Landgericht Hannover
Urt. v. 14.08.2022, Az.: 70 KLs 2632 Js 107699/19 (6/20)
Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus bzgl. Erheblichkeit der Anlasstat (hier: u.a. fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung)
Bibliographie
- Gericht
- LG Hannover
- Datum
- 14.08.2022
- Aktenzeichen
- 70 KLs 2632 Js 107699/19 (6/20)
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 55075
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGHANNO:2022:0814.70KLS6.20.00
Rechtsgrundlage
- § 63 S. 1, 2 StGB
In der Strafsache
gegen
XXX
Gesetzliche Betreuer:
H. W. A., XXX,
A. K., XXX,
Verteidigerin:
Rechtsanwältin A., A., XXX
wegen Straßenverkehrsgefährdung u. a.,
hat das Landgericht Hannover - 18. große Strafkammer - in den Sitzungen vom 13. August 2020 und 14. August 2020, an denen teilgenommen haben:
Richter am Landgericht Dr. S.
als Vorsitzender,
Richterin am Landgericht v. T.,
Richter am Landgericht W.
als beisitzende Richter,
C. Z., XXX,
U. K.-Sch., XXX,
als Schöffen,
Staatsanwalt L.
als Beamter der Staatsanwaltschaft,
Rechtsanwältin K.
als Verteidigerin,
Justizangestellte E.
als Urkundsbeamte der Geschäftsstelle,
am 14. August 2020 für Recht erkannt:
Tenor:
Der Antrag auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens und die eigenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 5 StPO)
I.
Der Beschuldigte wurde am XXX in XXX geboren, ist ledig und XXX Staatsangehöriger. Er wuchs bei seinen Eltern in XXX auf und hat sieben Geschwister. Nachdem die Familie 1992 nach Deutschland übergesiedelt war, wurde der Beschuldigte in die dritte Klasse einer Grundschule eingeschult. 2001 erlangte er den erweiterten Realschulabschluss. Anschließend absolvierte er bis 2005/2006 eine Ausbildung zum Briefzusteller bei der Deutschen Post. In diesem Beruf war er bis zum Ausbruch seiner Erkrankung im Jahre 2017 tätig.
Vor seinem 30. Lebensjahr war der Beschuldigte weder psychisch erkrankt noch auffällig. Anfang 2017 führte die in der Folgezeit bei ihm diagnostizierte hirnorganische Erkrankung - Morbus Behcet - zu Schlafstörungen, Unruhezuständen und optischen Halluzinationen. U. a. sah er Geister, die die Welt verändern könnten und einen Teil seiner Familie verfolgen würden. Es kam, da der Beschuldigte aggressive Impulsausbrüche und Grenzüberschreitungen im Verhalten gegenüber Frauen zeigte, zu einer Unterbringung nach PsychKG in dem psychiatrischen Klinikum XXX. Zur weiteren Diagnostik, die der Bruder und gesetzliche Betreuer des Beschuldigten, der Zeuge A., begleitete, wurde der Beschuldigte in die XXX verlegt und dort erstmals die Diagnose Morbus Behcet gestellt. Die Cortisonbehandlung milderte die psychotischen Symptome ab, die sich letztmalig Ende 2017 zeigten. Die Wesensänderung mit Antriebsminderung, Affektverflachung und Distanzminderung blieb jedoch bestehen. Weitere sich anschließende Aufenthalte in diversen psychiatrischen sowie neurologischen Kliniken führten zu keiner Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes des Beschuldigten.
