Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 18.06.2018, Az.: 2 A 131/16
Frankreich; subsidiärer Schutz; Zweitantrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 18.06.2018
- Aktenzeichen
- 2 A 131/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74482
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG
- § 71a AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Das im anderen Mitgliedstaat i. S. d. § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG abgeschlossene Asylverfahren muss sich sowohl auf die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus als auch auf die Gewährung internationalen Schutzes beziehen. Dass beide Bestandteile des internationalen Schutzes in dem anderen Mitgliedstaat Gegenstand der Prüfung gewesen sind, muss jedoch nicht zwingend durch Vorlage des Tenors oder der Gründe der ablehnenden mitgliedstaatlichen Asylentscheidung nachgewiesen werden, sondern kann sich auch aus dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ergeben.
2. Zum Zeitpunkt, ab dem aufgrund europäischen Rechts beide Bestandteile des internationalen Schutzes Prüfungsgegenstand im Asylverfahren waren (hier offengelassen).
3. Es ist davon auszugehen, dass in Frankreich im Jahr 2013 im Rahmen eines Asylverfahrens sowohl die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus als auch die Gewährung subsidiären Schutzes geprüft wurden.
Tatbestand:
Die Kläger sind russische Staatsangehörige yesidischer Religionszugehörigkeit. Sie wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge.
Im Jahr 2013 stellten sie zunächst in Frankreich Asylanträge. Laut einem an den Kläger zu 1) gerichteten Schreiben der Préfecture de la Côte-d’Or vom 25. Juli 2013 wurden dieser Antrag mit Bescheid vom 23. Mai 2013 abgelehnt, wobei der Kläger zu 1) hiergegen keine Klage beim Court Nationale du Droit d’Asile eingereicht habe. Im Einzelnen heißt es in dem Schreiben:
„Vous avez exprimé le souhait le 2 juillet 2013 de déposer un dossier de demande de réexamen de votre demande d’asile précedemment rejetée par l’Office Francais de Protection des Réfugiés et Apatrides le 23 mai 2013, décision notfiée le 25 mai 2013, pour laquelle vous n’avez pas introduit de recours devant la Cour Nationale du Droit d’Asile.“
Darauhin reisten die Kläger weiter in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie am 11. Dezember 2013 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylanträge stellten. Dabei legten sie das an den Kläger zu 1) gerichtete Schreiben der Préfecture de la Côte-d’Or vom 25. Juli 2015 vor.
Am 4. Februar 2014 stellte das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch, das die französischen Behörden mit Schreiben vom 12. Februar 2014 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. d der Dublin III-Verordnung annahmen. Das Bundesamt lehnte sodann die Asylanträge der Kläger zunächst mit Bescheid vom 19. März 2014 als unzulässig ab und begründete dies mit der Zuständigkeit der französischen Behörden. Ein gegen die ablehnende Entscheidung des Bundesamts gerichtetes Eilverfahren blieb erfolglos; das Klageverfahren wurde mit Beschluss vom 7. April 2014 eingestellt, nachdem das Bundesamt den Bescheid vom 19. März 2014 nach Ablauf der Überstellungsfrist nach der Dublin III-Verordnung aufgehoben hatte.
Mit Schreiben vom 15. Juli 2015 teilte das Bundesamt dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit, dass es sich bei den Asylanträgen der Kläger um Zweitanträge handele und übersandte hierzu einen Fragebogen zum Stand des Verfahrens in Frankreich. Die Kläger schickten diesen Fragebogen nicht zurück, sondern ließen dem Bundesamt über ihren Prozessbevollmächtigten ein handschriftliches Schreiben zukommen, in dem sie darlegten, in ihrer Heimat verfolgt worden zu sein. In Frankreich habe man ihnen die Hilfe versagt und sie hätten dort mit ihrer schwangeren Tochter unter unzumutbaren Bedingungen leben müssen. Deshalb hätten sie Frankreich verlassen und seien nach Deutschland gereist.
Mit Schreiben vom 11. bzw. 18. Mai 2016 reichte der Prozessbevollmächtigte der Kläger beim Bundesamt ärztliche Atteste ein, die den Klägern verschiedene Krankheiten bescheinigten, so für die Klägerin zu 2) Hypertonie, Diabetes mellitus Typ II, depressive Störung, Schlafstörung und für den Kläger zu 1) Hypertonie und Hyperurikämie (Erhöhung des Harnsäurespiegels im Blut).
