Landgericht Osnabrück
Beschl. v. 06.06.2016, Az.: 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16)

Vollstreckung der Untersuchungshaft gegen einen Angeklagten in anderer Sache hinsichtlich notwendiger Verteidigung; Verfahren gegen einen in anderer Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten ohne Erlass eines Haftbefehls in dieser Sache

Bibliographie

Gericht
LG Osnabrück
Datum
06.06.2016
Aktenzeichen
18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 18312
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOSNAB:2016:0606.18QS526JS9422.16.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Bad Iburg - 11.05.2016 - AZ: 23 Cs (526 Js 9422/16) 153/16

Amtlicher Leitsatz

§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO betrifft nicht solche Verfahren gegen einen in anderer Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten, in denen gar kein Haftbefehl erlassen wurde.

In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger: Rechtsanwalt Thilo Schäck, Seminarstraße 13/14, 49074 Osnabrück
hat das Landgericht Osnabrück - 18. Große Strafkammer - am 06.06.2016 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bad Iburg vom 11.05.2016, Az. 23 Cs (526 Js 9422/16) 153/16 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten im vorliegenden Verfahren vor, am 04.12.2015 den PKW mit dem amtlichen Kennzeichen pppp. in Dissen auf öffentlichen Straßen geführt und dabei eine Blutalkoholkonzentration von 1,91 Promille aufgewiesen und deutliche Ausfallerscheinungen gezeigt zu haben. Zudem soll er nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen sein.

Das Amtsgericht Bad lburg hat aufgrund dieses Sachverhalts am 29.03.2016 gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis (§§ 2, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG, 316 Abs. 1, 52, 69a StGB) erlassen und eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je EUR 20,00 verhängt. Hiergegen hat der Angeklagte durch seinen Wahlverteidiger unter dem 28.04.2016 Einspruch eingelegt. Die Hauptverhandlung soll am 08.06.2016 stattfinden.

Der Angeklagte ist in anderer Sache seit dem 31.03.2016 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Osnabrück vom selben Tag (Aktenzeichen 246 Gs (212 Js 16138/16) 199/16) in Haft. zurzeit in der JVA Lingen.

Mit dem Einspruchsschriftsatz gegen den Strafbefehl in dieser Sache hat der Wahlverteidiger des Angeklagten zugleich seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Das Amtsgericht Bad lburg hat die Beiordnung mit dem angegriffenen Beschluss vom 11.05.2016 abgelehnt. Gründe für die Bestellung eines Pflichtverteidigers seien nicht erkennbar. Insbesondere liege kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor, da der Angeklagte nicht in dieser Sache in Untersuchungshaft sei.

Gegen diesen Beschluss hat der Wahlverteidiger des Angeklagten mit Schriftsatz vom 23.05.2016 Beschwerde mit der Begründung eingelegt, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO sehe für einen Angeklagten, gegen den Untersuchungshaft vollstreckt werde, generell eine notwendige Verteidigung vor. Es sei insoweit unerheblich, in welcher Sache der vollstreckte Haftbefehl erlassen worden sei.

Das Amtsgericht Bad lburg hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.

Die Staatsanwaltschaft ist gehört worden.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.

2.

2. Die Beschwerde war als eine solche des Angeklagten selbst auszulegen. Zwar ist die Formulierung der Beschwerde insoweit missverständlich, dass es in der vom Verteidiger eingelegten Beschwerde heißt " ... lege ich ... Beschwerde ein". Dies kann durchaus so verstanden werden, dass es sich um, eine - mangels eigener Beschwer unzulässige - Beschwerde des Verteidigers im eigenen Namen handelt (vgl. so etwa OLG Hamm, 23.02.2006, 2 Ws 53, 54/06, NStZ 2007, 664). Speziell im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger, der vom Amtsgericht trotz ähnlicher Formulierung als ein solcher des Angeklagten ausgelegt worden war, ist in diesem Fall die Beschwerde jedoch zugunsten des Angeklagten so auszulegen, dass sie in seinem Namen eingelegt wurde.