Das Verhalten des Beschuldigten, der die Erdgeschosswohnung in dem Haus seines Bruders bewohnt, war seit dem Ausbruch seiner Erkrankung bis zum heutigen Tage durch eine Ruhelosigkeit, Umtriebigkeit und fehlende Impulskontrolle geprägt. Ohne eine Tagesstruktur zu haben, war er über weite Strecken des Tages in der Nachbarschaft in XXX unterwegs und geriet dabei zunehmend mit dem Gesetz in Konflikt. Gegen den bis Anfang 2017 strafrechtlich nicht in Erscheinung getretenen Beschuldigten haben die Staatsanwaltschaft Hannover und die Staatsanwaltschaft Hildesheim nach Ausbruch der Erkrankung insgesamt 42 Ermittlungsverfahren geführt, die nunmehr wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden sind. 27 der Ermittlungsverfahren hatten den Tatvorwurf des Diebstahls, 6 den Tatvorwurf des Betruges und die übrigen Ermittlungsverfahren u. a. die Tatvorwürfe des Erschleichens von Leistungen, der Beleidigung, des Hausfriedensbruchs, des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie der Nötigung bzw. Bedrohung zum Gegenstand. Zu körperlichen Übergriffen durch den Beschuldigten kam es bisher nicht.
Nach den verfahrensgegenständlichen Taten intensivierte die Familie des Beschuldigten ihre Fürsorge und Überwachung mit der Folge, dass es zu keinen weiteren Vorfällen gekommen ist. Der Beschuldigte verlässt das Haus nur noch in Begleitung eines Familienmitglieds. Die Fahrzeugschlüssel werden in einem Tresor verwahrt, auf den der Beschuldigte keinen Zugriff hat.
Der Beschuldigte wurde aufgrund des Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts XXX vom 20. März 2020 am 27. März 2020 einstweilig im KRH XXX untergebracht. Der Unterbringungsbeschluss wurde durch die Kammer am 04. Juni 2020 außer Vollzug gesetzt.
II.
Am 03. September 2019 zwischen 14:00 Uhr und 15:00 Uhr entdeckte der Beschuldigte in dem auch von ihm bewohnten Haus in der XXX in XXX den Autoschlüssel seiner Schwägerin. Da er krankheitsbedingt unter einem gesteigerten Bewegungsdrang leidet, nahm er den Schlüssel an sich, stieg in das Fahrzeug seiner Schwägerin, einem VW Sharan, amtliches Kennzeichen XXX, ein und fuhr los in dem Wissen, dass er nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis war.
Er befuhr die X-straße, die eine leichte Kurve nach rechts machte. Aufgrund seiner Erkrankung war der Beschuldigte nicht in der Lage, die konkrete Verkehrslage zutreffend einzuschätzen. Er fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve ein, konnte das Fahrzeug nicht mehr auf der Fahrspur halten und fuhr zumindest mit dem linken vorderen Rad auf den durch einen Bordstein von der Fahrbahn abgegrenzten Fußweg. Dabei platze der linke vordere Reifen, und der Beifahrerairbag löste aus. Nach wenigen Metern verließ er den Fußgängerweg und versuchte, auf seine Fahrspur zurückzukehren. Dabei überquerte er die Gegenfahrbahn, wobei ihm ein von dem Zeugen B. gesteuertes Fahrzeug entgegenkam. Der Zeuge musste stark abbremsen, um einen Zusammenstoß mit dem VW Sharan zu verhindern. Der Beschuldigte ließ den VW Scharan ausrollen. Dieser kam mit dem rechten vorderen Rad auf dem Fußweg neben der rechten Fahrspur zum Stehen.
Ohne den Motor auszuschalten, verließ der Beschuldigte fluchtartig das Fahrzeug und begab sich in Richtung seiner Wohnung. Auf dem Weg dahin kam ihm sein Bruder, der Zeuge A., entgegen und fragte, wo er gewesen sei. Der Beschuldigte, der den Unfall, insbesondere den Zusammenstoß mit dem Bordstein und den Schaden am Fahrzeug seiner Schwägerin, nicht offenbaren wollte, sagte lediglich, er sei unten gewesen.
Während der Taten war die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten erheblich eingeschränkt und nicht ausschließbar aufgehoben.
III.
Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus konnte nicht nach § 63 StGB angeordnet werden. Zwar hat der Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit rechtswidrige Taten begangen, nämlich eine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c Abs. 3 N. 2 StGB) in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§§ 2, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) sowie in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Jedoch ist aufgrund seines Zustandes unter Gesamtwürdigung seiner Person sowie der Taten nicht davon auszugehen, dass er künftig rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt bzw. gefährdet werden würden.