Mit Bescheid vom 18. Mai 2016 lehnte das Bundesamt es ab, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), drohte die Abschiebung nach Russland an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Kläger hätten keine Gründe für das Wiederaufgreifen des Verfahrens vorgetragen, sondern lediglich Angaben vorgebracht, die sie bereits in dem Asylverfahren in Frankreich hätte geltend machen können und müssen. Zudem lägen Abschiebungsverbote nicht vor.
Hiergegen haben die Kläger am 30. Mai 2016 Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschlüssen vom 12. Juli 2016 und 1. Februar 2017 lehnte das erkennende Gericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab (2 B 41/16 und 2 B 8/17).
Die Kläger machen geltend, zumindest die Klägerin zu 2) sei derart schwerwiegend erkrankt, dass sie mehrfach stationär habe untergebracht werden müssen. Diese Abschiebungsverbote seien neu und hätten von der Beklagten darum geprüft werden müssen. Der angefochtene Bescheid verhalte sich zu diesen Abschiebungshindernissen aber überhaupt nicht. Der Bescheid sei zudem schon deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte zu Unrecht von einer persönlichen Anhörung abgesehen habe. In der mündlichen Verhandlung führten die Kläger weiter aus, sie könnten nicht nach Russland zurückkehren, weil sie dort von einer Familie bedroht würden. Ihr Sohn, der deshalb ebenfalls nach Deutschland geflohen sei, habe eine verheiratete Frau mit Kind „gestohlen“, weshalb sie die Rache dieser Familie befürchten müssten.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz, weiter hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zuzuerkennen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung auf ihren Bescheid vom 18. Mai 2016.
Durch Beschluss vom 23. Mai 2018 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf das Terminsprotokoll verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, da jene mit der Ladung hierauf hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist hinsichtlich des Verpflichtungsantrags auf Gewährung internationalen Schutzes unzulässig (I.); soweit die Klage im Übrigen zulässig ist, ist sie unbegründet (II.).
I. In der vorliegenden prozessualen Konstellation, bei der die Kläger gegen die Entscheidung des Bundesamtes vorgehen, gemäß § 71a Abs. 1 AsylG kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, ist nach der im Entscheidungszeitpunkt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Rechtslage im Hinblick auf das Asylverfahren allein die Anfechtungsklage statthaft. Der ebenfalls gestellte Verpflichtungsantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Gewährung subsidiären Schutzes sind hingegen unzulässig. Insbesondere ist die Verpflichtungsklage hier nicht gegenüber der Anfechtungsklage im Hinblick darauf vorrangig, dass für das von den Klägern endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist.
Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG bzw. - hier - § 71a AsylG stellt sich nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes, auf dessen Regelung aufgrund des § 77 AsylG abzustellen ist, der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Insoweit gilt zumindest der in § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke, wonach das Bundesamt bei einer stattgebenden gerichtlichen Entscheidung das Asylverfahren fortzuführen hat. Diese Regelung gilt zwar unmittelbar nur für den Fall eines erfolgreichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, dessen in § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG geregelte, besondere Rechtsfolgen nicht verallgemeinerungsfähig sind. Letzteres gilt jedoch nicht für den in § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken. Dieser ist auf den Fall der Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG übertragbar und lässt darauf schließen, dass die verweigerte sachliche Prüfung vorrangig von der mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Fachbehörde nachzuholen ist. Ausgehend davon kommt auch ein eingeschränkter, auf die Durchführung eines (gegebenenfalls weiteren) Asylverfahrens gerichteter Verpflichtungsantrag nicht in Betracht, weil das Bundesamt hierzu nach Aufhebung der Entscheidung über die Unzulässigkeit automatisch verpflichtet ist (s. hierzu ausführlich BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 –, Rn. 19).
Diese Ausführungen gelten hier ungeachtet dessen, dass das Bundesamt die Anträge der Kläger nicht als unzulässig abgelehnt, sondern entsprechend der zuvor geltenden Rechtslage tenoriert hat, die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens werde abgelehnt. Denn auch insoweit ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 –, juris, Rn. 13 ff; VG Osnabrück, Urt. v. 27.02.2018 – 5 A 79/17 –, juris, Rn. 28).