3. Die Beschwerde ist nach § 304 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.

4. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor. Gegen den Angeklagten wird Untersuchungshaft vollstreckt, jedoch in anderer Sache. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO betrifft aber jedenfalls nicht solche Verfahren gegen einen in anderer Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten, in denen gar kein Haftbefehl erlassen wurde. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist nicht so weit auszulegen, dass bei bestehender Untersuchungshaft generell in allen Verfahren gegen den Angeklagten ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben wäre (LG Bonn, 28.09.2011, 21 Qs-223 Js 317/11-58/11, NStZ-RR 2012, 15; LG Oldenburg. 24.05.2011, 6 Qs 21/11, ZJJ 2011, 461; LG Saarbrücken, 16.06.2010, 3 Qs 28/10, ; AG Wuppertal, 10.03.2011, 12 Gs - 622 JS 7201110135/11, NStZ 2011, 720; Busch, NStZ 2011, 663; Peters/Krawinker, StRR 2011, 4 ff). Zwar wird eine solche weite Auslegung teilweise vertreten (OLG Hamm, 03.09.2013, 111-4 RVs 111/13, StV 2014, 274; OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19; LG Trier, 02.07.2015, 5 Qs 34/15, ; LG Nürnberg-Fürth, 29.05.2012, 5 Qs 53/12, StV 2012, 658; LG Berlin, 05.12.2011, 533 Qs 87/11, ; LG Stade, 30.03.2011, 11c Qs 123 Js 23051/10 (55/11), ; LG Köln, 28.12.2010, 105 Qs 342/10, STV 2011, 663; LG Itzehoe, 07.06.2010, 1 Qs 95/10, NStZ 2011, 56; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 140 Rz. 14; von Stetten, in: MAH Strafverteidigung, 2. Auflage 2014, § 16 Rz. 13; Laufhütte, in: KK-StPO,7. Aufl. 2013, § 140 Rz. 14; Burhoff, StRR 2011, 448, 449; Jahn, in: FS Rissing-van Saan 2011, S. 275, 282 f.). Ihr stehen aber nach Überzeugung der Kammer durchgreifende Bedenken entgegen, die die Richtigkeit einer engen Auslegung belegen.

a) Der Wortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist nicht eindeutig. Er sieht keine ausdrückliche Beschränkung auf das Verfahren vor, in dem Untersuchungshaft vollstreckt wird, obwohl dies durch eine Formulierung wie "in der betreffenden Sache" o.Ä. leicht hätte erreicht werden können (vgl. OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19). Ebenso wenig sieht er aber ausdrücklich eine Erstreckung auf alle Verfahren gegen den Inhaftierten vor, obwohl dies durch eine Formulierung wie "in der betreffenden oder einer anderen Sache" ebenso leicht hätte klargestellt werden können.

b) Der Sinn und Zweck der Regelung spricht gegen eine weite Auslegung. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO regelt nach der Vorstellung des Gesetzgebers unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten die Verteidigerbestellung als notwendiges Korrelat zum Grundrechtseingriff durch die Inhaftierung (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/13097 vom 20.05.2009, S. 18 f.).

Zwar lässt sich für eine weite Auslegung insoweit anführen, der Grundrechtseingriff durch die Inhaftierung wirke sich mittelbar auf alle Verfahren gegen den Inhaftierten aus, da die Haft ihm generell die Organisation seiner Verteidigung erschwere.

Der konkrete Sinn und Zweck der Regelung ist aber enger zu verstehen. Die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO soll dem Beschuldigten ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung selbst zeitnah effektiv zu überprüfen (Gesetzesbegründung aaO.). Die Verteidigerbestellung ist zu diesem Zweck als Teil des Haftverfahrens ausgestaltet. Dies zeigt sich schon daran, dass § 141 Abs. 3 S. 4 StPO den Bestellungszeitpunkt gegenüber der allgemeinen Regelung des § 141 Abs. 1 StPO wesentlich nach vorne verlagert, auf den Zeitpunkt des Vollstreckungsbeginns der Untersuchungshaft. Zudem soll die Notwendigkeit der Verteidigerbestellung nur solange bestehen, wie die Haft tatsächlich vollstreckt wird (Gesetzesbegründung aaO.). Vor allem aber soll der Verteidiger abweichend von der allgemeinen Regel des § 141 Abs. 4 im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO durch das nach § 126 StPO zuständige Gericht bestellt werden (§ 141 Abs. 4 StPO a.E.), im Zweifel also das den Haftbefehl erlassende Gericht (§ 126 Abs. 1 StPO).