Ausweislich der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 63 StGB in der Fassung vom 1. August 2016 (BT-Drucks. 18/7244) liegt - unter Fortsetzung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 S. 1 StGB nur dann vor, soweit die Tat mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, mithin im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe über fünf Jahren bedroht ist (BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - Az.: 2 BvR 298/12). Lediglich aufgrund dieser Einschränkung kann gewährleistet werden, dass von den unter den Regelungsbereich des § 63 StGB fallenden zu erwartenden Taten eine empfindliche Störung des Rechtsfriedens ausgeht und sie insoweit geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.
Dabei steht der Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik nicht entgegen, dass die unter Ziffer II. festgestellten Anlasstaten für sich gesehen die von § 63 S. 1 StGB geforderte Erheblichkeitsgrenze nicht überschreiten. Insbesondere die vom Beschuldigten begangenen fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung ist aufgrund ihres Strafrahmens bereits nicht der Stufe der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Ausweislich § 63 S. 2 StGB kann das Gericht in diesen Fällen die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik aber auch dann anordnen, wenn die Anlasstat nicht erheblich im Sinne des § 63 S. 1 StGB ist. Voraussetzung hierfür ist, dass besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Dies ist u. a. dann der Fall, soweit der Umstand, dass es nicht zu schlimmeren Tatfolgen gekommen ist, nicht dem Verhalten des Beschuldigten zugeschrieben werden kann, sondern wie vorliegend dem Zufall - keine Person war auf dem Fußweg zugegen - oder der schnellen Reaktion einer anderen Person, wie hier des Zeugen B. geschuldet ist. Die durch ein neuerliches Steuern eines Kraftfahrzeuges von dem Beschuldigten ausgehende Gefahr für Leib oder Leben dritter Personen würde daher die Erheblichkeitsgrenze des § 63 S. 1 StGB erreichen. Jedoch konnte die Kammer keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung eines solchen Deliktes zweifelsfrei feststellen.
Der Sachverständige T. hat hierzu ausgeführt, dass aufgrund des bisherigen Krankheitsverlaufs des Morbus Behcet, der über eine bloße Stabilisierung hinausgehenden fehlenden Behandlungsmöglichkeit sowie der festgestellten, für das Erkrankungsbild klinisch nicht untypischen Taten bestehe bei Außerachtlassung der durch die Familie des Betroffenen getroffenen Maßnahmen das Risiko der Begehung weiterer ähnlicher Delikte wie den jetzigen Anlasstaten bestehe. Die mit der Erkrankung einhergehenden kognitiven Einbußen, die herabgesetzte Kritikfähigkeit und Frustrationstoleranz sowie die ausgeprägten Unruhezustände legen den Schluss nahe, dass der Beschuldigte zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auch zukünftig dem damit einhergehenden Impuls keinen ausreichenden Widerstand werde entgegensetzen können und weitere Straftaten durch seine Interaktion im Öffentlichen Raum, mithin Diebstähle, Beleidigungen oder Bedrohungen, zu erwarten seien. Hinsichtlich der Gefahr der Begehung eines erneuten Straßenverkehrsdeliktes lasse sich keine hinreichend konkrete Aussage treffen. In der Literatur spiele die Erkrankung des Beschuldigten eine sehr untergeordnete Rolle. Valide statistische Prognoseinstrumente gebe es für das Erkrankungsbild und die verfahrensgegenständlichen Taten nicht. Ein Rückgriff auf die erkrankungsunabhängige Basisrate für erneute Straßenverkehrsdelikte, die nach Nedopil bei 50 % in einem Zeitraum von zwei bis sechs Jahren nach letztmaliger Tatbegehung liegen würde, erscheine fragwürdig, zumal unter Berücksichtigung der von der Familie des Beschuldigten ergriffenen Maßnahmen ein neuerliches Verkehrsdelikt sehr unwahrscheinlich sei. Konkret festzustellen sei, dass aufgrund der Vielzahl der gegen den Beschuldigten geführten Ermittlungsverfahren nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Beschuldigte mit einer Wahrscheinlichkeit mittleren oder höheren Grades Gewaltdelikte begehen werde.
