Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 21.01.1988, Az.: 1 A 145/87

Antrag auf Verhängung und Durchsetzung eines Rauchverbotes in Stadtratssitzungen; Innerorganisatorischer Störungsbeseitigungsanspruch; Voraussetzungen für einen Störungsbeseitigungsanspruch; Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme; Passivrauchen als Ursache gesundheitlicher Schäden schwerwiegender Art; Recht des Rauchers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit; Recht des Nichtrauchers auf körperliche Unversehrtheit

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
21.01.1988
Aktenzeichen
1 A 145/87
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 15874
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:1988:0121.1A145.87.0A

Fundstellen

  • NJW 1989, 1000
  • NJW 1988, 790 (Volltext mit red. LS)
  • NVwZ 1988, 472 (red. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Verhängung eines Rauchverbots

Prozessführer

1. Herr...

2. Frau...

3. Frau...

Prozessgegner

Bürgermeister der Stadt B., Postfach , B.

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Stade - 1. Kammer Stade -
aufgrund der mündlichen Verhandlung
vom 21. Januar 1988,
an der teilgenommen haben:
Präsident des Verwaltungsgerichts Dr. Dreiocker
Richter am Verwaltungsgericht Dr. Enste, Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Frentz
Ehrenamtlicher Richter ...und...
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Beklagte ist verpflichtet, auf den jeweiligen Antrag eines der Kläger in Sitzungen des Rates der Stadt B. ein Rauchverbot für die jeweilige Sitzung anzuordnen und durchzusetzen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Kläger sind Mitglieder des Rates der Stadt B., der Beklagte dessen Vorsitzender.

2

Nach bisher vergeblichen Bitten der Kläger an ihre Ratskollegen, das Rauchen während der Ratssitzungen freiwillig einzustellen, und nach einem aufgrund der gegebenen Ratsmehrheit gescheiterten Versuch, ein generelles Rauchverbot in die Geschäftsordnung des Rates aufzunehmen, haben sie am 1. Dezember 1987 Klage erhoben. Sie machen geltend, daß die vom Beklagten geduldete Rauchpraxis im Rat der Stadt B. ihre eigenen Mitgliedschaftsrechte verletze, weil Passivrauchen als Ursache gesundheitlicher Schäden schwerwiegender Art anzusehen sei.

3

Die Kläger beantragen,

den Beklagten zu verpflichten, auf jeweiligen Antrag eines der Kläger in Sitzungen des Rates der Stadt B. ein Rauchverbot für die jeweilige Sitzung anzuordnen und für dessen Durchsetzung Sorge zu tragen.

4

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und verteidigt sich mit dem Hinweis, daß er die geltende Geschäftsordnung des Rates strikt eingehalten habe.

5

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die Gerichtsakte und die vom Beklagten überreichten einschlägigen Vorgänge, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

6

Die Klage ist - ungeachtet des Urteilstenors mit einem dem Wortlaut nach verpflichtenden Inhalt - als sogenannte allgemeine Leistungsklage zulässig. Denn sie ist auf ein schlichtes Verwaltungshandeln auf der Ebene der Geschäfts- und Sitzungsordnung ohne Außenwirkung gerichtet ("Intraorganstreit").

7

Sie ist auch begründet. Denn die Kläger haben gegenüber dem Beklagten als Inhaber eines Leitungs-, Ordnungs- und Hausrechts im Rahmen der Ratssitzungen nach § 44 Abs. 1 NGO einen damit korrespondierenden sogenannten "innerorganisatorischen Störungsbeseitigungsanspruch". Das unter Verstoß gegen das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme durchgeführte Rauchen ihrer Ratskollegen setzt sie rechtserheblichen Nachteilen aus, die das Funktionsinteresse des Rates insgesamt berühren (vgl. OVG Münster, Urteil vom 10.09.1982, NVwZ 1983, 485 f. [OVG Niedersachsen 10.03.1982 - 6 B 63/81]; VG Würzburg, Beschluß vom 12.12.1979, NJW 1981, 243 f. [VG Würzburg 12.12.1979 - W 235 II/79]). Auf den Inhalt des § 5 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Rates der Stadt B. der Wahlperiode 1986 bis 1991 vom 22. Juni 1987, welcher eine Einschränkung des Rauchens im Sitzungsraum "soweit wie möglich" empfiehlt, kann sich der Beklagte nicht berufen. Eine Geschäftsordnung steht nämlich als Rechtsquelle dem Range nach unterhalb der Geltungskraft der Niedersächsischen Gemeindeordnung. § 44 Abs. 1 NGO begründet eine souveräne Entscheidungsbefugnis des Ratsvorsitzenden, der insoweit von jeweils bestehenden Ratsmehrheiten nicht abhängig ist.