Der damit erkennbar werdende, unmittelbar auf die Haftprüfung bezogene Zweck des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO betrifft nur das Verfahren, in dem die Haft angeordnet ist, nicht andere Verfahren gegen den Inhaftierten. Auch wenn man den Zweck des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO darin sieht, eine Verkürzung der Haftzeiten zu fördern (so: Michalke, NJW 2010, 17 f.), spricht dies für eine enge Auslegung. Die Haftverkürzung kann sich nur durch beschleunigten Ablauf des Verfahrens realisieren, in dem die Haft angeordnet ist, betrifft aber nicht andere Verfahren gegen den Inhaftierten (vgl. LG Saarbrücken, 16.06.2010, 3 Qs 28/10, ; AG Wuppertal, 10.03.2011, 12 Gs — 622 JS 7201/10/35/11, NStZ 2011, 720).

c) Die Gesetzgebungsgeschichte stützt ebenfalls eine enge Auslegung.

aa) Der Gesetzgeber hat sich bei der Einführung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO maßgeblich auf den Europarat und dessen Empfehlung Rec(2006)13 (Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedsstaaten betreffend die Anwendung von Untersuchungshaft, die Bedingungen, unter denen sie vollzogen wird, und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch vom 27. September 2006) bezogen (BT-Drucks. 16/13097 vom 20.05.2009, S. 18). Diese vom Gesetzgeber in Bezug genommene Empfehlung betrifft ihrerseits eindeutig nur das Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollstreckt wird. So heißt es dort an der entsprechenden Stelle (Rec(2006)13 Ziffer 25 Abs. 2):

"Die Person, gegen die Untersuchungshaft beantragt werden soll, muss im Haftverfahren ein Recht auf Beistand durch einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin und angemessene Gelegenheit haben, diesen Anwalt/diese Anwältin zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu konsultieren."

bb) Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber die Verteidigerbestellung für einen Untersuchungshäftling anlässlich der Reform der Untersuchungshaft in den allgemeinen Katalog des § 140 StPO eingereiht hat. Die Verlagerung der Verteidigerbestellung bei Untersuchungshaft aus dem § 117 Abs. 4 StPO in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO verdeutlicht lediglich, dass es sich nun um einen Fall notwendiger Verteidigung handelt und frühere Einschränkungen wie das Antragserfordernis nicht mehr gelten sollen. Dass mit der Eingruppierung der Nr. 4 in den § 140 StPO zugleich eine Übertragung der zu Nr. 5 entwickelten Dogmatik beabsichtigt war, wo nach weit überwiegender Auffassung für alle Verfahren gegen den Inhaftierten ein Verteidiger zu bestellen ist, kann den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnommen werden (a.A. zur Übertragbarkeit der Dogmatik: OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19).

d) Die Systematik der §§ 140, 141 StPO spricht ebenfalls für eine enge Auslegung.

aa) § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO enthält bereits eine allgemeine Regelung zur notwendigen Verteidigung bei Haft, stellt dabei aber zusätzliche Voraussetzungen auf. Umgekehrt soll also offenkundig, wie auch vom Amtsgericht dargelegt, nicht jede Haft zu einem Fall der notwendigen Verteidigung führen. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO soll diese Nr. 5 für den Fall der Untersuchungshaft ergänzen, im Übrigen aber nicht ersetzen (BT-Drucks. 16/13097 vom 20.05.2009, S. 19). Wäre jedoch nach Nr. 4 in Fällen der Untersuchungshaft für alle Verfahren gegen den Inhaftierten stets notwendig ein Verteidiger zu bestellen, in anderen Fällen der Haft aber nach Nr. 5 nur unter zusätzlichen Voraussetzungen, ergäbe sich ein Widerspruch zwischen den Nummern 4 und 5 und eine ungerechtfertigte Privilegierung der Untersuchungshaft (vgl. LG Oldenburg, 24.05.2011, 6 Qs 21/11, ZJJ 2011, 461; AG Wuppertal, 10.03.2011, 12 Gs — 622 JS 7201/10/35/11, NStZ 2011, 720). Diese ließe sich mit der für den Untersuchungshäftling geltenden Unschuldsvermutung nicht hinreichend erklären. Denn es geht bei der hier zu entscheidenden Frage um die Bestellung eines Verteidigers für Verfahren, die so oder so nicht mit der Haft in Zusammenhang stehen. In diesen haftfremden Sachen gilt aber für alle Angeklagten, ob in anderer Sache in Untersuchungshaft oder in regulärer Haft, in gleicher Weise die Unschuldsvermutung. Auch ist nicht erkennbar, dass die Untersuchungshaft die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten mehr einschränkte als andere Formen der Haft (vgl. LG Oldenburg, 24.05.2011, 6 Qs 21/11, ZJJ 2011, 461).

