Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 31.03.1998, Az.: HEs 6/98

Rechtfertigender wichtiger Grund für die Haftfortdauer; Anrechnung der Zeit der einstweiligen Unterbringung in die sechsmonatige Frist des § 121 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO); Erhebliche Verschleppung des Ermittlungsverfahrens; Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
31.03.1998
Aktenzeichen
HEs 6/98
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1998, 13544
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1998:0331.HES6.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hann.Münden - 17.04.1997 - AZ: 4 Gs 58/97
LG Göttingen - 04.03.1998 - AZ: 2 KLs 42/97

Verfahrensgegenstand

Verdachts der Vergewaltigung pp.

Prozessgegner

zuletzt wohnhaft gewesen ...

In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 31. März 1998
beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Landgerichts Göttingen vom 04. März 1998 wird aufgehoben.

Gründe:

1

Der Angeklagte war aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Hann.-Münden vom 17. April 1997 seit diesem Tage im Landeskrankenhaus Göttingen gemäß § 126 a StPO einstweilen untergebracht. Durch Beschluß vom 04. März 1998 hat das Landgericht Göttingen den genannten Unterbringungsbefehl des Amtsgerichts Hann.-Münden vom 17. April 1997 aufgehoben und gegen den Angeklagten die Untersuchungshaft angeordnet, welche der Angeklagte seither verbüßt. Zugleich hat es die Sache (über die zuständigen staatsanwaltschaftlichen Behörden) dem Senat zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß den §§ 121 f. StPO vorgelegt, da bislang gegen den Angeklagten noch kein tatrichterliches Urteil ergangen ist, Nach Erhebung der Anklage vom 26. November 1997 und der Eröffnung des Hauptverfahrens vom 04, März 1998 ist Termin zur Hauptverhandlung ab 26. Mai 1998 anberaumt worden.

2

Die Frage, ob gegen den Angeklagten dringender Tatverdacht und der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht der vom Landgericht Göttingen im genannten Haftbefehl angenommene Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a StPO könnte gemäß § 122 a StPO ohnehin nur bis zum 17.04.1998 aufrechterhalten werden - kann im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen. Denn weder sind besondere Schwierigkeiten oder ein besonderer Umfang der Ermittlungen noch ein anderer wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO zu erkennen, die bislang ein Urteil noch nicht zugelassen hätten, so daß die Fortdauer der Untersuchungshaft nach der genannten Vorschrift nicht zu rechtfertigen ist.

3

Das Landgericht Göttingen ist in seinem Vorlagebeschluß, der ebenfalls vom 04. März 1998 datiert, zurecht davon ausgegangen, daß in die Frist des § 121 Abs. 1 StPO von sechs Monaten vorliegend die einstweilige Unterbringung des Angeklagten nach § 126 a StPO miteinzurechnen ist, denn die einstweilige Unterbringung mußte durch Untersuchungshaft ersetzt werden, weil die zunächst angenommenen Voraussetzungen der Vorschrift zweifelhaft geworden waren und weil sich die Untersuchungshaft unmittelbar an die Unterbringung anschloß (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 121 Rdnr. 6), Damit wird gegenüber dem Angeklagten inzwischen seit über elf Monaten sichernder Freiheitsentzug vollzogen. Bis zum Beginn der terminierten Hauptverhandlung wird dieser Freiheitsentzug ein Jahr und einen Monat bereits überschritten haben.

4

Diese lange Dauer der Unterbringung bzw. der Haft ist durch die o.g. Gründe des § 121 Abs. 1 StPO nicht gerechtfertigt. Entscheidend ist hierfür, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rdnr. 19 m.Rspr.Nw.). Dabei sind um so strengere Anforderungen zu stellen, je länger der Freiheitsentzug dauert, so daß die Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung von Haftsachen bei der ersten Haftprüfung nach § 122 Abs. 1 StPO nicht so hoch sind wie bei den späteren Prüfungen nach § 122 Abs. 4 StPO (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O. m.w.N.), Ein Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung kann nur in ganz besonderen Ausnahmefällen als gerechtfertigt anerkannt werden (Boujong in Karlsruher Kommentar, StPO, 3, Aufl., § 121 Rdnr. 22 m.Rspr.Nw.), Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze haben im vorliegenden Fall die Strafverfolgungsbehörden nicht alle zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens getroffen. Insbesondere ist nicht für eine rechtzeitige Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens zur Untersuchung des Angeklagten gesorgt und in der Folge auf eine rechtzeitige Erstattung des Gutachtens nicht gedrängt worden. Eine erhebliche Verzögerung der Gutachtenerstattung bildet aber keinen wichtigen Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO (OLG Schleswig SchlHA 1981, 8993). Auch die Verzögerung der Einholung eines Gutachtens um mehrere Monate rechtfertigt die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht (Boujong in Karlsruher Kommentar, a.a.O., Rdnr. 21 m.Rspr.Nw.).

5

Im vorliegenden Fall stand seit Beginn der Ermittlungen - spätestens bei Erlaß des Unterbringungsbefehls vom 17. April 1997 - fest, daß der Angeklagte auf seine Schuldfähigkeit psychiatrisch zu untersuchen war. Denn er konnte bereits im Jahre 1982 in einem entsprechenden Verfahren wegen Totschlages nicht zu Freiheitsstrafe verurteilt werden, weil er bei der Begehung der Gewalttaten schuldunfähig war oder dies nicht widerlegt werden konnte, so daß er für mehr als 13 1/2 Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden mußte. Bereits eineinhalb Jahre nach seiner bedingten Entlassung geschah die vorliegende Tat, die Gegenstand dieses Verfahrens ist. Es bestand auch kein vertretbarer Grund, zunächst die vom Angeklagten benannten Alibizeugen und die sich anschließende nochmalige Vernehmung des Angeklagten sowie des Mitangeklagten Wichlacz abzuwarten, da zum Zeitpunkt der Festnahme des Angeklagten die Tat in ihren wesentlichen Zügen bereits ermittelt war und man - trotz der noch nicht vernommenen Alibizeugen, die ja allenfalls die Nichtbeteiligung des Angeklagten hätten bestätigen können - bereits damals vom dringenden Tatverdacht gegen den Angeklagten ausging. Daher kann es keinen wichtigen Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO darstellen, wenn die Einholung des Gutachtens erst dreieinhalb Monate nach Erlaß des Unterbringungsbefehls erfolgte.

6

Aber auch danach hat die Staatsanwaltschaft nicht das ihr Zumutbare getan, um auf eine zügige Gutachtenerstattung zu dringen. Dies wäre gerade im Hinblick auf die erheblich verspätete Beauftragung des Sachverständigen erforderlich gewesen. Insbesondere hat sie nach Ablauf der vom Gutachter ... angekündigten Zeit der Begutachtung von acht bis zehn Wochen nicht an die Übersendung des Gutachtens erinnert, zumal der Gutachter am 09.10.1997 bereits telefonisch vorab das Ergebnis mitgeteilt hat, daß er "bestenfalls zu dem Ergebnis käme, daß § 21 StGB nicht auszuschließen sei und demnach eine Unterbringung nicht infrage komme". Das schriftliche Gutachten ging vielmehr erst am 19.02.1998 - also über vier Monate später bei der Staatsanwaltschaft ein. Erinnerungen erfolgten - soweit aus den Akten ersichtlich - erst am 05.01.1998 durch den Strafkammervorsitzenden, nachdem die inzwischen erhobene Anklage zugestellt und die Erklärungsfrist abgelaufen war, und am 28.01.1998 durch die Staatsanwaltschaft, Wenn bereits bei der Beauftragung des Sachverständigen auf eine zügige Gutachtenerstattung gedrängt worden wäre (was nicht geschehen ist) und im folgenden auch kurzfristig an die Eilbedürftigkeit erinnert worden wäre, so hätte das Verfahren um mehrere Monate abgekürzt werden können. Eine erstmalige Erinnerung fünf Monate nach Beauftragung des Sachverständigen stellt keine auf zügigen Abschluß bedachte Verfahrensführung dar. Die beiden genannten erheblichen Verzögerungen nötigen insbesondere im Hinblick darauf, daß die Hauptverhandlung erst mehr als ein Jahr nach der Festnahme des Angeklagten beginnen kann, zur Aufhebung des Hartbefehls gemäß § 121 Abs. 2 StPO.