8

Die Voraussetzungen für einen Störungsbeseitigungsanspruch der Kläger liegen vor, weil nach den aktuellen Medizinischen Erkenntnissen eine durch Passivrauchen ausgelöste Gesundheitsbeeinträchtigung mindestens überwiegend wahrscheinlich ist. Allerdings ist die Annahme der Pathogenität des Passivrauchens noch vor etwa zehn Jahren lediglich vereinzelt ausgesprochen worden (Schmidt, "Tabak als wichtigste Luftverschmutzung in Innenräumen und als pathogene Noxe für Passivraucher", in: Medizinische Welt, Heft 44/1974, S. 1824 bis 1828; derselbe, NJW 1976, S. 358 f.; Bundestagsdrucksachen 7/2070, S. 2, und 7/3597, S. 3; vgl. auch OVG Berlin, Beschluß vom 18.04.1975, NJW 1975, S. 2261 f.; VG Würzburg, a.a.O.). Es trifft auch zu, daß man seinerzeit noch von der fehlenden medizinischen Eindeutigkeit der gesundheitsschädlichen Wirkung passiven Rauchens ausging. Die durch Passivrauchen ausgelösten akuten Reaktionen und Reizungen stufte man als rein emotional gesteuerte, nicht objektivierbare und daher hinzunehmende Bagatellbelästigungen ohne wesentlichen Krankheitswert ein (Schlipköter/Winneke, "Passivrauchen am Arbeitsplatz", in: Bayerische Akademie für Arbeits- und Sozialmedizin, 1977, S. 49, 59; Schievelbein, "Zur Frage des Einflusses von Tabakrauch auf die Morbidität von Nichtrauchern", in: Internist, Heft 14/73, S. 236; derselbe, NJW 1975, 2262 f. [OVG Berlin 18.04.1975 - OVG V S 13.75][OVG Berlin 18.04.1975 - V S 13/75]; Kaiser, NJW 1975, 2237 f. und DÖV 1978, 755 f.).

9

Diese frühere Anschauung ist aber nach neueren medizinischen Erkenntnissen unter Berücksichtigung von weltweit durchgeführten einschlägigen Forschungen "nicht mehr vertretbar", "der Preis, den der unfreiwillig Rauchende für den Genuß des Rauchers mitbezahlen muß, nicht mehr zu verantworten" (Remmer, "Kanzerogene und toxische Wirkungen von passiv inhaliertem Tabakrauch", in: Bundesgesundheitsblatt 30 Nr. 9/September 1987, S. 307, 308, 315 mit umfangreichen Nachweisen). So heißt es in der genannten Quelle u.a. wörtlich:

"1.
Die Mehrzahl epidemiologischer Untersuchungen fand eine Assoziation zwischen unfreiwillig eingeatmetem Tabakrauch und Lungenkrebs.

...

3.
Auch das gesamte Krebsrisiko des Passivrauchers steigt an. ...

4.
Das Herzinfarktrisiko ist beim Passivraucher ebenfalls erhöht.

12.
Der Aktivraucher ist partiell geschützt durch Enzyminduktion. Den Passivraucher dagegen trifft voll die viel geringere Menge an schädlichen Stoffen, die er einatmet. Das hohe Krebs- und Herzinfarktrisiko des Passivrauchers ist plausibel.

...

...

14.
Die Zahl der vorzeitigen Todesfälle, die dem Passivrauchen zuzuschreiben sind, beträgt in der Bundesrepublik jährlich wahrscheinlich mehrere Tausend.

..."

10

Vor dem Hintergrund des Gewichts dieser aktuellen Erkenntnisse besteht mindestens ein derart begründeter Verdacht schädlicher, durch Passivrauchen ausgelöster Gesundheitseinwirkungen, daß das Risiko selbst nur möglicher Gesundheitsschäden nicht auf den davon betroffenen Nichtraucher abgewälzt werden kann. Selbst wenn man diese wissenschaftlichen Forschungsergebnisse noch in Zweifel ziehen wollte, so ließe sich der Störungsbeseitigungsanspruch der Kläger daraus herleiten, daß sie durch die rauchenden Ratsmitglieder offenkundig schwerwiegenden Einwirkungen auf ihr Wohlbefinden ausgesetzt sind (vgl. Martens, NJW 1976, 384 f. [OVG Berlin 18.04.1975 - OVG V S 13.75]). Soweit man die Frage der Zumutbarkeit des Passivrauchens nach Kriterien der "sozialen Adäquanz" lösen wollte (vgl. Kaiser, NJW 1975, 2238), ergibt sich kein anderes Ergebnis. Denn die Wirkungen von passiv inhaliertem Tabakrauch mögen im Rahmen eines Kegel-, Skat- oder Umbüdelabends geduldet werden müssen, zumal eine Teilnahme daran freiwillig ist. Dies gilt jedoch nicht für ein Gremium, in dem demokratisch legitimierte Ratsmitglieder in Wahrnehmung ihres Mandats über die kommunalen Geschicke entscheiden. In diesem Zusammenhang kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß bereits in einer Vielzahl öffentlicher Einrichtungen selbst ohne ausdrückliche Regelungen und lediglich auf der Basis einer gesellschaftlichen Übung eine Verpflichtung des Rauchers zum Verzicht besteht. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen für die Sitzungen eines Rates etwas anderes gelten sollte.

11

Dem Recht des Rauchers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit steht das Recht des Nichtrauchers auf körperliche Unversehrtheit als höherrangig gegenüber. Dies gilt um so mehr, als den Bedürfnissen eines Rauchers durch einfache organisatorische Maßnahmen - Einlegung von Sitzungspausen - leicht Rechnung getragen werden kann. Sofern von einem Raucher geltend gemacht werden sollte, daß eine solche Verfahrensweise seinen Bedürfnissen nicht ausreichend gerecht werde, muß darauf verwiesen werden, daß ein insoweit bereits bestehender Rauchzwang als eigenverantwortlich herbeigeführt nicht schutzwürdig ist (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 20.09.1974, NJW 1975, 275 [VG Schleswig 20.09.1974 - 10 A 111/74]).

12

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG auf

6.000,00 DM

(in Worten: sechstausend Deutsche Mark)

festgesetzt.

Rechtsmittelbelehrung:

Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

Dr. Dreiocker
Dr. Enste
Dr. Frentz