Den Ausführungen des Sachverständigen T. schließt sich die Kammer nach eigener kritischer Prüfung an. Nicht nur der unter Ziffer I. festgestellte Werdegang des Beschuldigten bestätigt das vom Sachverständigen gefundene Ergebnis. Vielmehr konnte sich die Kammer im Rahmen der Hauptverhandlung einen unmittelbaren Eindruck von dem medikamentös ausreichend eingestellten Beschuldigten verschaffen. Der Beschuldigte zeigte wiederkehrende Unruhezustände, wodurch die Sitzung im Abstand von 15 bis 30 Minuten jeweils für die Dauer von 5 Minuten unterbrochen werden musste. Zugleich konnte er einfache Fragen beantworten, jedoch fiel es ihm schwer, komplexere Zusammenhänge zutreffend zu erfassen. Der Beschuldigte ist daher deutlich in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, was ihm ein planungsvolles Handeln sichtlich erschwert. Vor diesem Hintergrund sieht es die Kammer auch als nicht sehr wahrscheinlich an, zumindest nicht im Sinne einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Beschuldigte trotz seiner geistigen Verfassung sowie der durch seine Familie getroffenen Maßnahmen zukünftig ein Kraftfahrzeug führen wird.
Dabei ist sich die Kammer des Umstandes bewusst, dass sog. außerstrafrechtliche Sicherungssysteme - also vorliegend die durch die Familie gewährleistete Kontrolle des Beschuldigten sowie der Wegschluss der Fahrzeugschlüssel in einen Tresor - grundsätzlich einer Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB nicht entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 03. August 2017 - Az.: 4 StR 193/17, m. w. N.). Jedoch kommt den häuslichen Verhältnissen hier eine Doppelrolle zu, die deren Berücksichtigung bereits bei der Bewertung der Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten ermöglicht. Nicht nur, dass die häuslichen Verhältnisse vergleichbar mit den üblichen außerstrafrechtlichen Sicherungssystemen (z. B. gesetzliche Betreuung, einstweilige Unterbringung, Depotgabe von Psychopharmaka) die aktuelle Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten reduzieren. Vielmehr waren die ursprünglichen, nunmehr erheblich geänderten häuslichen Verhältnisse gerade mitursächlich für die Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten. Der Beschuldigte wurde durch die offene und insoweit unbedachte Verwahrung der Fahrzeugschlüssel gerade in die Lage versetzt, den Schlüssel zu entwenden und anschließend das Fahrzeug seiner Schwägerin zu fahren. Diese Möglichkeit wurde ihm nunmehr genommen. Ohne eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf einen Fahrzeugschlüssel ist der Beschuldigte aufgrund der krankheitsbedingten kognitiven Einschränkungen nicht in der Lage, seinem Wunsch entsprechend ein Kraftfahrzeug zu führen. Die kognitiven Einschränkungen verwehren dem Beschuldigten eine hierfür erforderliche, mehrstufige Planung, sei es durch Abschluss eines Mietvertrages - die psychische Erkrankung des Beschuldigten ist derart offensichtlich, dass eine andere Person stets Abstand von einem solchen Vertragsabschluss nehmen würde - oder durch Entwendung eines anderen Fahrzeugschlüssels außerhalb des häuslichen Umfelds.
Die im Übrigen ausweislich der Ausführung des Sachverständigen T. von dem Beschuldigten zu erwartenden Straftaten sind nicht der Kriminalität mittleren Grades zuzurechnen und damit nicht erhebliche im Sinne des § 63 StGB.
Im Ergebnis war daher mangels einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung zukünftiger erheblicher Straftaten der Antrag auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abzulehnen.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO.