Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 24.01.2008, Az.: S 24 AS 900/07
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 24.01.2008
- Aktenzeichen
- S 24 AS 900/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 44866
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOSNAB:2008:0124.S24AS900.07.0A
Tenor:
- 1.
Der Bescheid des Beklagten vom 31. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 28. November 2007 wird abgeändert.
- 2.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger im Zeitraum 15. Oktober 2007 bis 17. Februar 2008 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von 126,96 EUR monatlich zu gewähren.
- 3.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
- 4.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen eine Kürzung der ihm gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) während eines vollstationären Klinikaufenthaltes. Der 1983 geborene Kläger hält sich seit dem 15. Oktober 2007 in der Fachklinik G. auf. Die H.I. bewilligte ihm die stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation für voraussichtlich 22 Wochen. Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 31. Oktober 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum 15. Oktober 2007 bis 17. Februar 2008. Dabei berücksichtigte der Beklagte die freie Verpflegung als Einkommen mit einem Betrag von 126,96 EUR monatlich. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2007 zurück. Hiergegen hat der Kläger am 06. Dezember 2007 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass eine Kürzung der Regelleistung unzulässig sei. Zudem handele es sich bei der freien Verpflegung nicht um Einkommen im Sinne des § 11 SGB II, da es an einem Marktwert fehle.
Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,
- 1.
den Bescheid des Beklagten vom 31. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 28. November 2007 abzuändern,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, ihm für den Zeitraum vom 15. Oktober 2007 bis 17. Februar 2008 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 126,96 EUR monatlich zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.
Er hält an seiner Auffassung fest. Für seine Ansicht spreche die Änderung der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (ALG II-V) zum 01. Januar 2008. Der Verordnungsgeber habe mit § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. klargestellt, wie freie Verpflegung zu berücksichtigen sei. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte diesen Rechtsstreit gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis erteilt haben. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 31. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 28. November 2007 ist insoweit rechtswidrig und beschwert den Kläger, als die freie Verpflegung während des vollstationären Aufenthaltes anspruchsmindernd berücksichtigt wird. Der Kläger hat Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ohne Berücksichtigung der ihm in der Fachklinik G. bereitgestellten Vollverpflegung. Diese mindert weder seinen Bedarf noch stellt sie ein nach § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen dar. Der Kläger ist leistungsberechtigt nach § 7 SGB II. Der 24-jährige Kläger ist erwerbsfähig und hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Er ist voraussichtlich für weniger als sechs Monate in der Fachklinik G. untergebracht, da die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zunächst nur für 22 Wochen bewilligt wurden (§ 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II; zur Einbeziehung von Rehabilitationseinrichtungen vgl. Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 7 Rn. 80). Der Kläger hat als allein stehender Hilfebedürftiger einen Anspruch auf eine Regelleistung in Höhe von monatlich 347 EUR (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Bei der bereitgestellten Vollverpflegung handelt es sich um einen von der Regelleistung nach dem SGB II umfassten Bedarf. Diese für den Kläger nicht mit Kosten verbundene Bedarfsdeckung kann nach der geltenden Rechtslage nicht anspruchsmindernd berücksichtigt werden. Denn die Regelleistungen nach dem SGB II sind als strikte Pauschalleistungen ausgestaltet. Ausnahmen hiervon sind nur in § 23 Abs. 3 SGB II vorgesehen. Mit der Einfügung des § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II zum 01. August 2006 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine abweichende Festlegung der Bedarfe anders als im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ausgeschlossen ist (vgl. dort § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Das Verbot der abweichenden Bedarfsfeststellung gilt nicht nur für einen im Einzelfall höheren Bedarf, sondern auch für einen im Einzelfall - wie vorliegend - geringeren Bedarf. Der Kläger hat vielmehr einen Rechtsanspruch auf die volle nach § 20 SGB II maßgebende Regelleistung (wie hier z.B. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 30. Juli 2007 - L 8 AS 186/07 ER; Beschluss vom 26. November 2007 - L 6 AS 694/07 ER ).