Hinsichtlich nationaler Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist in der Hauptsache allerdings weiterhin eine (ggf. hilfsweise zu erhebende) Verpflichtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris, Rn. 20).
II. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Der Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der Bescheid ist im Einklang mit den geltenden Verfahrensvorschriften zustande gekommen.
Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Bundesamt die Kläger vor seiner Entscheidung nicht persönlich angehört hat. Soweit vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes regelmäßig eine persönliche Anhörung auch bei Zweitanträgen für erforderlich gehalten wurde (s. z. B. VG Berlin, Urt. v. 20.6.2016 – 33 K 154/15 A –, juris, Rn. 21), hat sich die Rechtslage geändert. Zwar ordnet § 71a Abs. 2 Satz 1 AsylG weiterhin die entsprechende Geltung u. a. von § 25 Abs. 1 AsylG an und scheint damit weiterhin von der Pflicht zur persönlichen Anhörung auszugehen. Die Rechtslage für Zweitantragsteller hat sich mit der letzten Änderung des AsylG und der inhaltlichen Neuregelung des § 29 AsylG zum 6. August 2016 jedoch maßgeblich geändert. Nach § 29 Abs. 2 AsylG ist eine persönliche Anhörung vor der Zulässigkeitsentscheidung nunmehr nur in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 1b bis 4 AsylG erforderlich (§ 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG), nicht aber für eine hier nach neuem Recht einschlägige Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Für diesen Fall gibt das BAMF gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG dem Ausländer (nur) Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 71 Abs. 3 AsylG. Der Wortlaut des § 29 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 71 Abs. 3 AsylG ist insoweit eindeutig. Eine persönliche Anhörung ist damit nicht (mehr) notwendig. Ausreichend ist vielmehr, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu geben (VG Bayreuth, Beschl. v. 26.07.2017 – B 1 K 17.31991 –, juris, Rn. 45; VG Ansbach, Beschl. v. 11.1.2017 – AN 2 S 16.32491 –, juris, Rn. 22 ff.).
Diese Vorschrift steht zwar im offenen Widerspruch zur Regelung des § 71a Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG, wonach eine persönliche Anhörung auch bei Zweitanträgen der Regelfall sein sollte. Indes ist sowohl der Wortlaut der neuen Vorschrift des § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG als auch der gesetzgeberische Willen insoweit eindeutig. So heißt es in den Gesetzesmaterialen zu der Neufassung des § 29 AsylG:
„Im Hinblick auf die Gründe des Absatzes 1 Nummer 5 ist eine persönliche Anhörung nach § 71 Abs. 3 AsylG nicht zwingend vorgeschrieben. Das ist mit europarechtlichen Vorgaben, insbesondere mit Artikel 40 Absatz 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2913 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vereinbar, da sich die dort getroffene Regelung auf einen ‚gesonderten Antrag‘ der abhängigen Person bzw. der oder des unverheirateten Minderjährigen bezieht, der im deutschen Recht nicht vorgesehen ist.“ (BT Drucks. 18/8615, S. 51).
Vor dem Hintergrund dieses klaren gesetzgeberischen Willens ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei seiner zum 6. August 2016 in Kraft getretenen Gesetzesänderung lediglich vergessen hat, die Vorschrift des § 71 Abs. 2 AsylG redaktionell anzupassen. Dass mit der Vorschrift des neuen § 29 Abs. 2 AsylG trotz des eindeutigen Wortlautes keine Veränderung verbunden sein sollte, kann schwerlich angenommen werden (VG Ansbach, Beschl. v. 11.1.2017 – AN 2 S 16.32491 –, juris, Rn. 25).
2. Die angegriffene Entscheidung des Bundesamts ist auch materiell rechtmäßig.
a) Rechtsgrundlage für Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ist § 71a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
aa) Der Anwendung dieser Rechtsgrundlage steht Europarecht nicht entgegen. Zwar haben die Kläger ihre Asylanträge schon am 11. Dezember 2013 und damit vor dem 20. Juli 2015 gestellt. Nach der Übergangsregelung in Art. 52 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichlinie n. F.) sind die Regelungen der Verfahrensrichtlinie n. F. somit auf den von den Kläger gestellten Asylantrag noch nicht anwendbar. Deshalb bestimmen hier die Vorgaben der Richtlinie 2005/85/EG (Verfahrensrichtlinie a. F.), unter welchen Voraussetzungen ein Asylantrag ohne Sachprüfung als unzulässig abgelehnt werden darf. Allerdings erlaubt auch Art. 25 Abs. 2 lit. d Verfahrensrichtlinie a. F. die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig, wenn der Asylbewerber nach einer rechtskräftigen Entscheidung einen identischen Antrag gestellt hat. Dabei beschränkt die Verfahrensrichtlinie a. F. diese Möglichkeit ebensowenig wie die Verfahrensrichtlinie n. F. auf Folgeanträge, die in demselben Mitgliedstaat gestellt werden (VG Berlin, Beschl. v. 17.7.2015 – 33 L 164.15 A –, juris, Rn. 10; zur europarechtlichen Zulässigkeit einer solchen Entscheidung bei einem mitgliedstaatsübergreifenden Folgeantrag s. VG Trier, Urt. v. 10.2.2016 – 5 K 3875/15.TR – juris, Rn. 42; offen gelassen von BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris, Rn. 26).
bb) Die Kläger haben beim Bundesamt auch einen Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestellt. Nach dieser Vorschrift liegt ein solcher Antrag vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt. Ein „erfolgloser Abschluss“ des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet werden kann, wobei eine solche Wiedereröffnung oder Wiederaufnahme nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen ist, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - BVerwG 1 C 4.16 -, juris, Rn. 29; Urt. v. 21.11.2017 - BVerwG 1 C 39.16, juris, Rn. 44).
Nach diesen Vorgaben ist zur Überzeugung der Einzelrichterin nachgewiesen, dass die Kläger ihr Asylverfahren in Frankreich erfolglos abgeschlossen haben. Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage der Einzelrichterin erklärt, sie hätten in Frankreich eine ablehnende Entscheidung erhalten. Rechtsmittel hätten sie hiergegen nicht eingelegt, weil ihr französischer Anwalt hiervon abgeraten und ihnen vielmehr empfohlen habe, nach Deutschland weiterzureisen. Diese Angaben der in der mündlichen Verhandlung anwaltlich nicht vertretenen Kläger werden gestützt durch die Verwaltungsvorgänge. So haben die französischen Behörden der Überstellung der Kläger nach Frankreich nach Maßgabe von Art. 18 Abs. 1 lit. d der Dublin III-Verordnung zugestimmt. Diese Vorschrift betrifft Rücküberstellungen in Fällen, in denen der zuständige Mitgliedstaat den Asylantrag bereits abgelehnt hat. Zudem haben die Kläger schon im Verwaltungsverfahren ein Schriftstück der Préfecture de la Côte-d’Or vom 25. Juli 2015 vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass der Asylantrag der Kläger abgelehnt worden sei und die Kläger hiergegen keine Rechtsmittel eingelegt hätten. Weiter ergibt sich aus dem Schreiben, dass die Kläger gegen die ablehnende Entscheidung ein „dossier de demande de réexamen“ – also einen Antrag auf erneute Überprüfung – gestellt haben, der indes mit dem Schreiben gleichfalls abgelehnt wird. Damit steht fest, dass das Asylverfahren der Kläger in Frankreich erfolglos abgeschlossen ist. Weder haben die Kläger etwas vorgetragen, was diese Feststellung in Zweifel ziehen könnte, noch ist sonst ersichtlich, warum die Mitteilung der französischen Behörden nicht zutreffen sollte.
Das in den Verwaltungsvorgängen befindliche Schreiben der Préfecture de la Côte-d’Or vom 25. Juli 2015 ist allerdings nur an den Kläger zu 1) gerichtet. Gleichwohl steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass auch das Asylverfahren der Klägerin zu 2) in Frankreich erfolglos abgeschlossen wurde. Die Einzelrichterin hat den Klägern in der mündlichen Verhandlung das an den Kläger zu 1) gerichtete Schreiben der französischen Behörden vorgehalten; die Kläger haben auf Nachfrage bestätigt, dass die Klägerin zu 2) ein ebensolches Schreiben erhalten habe.
Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Bundesamt bezüglich des gesamten Asylantrags – also sowohl hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch hinsichtlich der Gewährung subsidiären Schutzes – von einem Zweitantrag ausgegangen ist. Soweit in der Rechtsprechung gefordert wird, dass sich das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat auch auf die Gewährung des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes beziehen müsse und das Bundesamt dies ggfs. durch Vorlage des Tenors und/oder der Gründe der ablehnenden mitgliedstaatlichen Entscheidung nachweisen müsse (so etwa VG Trier, Urt. v. 10.2.2016 – 5 K 3875/15.TR – juris Ls. 2 und Rn. 54 ff.; VG E-Stadt, Beschl. v. 14.7.2016 – 1 AE 2790/16 – juris Ls. 2 und Rn. 10 u. 16 ff.; VG München, Beschl. v. 3.4.2017 – M 21 S 16.36125 –, juris, Rn. 18; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 19.01.2018 – 3 A 365/17 –, juris, Rn. 14) gilt dies nach Überzeugung der Einzelrichterin nur eingeschränkt. Denn soweit schon das europäische Recht eine vollständige Prüfung des internationalen Schutzes mit seinen beiden Bestandteilen Flüchtlings- und subsidiärer Schutz vorschreibt, gilt das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, wonach grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Mitgliedstaaten der europäischen Union die Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beachten. Vom Prinzip des gegenseitigen Vertrauens umfasst sind dabei auch die Gewährleistungen der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU, der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU sowie der relevanten Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (vgl. Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 24. Mai 2018 – 4 LB 17/17 –, Rn. 32, juris).
Die auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens gründende Vermutung gilt jedoch nur, soweit das europäische Recht tatsächlich im Zeitpunkt der Entscheidung des anderen Mitgliedstaats zwingende Verpflichtungen enthielt. Sofern eine solche zwingende Verpflichtung nicht bestand, kann auch die Vermutung gegenseitigen Vertrauens nicht greifen. Hier wurde der Asylantrag der Kläger in Frankreich am 23. Mai 2013 abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der subsidiäre Schutz bereits zwingend zu prüfender Bestandteil des europäischen Asylverfahrens gewesen sein. So wurde das Konzept des subsidiären Schutzes mit der Richtlinie 2004/83/EG (Umsetzungsfrist: 10. Oktober 2006) eingeführt. Gemäß Art. 2 lit. g der Richtlinie 2004/83/EG umfasste der Antrag auf internationalen Schutz sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch die Gewährung des subsidiären Schutzes. Dementsprechend dürften die Mitgliedstaaten schon mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 19. Oktober 2006 gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Richtlinie 2004/83/EG gehalten gewesen sein, unter Mitwirkung des Antragstellers „die für den Antrag“ – d. h. auch für den Antrag auf subsidiären Schutz – „maßgeblichen Anhaltspunkte“ zu prüfen. Diese Vorschriften unterscheiden sich insoweit nicht von den Regelungen der nachfolgenden Richtlinie 2011/95/EG (s. Art. 2 lit.h, Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EG). Ob gleichwohl mit dem Verwaltungsgericht München (Beschl. v. 3.4.2017 2017 – M 21 S 16.36125 –, Rn. 21, juris) davon auszugehen ist, dass die Prüfung des subsidiären Schutzes als Teil der Prüfung des unionsrechtlichen internationalen Schutzes erst durch die zum 9. Januar 2012 in Kraft getretene Richtlinie 2011/95/EU oder sogar noch später durch die Umsetzung der Verfahrensrichtlinie n. F. zum zwingenden Inhalt eines Asylverfahrens wurde, kann hier aber letztlich dahinstehen. Denn in Frankreich wurde das Konzept des subsidiären Schutzes, das dem subsidiären Schutz im Rahmen des internationalen Schutzes entspricht, bereits mit Gesetz vom 10. Dezember 2003 einigeführt (Loi n°2003-1176 du 10 décembre 2003 - art. 1 JORF 11 décembre 2003, in Kraft seit dem 1. Januar, s. nunmehr Article L721-1 Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile).