bb) Erst Recht sprechen § 141 Abs. 3 S. 4 und Abs. 4 StPO systematisch für eine enge Auslegung (vgl. LG Bonn, 28.09.2011, 21 Qs-223 Js 317/11-58/11, NStZ-RR 2012, 15). Sie sehen im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO die Verteidigerbestellung unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung des Haftbefehls vor und zwar durch das nach § 126 StPO zuständige Gericht, also das den Haftbefehl erlassende Gericht bzw. das Gericht der Hauptsache in der Haftsache (dazu auch schon oben). Der Gesetzgeber hat dies wie folgt begründet (BT-Drucks. 16/13097 vom 20.05.2009, S. 19):

"§ 141 Abs. 3 Satz 4 StPO-E bestimmt, dass der Verteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 SIPO-E unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung zu bestellen ist. Dem Gericht muss nach der Verkündung des Haftbefehls (soweit dieser nicht gleichzeitig außer Vollzug gesetzt wird) ein gewisser zeitlicher Spielraum bis zur Bestellung zugebilligt werden. Nicht immer wird ein von dem Beschuldigten gewünschter, bestimmter Verteidiger unmittelbar erreichbar und bereit sein, die Verteidigung zu übernehmen. Insbesondere auch bei einer Haftbefehlsverkündung am Wochenende wird häufiger zudem nicht sofort ein Verteidiger zu finden sein. Dem trägt die Formulierung mit dem Wort 'unverzüglich' (ohne schuldhaftes Zögern) Rechnung.

Die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung weist der Entwurf gemäß § 141 Abs. 4 StPO-E dem nach § 126 StPO zuständigen Gericht zu. Das ist sachgerecht, weil dieses Gericht am besten mit der Sache vertraut ist, und zwar insbesondere auch dann, wenn der Haftbefehl (oder Unterbringungsbefehl nach § 126a StPO) durch das 'nächste' Amtsgericht (§ 115a StPO) verkündet worden ist. Im Fall von § 275a Abs. 5 StPO ist das dort genannte Gericht auch für die Bestellung des Verteidigers zuständig."

Erneut hatte der Gesetzgeber also offensichtlich ausschließlich die Verteidigerbestellung in der Sache im Blick, in der die Untersuchungshaft vollstreckt wird. Systematisch macht insbesondere die Zuständigkeitsregelung in § 141 Abs. 4 StPO deutlich, dass die Wirkung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf dieses Verfahren beschränkt ist. Es wäre schwerlich nachzuvollziehen, wieso mit dem nach § 126 StPO zuständigen Gericht ein u.U. insoweit völlig sachfremdes Gericht in weiteren Sachen gegen den in Haft zu Nehmenden nicht nur über die Bestellung eines Verteidigers entscheiden sollte, sondern dies auch noch unverzüglich nach Haftbeginn - ohne dass überhaupt gewährleistet wäre, dass das Gericht von der anderen Sache Kenntnis hat. Man stelle sich den Extremfall vor, dass der wegen Diebstahls vor dem Amtsgericht in Passau Angeklagte in Osnabrück wegen der Einfuhr von Betäubungsmitteln in Haft genommen wird. Sollte dann vom Amtsgericht Osnabrück erwartet werden, nicht nur Kenntnis vom Verfahren in Passau zu haben, sondern auch noch für das dortige Verfahren - ohne Einschaltung des Passauer Gerichts - einen Verteidiger zu bestellen?

Zu dieser Erwägung passt, dass nach den oben wiedergegebenen Vorstellungen des Gesetzgebers die Formulierung "unverzüglich" lediglich Schwierigkeiten bei der Erreichbarkeit eines Verteidigers Rechnung tragen soll, der Gesetzgeber aber mit keinem Wort Informationsdefizite betreffend andere Verfahren anspricht (ebenso: LG Bonn, 28.09.2011, 21 Qs-223 Js 317/11-58/11, NStZ-RR 2012, 15). Offensichtlich sah er solche nicht als relevant an, da § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO solche Verfahren gar nicht erfassen sollte. Ebenso passt die gesetzgeberische Aussage, der nach § 126 StPO zuständige Richter sei "am besten mit der Sache vertraut" nur zu dem Verfahren, in dem Haft angeordnet ist (wiederum ebenso: LG Bonn, 28.09.2011, 21 Qs-223 Js 317/11-58/11, NStZ-RR 2012, 15).