Die unentgeltlich bereitgestellte Vollverpflegung während des stationären Klinikaufenthaltes kann nach Auffassung der Kammer auch nicht als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II berücksichtigt werden. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem SGB II, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen und der Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit erbracht werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz als Einkommen zu berücksichtigen. Nach Auffassung der Kammer stellt die unentgeltlich bereitgestellte Vollverpflegung während eines stationären Aufenthaltes keine Einnahme in Geldeswert im Sinne des § 11 SGB II dar (str., wie hier SG Detmold, Beschluss vom 10. Januar 2006, S 9 AS 237/05 ER; SG Freiburg, Urteil vom 24. Oktober 2006, S 9 AS 1557/06; Sozialgericht Osnabrück, Beschluss vom 23. Februar 2007, S 23 AS 58/07 ER; SG Mannheim, Urteil vom 28. Februar 2007, S 9 AS 3882/06, VG Bremen, Urteile vom 04. Juni 2007, S 8 K 2002/06 und S 8 K 1416/06; Urteile des SG Osnabrück vom 20. Juni 2007, S 24 AS 189/07, vom 19. Dezember 2007, S 24 AS 786/07 und S 24 AS 368/07; Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30. Juli 2007, L 8 AS 186/07 ER; Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26. November 2007, L 6 AS 694/07 ER; a.A. SG Osnabrück, Urteil vom 29. August 2006, S 16 AS 522/05; SG Lüneburg, Beschluss vom 05. September 2006, S 24 AS 932/06 ER; SG Karlsruhe, Urteil vom 09. Januar 2007, S 14 AS 2026/06; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 29. Januar 2007, L 13 AS 14/06 ER; SG Stade, Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2007, S 28 AS 319/05; SG Osnabrück, Urteil vom 25. April 2007, S 22 AS 985/06 ).
Die Kammer geht davon aus, dass die Verpflegung insofern einen Geldwert besitzt, als der Bereitstellung von Mahlzeiten durch die Klinik ein Kostenaufwand beim Renten- bzw. Krankenversicherungsträger gegenübersteht. Allerdings besitzt die in der Klinik gewährte Verpflegung nach Auffassung der Kammer keinen Marktwert, ist also nicht gegen Geld tauschbar (vgl. etwa Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30. Juli 2007, L 8 AS 186/07 ER; Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26. November 2007, L 6 AS 694/07 ER ). Nach Ansicht der Kammer ist die Tauschbarkeit in Geld jedoch Voraussetzung für die Qualifizierung als Einkommen, da es dem Hilfebedürftigen freisteht, wie er die pauschalierte Regelleistung verwendet. Nach Ansicht der Kammer kann eine unmittelbare Bedarfsdeckung in Form von Bereitstellung von Vollverpflegung im Anwendungsbereich des SGB II nicht im Wege einer ergebnisorientierten Auslegung als Einkommen "umetikettiert" werden. Die Gegenansicht umgeht nach Auffassung der Kammer die vom Gesetzgeber beabsichtigte strikte Pauschalierung der Bedarfe. Die Berücksichtigung der kostenlosen Verpflegung als Einkommen würde "durch die Hintertür" eine abweichende Festlegung der Bedarfe ermöglichen. Der von der Gegenansicht vor dem Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. zur Ermittlung der Höhe des zu kürzenden Betrages vorgenommene Rückgriff auf den in der Regelleistung enthaltenen Ernährungsanteil zeigt, dass es sich in der Sache um eine unzulässige Kürzung der Regelleistung durch eine abweichende Bedarfsfestlegung handelt. Auch die Einfügung des § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. mit Wirkung zum 01. Januar 2008 lässt nach Ansicht der Kammer keine andere rechtliche Beurteilung zu. Denn nach Ansicht der Kammer steht § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. mit der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Nr. 1 SGB II nicht in Einklang. Als untergesetzliche Norm unterfällt § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. nicht dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichtes, eine Vorlagepflicht nach Art. 100 Grundgesetz besteht nicht.
Die Kammer besitzt auf Grund ihres richterlichen Prüfungsrechts die Befugnis zur eigenständigen "Verwerfung" der untergesetzlichen Norm. Nach § 13 Nr. 1 SGB II kann durch Rechtsverordnung bestimmt werden, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. bestimmt, dass bereitgestellte Vollverpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der nach § 20 SGB II maßgebenden monatlichen Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen ist. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich dabei in der Sache nicht um eine Berechnungsmethode für eine bestimmte Einkommensart, sondern um eine Bestimmung zur Feststellung eines im Einzelfall abweichenden - geringeren - Bedarfes. Der Verordnungsgeber bestimmt damit, dass die Bereitstellung von Sachmitteln unmittelbar zur Bedarfsdeckung Einkommen darstellt. Es handelt sich damit auch nach dem Wortlaut um eine positive Bestimmung, was als Einkommen zu berücksichtigen ist. Dazu reicht die Verordnungsermächtigung des § 13 Nr. 1 SGB II jedoch nicht aus. § 2 Abs. 5 ALG II-V n.F. ist nicht ermächtigungskonform. Der Verordnungsgeber kann weder festlegen, wie eine Bedarfsdeckung anspruchsmindernd zu berücksichtigen ist, noch kann er bestimmen, was positiv als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II anzusehen ist. Eine solche Regelung kann derzeit nur vom Gesetzgeber und nicht vom Verordnungsgeber getroffen werden, da die Verordnungsermächtigung des § 13 SGB II hierfür nicht ausreicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Berufung war nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.