Vor diesem Hintergrund muss das Bundesamt das im Jahr 2013 geltende Prüfprogramm der französischen Behörden nicht durch Vorlage des Tenors und/oder der Gründe der französischen Entscheidung nachweisen, zumal fraglich ist, ob sich das Prüfprogramm aus dem Tenor, der sich nach den jeweiligen mitgliedstaatlichen Vorschriften richtet, überhaupt mit Sicherheit bestimmen ließe.
cc) Das Bundesamt hat in der Sache zutreffend entschieden, dass nach dem in Frankreich erfolglos abgeschlossenen Asylverfahren ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Zwar ist das Bundesamt nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständig geworden. Jedoch liegen die nach § 71a Abs. 1 AsylG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens erforderlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vor. Insbesondere hat sich weder die der ablehnenden Entscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert; noch liegen neue Beweismittel vor, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden.
(1) Die Rechtslage hat sich seit der französischen Entscheidung nicht in maßgeblicher Weise verändert. Insbesondere ist das von den Asylbehörden durchzuführende Prüfprogramm nicht durch das Inkrafttreten der Richtlinie 2011/95/EU oder der Verfahrensrichtlinie n. F. erweitert worden. Denn nach oben Gesagtem hatten die französischen Behörden schon nach dem im Jahr 2013 geltenden Recht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Gewährung subsidiären Schutzes gegeben waren.
(2) Auch hat sich die Sachlage nicht geändert. Auch dies steht zur Überzeugung der Einzelrichterin auch ohne Vorlage der vollständigen französischen Asylentscheidung fest (zu diesem Erfordernis s. VG München, Beschl. v. 27.12.2016 – M 23 16.33585 – juris Rn. 19 m.w.N.; VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 9.3.2017 – 6 L 203/17.A –, juris ). Denn die Kläger haben auch im Klageverfahren lediglich Gründe vorgetragen, die sie bereits in ihrem Asylverfahren in Frankreich geltend gemacht haben dürften bzw. jedenfalls hätten geltend machen können, so dass dieses Vorbringen zumindest nach § 71a Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen ist. Dass sich die für die Beurteilung ihrer Asylanträge maßgeblichen Umstände nachträglich geändert haben, haben sie weder dargetan, noch ist dies ersichtlich.
Insbesondere sind die nach dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten in der Klagebegründung vorliegenden Krankheiten der Klägerin keine für den Asylantrag maßgeblichen nachträglichen Änderungen, die das Bundesamt zu einem Wiederaufgreifen des Verfahrens zwingen würden. Denn etwaig vorliegende Erkrankungen sind für die Frage, ob die Kläger einen Anspruch auf internationalen Schutz nach § 3 oder 4 AsylG haben, irrelevant. Weder lässt sich hieraus ein Verfolgungsgrund i. S. d. § 3 AsylG ableiten, noch folgt daraus, dass den Klägern in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden i. S. d. § 3 AsylG drohen würde. Die geltend gemachten Erkrankungen spielen allenfalls auf der Ebene der Abschiebungsverbote eine Rolle, über die das Bundesamt als Annex zu seiner Entscheidung über den Zweitantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. § 31 Abs. 3 AsylG zu befinden hat.
cc) Aus dem Tenor von Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids, mit dem das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahren ablehnt, können die Kläger einen Anspruch auf Aufhebung des angefochtenen Bescheids nicht herleiten. Zwar entspricht der Tenor nach dem Inkrafttreten des Integrationsgesetzes nicht mehr den geltenden Vorgaben; vielmehr hätte das Bundesamt die Anträge der Kläger gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ablehnen müssen. Der unrichtige Tenor verletzt die Kläger jedoch nicht in ihren Rechten.
b) Die in Ziffer 2 des Bescheids enthaltene, gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. § 31 AsylG erforderliche Feststellung, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, ist ebenfalls nicht rechtswidrig. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Zu prüfen ist insoweit insbesondere Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll zudem von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Für das Vorliegen derartiger Abschiebungsverbote ist nichts ersichtlich; auch aus dem Vortrag der Kläger ergibt sich hierzu nichts Abweichendes.
