95, [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-5403 Rn 55; EuGH, Urteil vom 1. Februar 1977, Rs. C-51/76 [Verbond van Nederlandse Ondernemingen gegen Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen], Slg. 1977, 113, [Rn. 22/29]; EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. C-152/84 [M. H. Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority], Slg. 1986, I-723 [Rn. 48]). Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten (EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135 [Rn. 8]). Gemeinschaftskonform auszulegen ist hierbei sowohl nationales Recht jeder Rangstufe, das in Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ergangen ist, als auch jede andere Rechtsvorschrift, soweit sie einen Bezug zu den in Frage stehenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts aufweist (EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135).

9

Da in Art. 3 Abs. 2 a der Richtlinie 2004/38/EWG bestimmt ist, dass auch der Aufenthalt solcher Personen begünstigt werden soll, die zwar nicht der engen Definition des Art. 2 Nr. 2 d der Richtlinie 2004/38/EWG unterfallen, die jedoch im Heimatstaat mit den freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, ist § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU richtlinienkonform einschränkend auszulegen mit der Folge, dass dem Tatbestandsmerkmal der Unterhaltsgewährung vorliegend keine eigenständige Bedeutung zukommt.

10

Dementsprechend hat der EuGH zu der inhaltlich gleich lautenden Vorgängerrichtlinie 90/364/EWG in denjenigen Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen Unterhalt erhielt (EuGH, Urteil vom 17. September 2002, Rs. C-413/99 [Baumbast und R gegen Secretary of State for the Home Department], Slg. 2002, I- 7091; EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004, Rs. C-200/02 [Kunqian Catherine Zhu und Man Lavette Chen gegen Secretary of State for the Home Department], Slg. 2004, I- 9925).

11

Da die Richtlinie 2004/38/EWG gegenüber Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 90/364/EWG, zu der die genannte Rechtsprechung des EuGH ergangen ist, keine schwächeren Rechtspositionen der Unionsbürger formuliert, ist in Anwendung der Rechtsprechung des EuGH im Wege der richtlinienkonformen Auslegung davon auszugehen, dass unter Durchbrechung der Voraussetzungen des Art. 1 der Richtlinie 90/364/EWG auch dem für das Kleinkind tatsächlich sorgenden Elternteil unmittelbar aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit ("effet utile") ein Aufenthaltsrecht zusteht. Im Urteil des EuGH vom 19. Oktober 2004 (a.a.O. RdNr. 45) wird hierzu ausgeführt: „Würde aber dem Elternteil mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats oder eines Drittstaats, der für ein Kind, dem Art. 18 EGV und die Richtlinie 90/364 ein Aufenthaltsrecht zuerkennen, tatsächlich sorgt, nicht erlaubt, sich mit diesem Kind im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, so würde dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen. Offenkundig setzt nämlich der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedsstaat zu wohnen.“

12

Eine richtlinienkonforme Auslegung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH führt mithin dazu, dass der Beklagte die Familienangehörigeneigenschaft des Klägers abweichend vom Wortlaut des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU annehmen muss, obwohl dem Kläger von seinem Sohn R. Unterhalt nicht gewährt wird.

13

Auf das Nichtbestehen einer Ehe des Klägers mit der Kindesmutter wird es daher entgegen der Ansicht des Beklagten in dem angefochtenen Bescheid nicht entscheidend ankommen.

14

Steht aber dem Kläger aller Voraussicht nach damit als Konsequenz auch ein Daueraufenthaltsrecht zu, so kommen die mit der Klage angegriffenen Feststellungen nach § 6 FreizügG/EU nur dann in Betracht, wenn "schwerwiegende Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegen. "Schwerwiegende Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU liegen indes nur dann vor, wenn die drohende Beeinträchtigung zu schweren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führt; die erhebliche Gefahr mindestens mittlerer oder schwerer Straftaten oder für die innere Sicherheit ist daher erforderlich, um schwerwiegende Gründe annehmen zu können (Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: 62. Lieferung Februar 2009, § 6 FreizügG/EU Rn. 55). Dies erscheint vorliegend zweifelhaft, sodass Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen war.