Zwar mag das nach § 126 StPO zuständige Gericht am besten mit den Umständen der Haftsache und der zu erwartenden Dauer der Haft vertraut sein (vgl OLG Frankfurt, 22.04.2010; 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19). Es kann aber nicht pauschal angenommen werden, es sei regelmäßig auch am besten mit den Anforderungen vertraut, die weitere eventuell anhängigen Verfahren gegen den Inhaftierten an die Verteidigung stellen. Insoweit ist es oftmals gerade nicht mit der "Sache" vertraut, da diese Verfahren an einem gänzlich anderen Ort ablaufen mögen. Im Übrigen mag sich nach Eröffnung der Hauptverhandlung die Zuständigkeitsregelung des § 126 Abs. 2 mit der des § 141 Abs. 4 Hs. 1 StPO decken (vgl. OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19). Eben dass der Gesetzgeber hier eine parallele Regelung vorgenommen hat, macht aber die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO und den anderen Fällen des § 140 Abs. 1 StPO deutlich.

Systematisch wäre es schließlich auch nicht nachvollziehbar, wieso die Dauer der Verteidigerbestellung in einem Verfahren davon abhängen soll, ob in einem anderen Verfahren aktuell Haft vollstreckt wird oder nicht (vgl. AG Wuppertal, 10.03.2011, 12 Gs 622 JS 7201/10/35/11, NSIZ 2011, 720). Eben deshalb sieht § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO diese Verknüpfung auch nur bei länger andauernder Haft vor.

e) Abschließend spricht für eine enge Auslegung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO der Bezug zu § 68 JGG. Dort ist in § 68 Nr. 1 JGG geregelt, dass einem jugendlichen Angeklagten in allen Fällen ein Verteidiger zu bestellen ist, in denen einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre. Zusätzlich regelt § 68 Nr. 5 JGG, dass ein Verteidiger dann zu bestellen ist, wenn der Jugendliche in Untersuchungshaft ist. Zu § 68 Nr. 5 JGG war bereits vor Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO anerkannt, dass er alle Verfahren gegen den inhaftierten Jugendlichen erfasst (vgl. LG Saarbrücken, 01.10.2007, 4 Qs 55/07 I, ZJJ 2007, 447; LG Berlin, 25.07.2005, 509 Qs 33/05; NStZ 2007, 47; Eisenberg, JGG, 18. Aufl. 2016, § 67 Rz. 31). Sollte § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ebenfalls alle Verfahren gegen einen Inhaftierten erfassen, bliebe für § 68 Nr. 5 neben § 68 Nr. 1 JGG kein eigener Anwendungsbereich und .er hätte gestrichen werden können (vgl. OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19). Sieht man in der fehlenden Streichung keinen gesetzgeberischen Irrtum (so OLG Frankfurt, 22.04.2010, 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19), muss man aus dem Bestehenlassen des § 68 Nr. 5 JGG folgern, dass § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht ebenso weit auszulegen sein kann.

5. Auch aus anderen Gründen als nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht gegeben.

a) Es ist nicht erkennbar, dass eine der anderen Nummern des § 140 Abs. 1 StPO einschlägig wäre. Insbesondere ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegt nicht vor. Der Angeklagte ist am voraussichtlichen Beginn der Hauptverhandlung am 08.06.2016 nicht seit drei Monaten in Haft. Die Hauptverhandlung soll am 08.06.2016 stattfinden, der Angeklagte ist erst seit dem 30.03.2016 in Haft.

b) Ebenso wenig ist ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO gegeben. Die Tat ist weder besonders schwerwiegend noch ist eine schwierige Sach- und Rechtslage gegeben. Die zu erwartenden Rechtsfolgen der Tat sind nicht so schwerwiegend, dass die Bestellung eines Verteidigers geboten wäre. Insbesondere ist im Hinblick auf den gegenständlichen Tatvorwurf nicht mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen. Die Sach- und Rechtslage ist übersichtlich. Der Anklagevorwurf bezieht sich auf ein übersichtliches, kurzes Geschehen und stützt sich auf ein eine überschaubare Zahl an Zeugenaussagen und das Ergebnis einer Blutentnahme. Die rechtliche Bewertung ist nicht erkennbar schwierig. Auch andere Umstände, die eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage zu begründen vermögen, wie eine mögliche Schuldunfähigkeit des Angeklagten, vermag die Kammer nicht zu erkennen.

IlI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.