Den Klägern droht keine unmenschliche Behandlung oder eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben aufgrund sozialer Verelendung. Eine solche ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Beide Kläger befinden sich bereits im Rentenalter, das in Russland bei Männern mit 60 Jahren und bei Frauen mit 55 Jahren beginnt. Ein Rentenanspruch besteht dabei bereits nach fünfjährigem Versicherungseintrag (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Russische Föderation –, Stand: 21. Juli 2017, S. 100,). Dabei sind die Renten zwar äußerst gering, so dass die Rentner ein Leben an der Grenze des Existenzminimums führen und stark von den Lebensmittelpreisen abhängig sind (Lagebericht des Auswärtigen Amts, Stand: April 2018, S. 21). Dennoch gehören die Rentner nicht zu den Verlierern der Politik. Weil die Rente die verlässlichste staatliche Transferleistung ist, sind die Rentner vielmehr ein Stabilisierungsfaktor in vielen Haushalten geworden (Lagebericht des Auswärtigen Amts, Stand: April 2018, S. 21). Die Kläger haben zudem nicht vorgetragen, nicht mehr arbeiten zu können. In ihrer Heimat hatten sie eine kleine Möbelwerkstatt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sie aufgrund ihrer Erkrankungen arbeitsunfähig sind. Es ist darum davon auszugehen, dass sie Geld zu etwaigen Rentenansprüchen hinzuverdienen können.
Den Klägern droht auch keine unmenschliche Behandlung oder eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben infolge der „Blutrache“, die sie von Seiten einer Familie aus St. Petersburg befürchten, nachdem ihr Sohn dieser Familie eine Frau „gestohlen“ hat. Es ist schon nicht ersichtlich, dass der Einfluss dieser Familie so groß ist, dass die Kläger befürchten müssten, im gesamten russischen Territorium der Bedrohung durch diese Familie ausgesetzt zu sein. Es ist auch nicht ersichtlich oder vorgetragen, dass der russische Staat nicht in der Lage wäre, die Kläger vor dieser Bedrohung zu schützen.
Schließlich besteht auch aus gesundheitlichen Gründen kein Abschiebungsverbot. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. zur Intention des Gesetzgebers: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, BT-Drs. 18/7538, S. 18 f.). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogene Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Nicht erforderlich ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG aber, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG aber auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (Nds. OVG, Beschl. v. 19.8.2016 – 8 ME 87/16 –, juris, Rn. 5 ff.).
Um ein entsprechendes Abschiebungshindernis feststellen zu können, ist eine hinreichend konkrete Darlegung der gesundheitlichen Situation erforderlich. Der Ausländer muss eine Erkrankung, welche die Abschiebung beeinträchtigen kann, gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, die insbesondere über die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation ergeben, berichtet (VG Lüneburg, Urt. v. 1.6.2017 – 2 A 10/15 –, juris, Rn. 21).
Unabhängig davon, ob die vorgelegten Attesten diesen Anforderungen genügen, ergibt sich aus ihnen jedenfalls nicht, dass die diagnostizierten Erkrankungen den im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1, 2 AufenthG erforderlichen Schweregrad aufweisen.
Aus den im behördlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Attesten vom 9. bzw. 10. Mai 2016 ergibt sich zwar, dass die Kläger an verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden. So liegen beim Kläger zu 1) laut ärztlichem Attest vom 10. Mai 2016 Hypertonie und Hyperurikämie vor; die Klägerin zu 2) leidet ausweislich eines ärztlichen Attests an Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, einer depressiven Störung sowie an Schlafstörungen. Nach dem mit Schriftsatz vom 15. Juni 2018 vorgelegten Entlassungsbrief befand sich die Klägerin zudem vom 26. bis zum 27. Oktober wegen einer Schmalkomplextachykardie mit einer regelmäßigen Herzfrequenz von 190/min in stationärer Behandlung. Aus alledem kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass bei den Klägern so schwerwiegende Krankheitsbilder vorliegen, dass bei ihrer Rückführung in ihr Herkunftsland eine wesentliche, lebensbedrohliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu erwarten ist. Insoweit wird insbesondere auf die Ausführungen in den Eilbeschlüssen vom 1. Februar 2017 (2 B 8/17) sowie 12. Juli 2016 (2 B 41/169) verwiesen. Auch die jüngst bei der Klägerin zu 2) diagnostizierte Schmalkomplextachykardie (eine Form des Herzrasens) weist diesen Schweregrad nicht auf, zumal das Herzecho der Klägerin zu 2) laut vorläufigem Entlassungsbericht vom 27. Oktober 2017 schon bei Entlassung wieder dem Normalbefund entsprach. Auch soweit die Klägerin zu 2) an einer behandlungsbedürftigen Diabetes mellitus leidet, ist eine lebensbedrohliche Verschlechterung ihres Zustands bei ihrer Rückkehr Russland nicht zu befürchten. Denn Diabetes zählt zu den Erkrankungen, für die Betroffene in Russland sogar kostenlos Medikamente erhalten (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Russische Föderation – , Stand: 21. Juli 2017, S. 107).
Der für die Annahme eines Abschiebungshindernisses erforderliche Schweregrad der Erkrankung ist namentlich auch hinsichtlich der psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2) nicht gegeben. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Präzisierung in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wonach eine Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vorliegt, klarstellen wollte, dass aufgrund der häufigen Geltendmachung schwer diagnostizier- und überprüfbarer Erkrankungen psychischer Art (z. B posttraumatische Belastungsstörungen) als Abschiebungshindernis nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben darstellen (Sächs. OVG, Urt. v. 20.4.2018 – 2 A 811/13.A –, Rn. 24, juris). Eine solche Erkrankung ergibt sich weder aus dem im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vorgelegten ärztlichen Gutachten vom 10. Januar 2017 zum psychopathologischen Status der Klägerin zu 2) noch aus dem im Vorfeld der mündlichen Verhandlung mit Schriftsatz vom 15. Juni 2018 übersandten Attest vom 5. April 2018. Dies kann auch nicht mit der – auch im Attest vom 5. April 2018 geäußerten – Befürchtung begründet werden, die Klägerin zu 2) sei suizidgefährdet. Das folgt insbesondere aus den Angaben im Entlassungsbericht des F. -Klinikums vom 18.8.2016, wo die Klägerin zu 2) wiederholt stationär behandelt wurde. Die behandelnden Ärzte erklären die dort von der Klägerin geäußerten Selbstmordabsichten mit der Hoffnung der Klägerin zu 2), in Deutschland bleiben zu können. Dass dieser Zusammenhang aktuell noch besteht, wurde auch in der mündlichen Verhandlung deutlich, als die Klägerin zu 2) bestätigte, dass sie in Russland noch nicht krank gewesen sei und sie selbst ihre Erkrankung vor allem auf den Stress zurückführe, den ihr der unsichere Aufenthaltsstatus bereite. Gefahren, deren Ursache nicht im Herkunftsland, sondern im Abschiebungsvorgang selbst liegen, begründen aber von vornherein keine im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG allein zu berücksichtigende zielstaatsbezogenen Gefahren (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 5.5.2015 – 6a K 4651/13.A –, Rn. 61).
Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass sich die psychische Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände bei ihrer Rückkehr so verschlechtern würde, dass insofern von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben ausgegangen werden müsste. Nach den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung absolviert sie derzeit eine Gesprächstherapie bei einem Psychiater in G., die indes nur alle drei Monate stattfindet. Schon aus diesem Behandlungsintervall lässt sich schließen, dass die Erkrankung der Klägerin den im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1, 2 AufenthG erforderlichen Schweregrad nicht erreicht, denn eine engmaschige Überwachung ist offenbar nicht erforderlich. Zudem könnte die Klägerin eine etwaig erforderliche Therapie auch in Russland fortsetzen. So besteht nach den aktuellen Erkenntnissen der Deutschen Botschaft (Auskunft der Deutschen Botschaft an das Sächs. OVG v. 31. Januar 2018) in Moskau in der Russischen Föderation ein funktionierendes Netz von psychoneurologischen Fürsorgestellen sowie Betreuungsstellen für psychisch kranke Patienten. Zudem sind diverse diverse Antideppressiva in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Russische Föderation –, Stand: 21. Juli 2017, S. 111).
Die Gefahr, dass sich bei Rückkehr der Klägerin zu 2) in ihr Herkunftsland die Erkrankung der Klägerin in dem von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geforderten Maße verschlechtern würde, besteht somit nicht.
c) Nach oben Gesagtem bestehen auch keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids sowie der in Ziffer 4 geregelten Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.