Sozialgericht Stade
v. 07.05.2020, Az.: S 23 R 46/18

Anspruch auf volle Erwerbsminderung auf Zeit

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
07.05.2020
Aktenzeichen
S 23 R 46/18
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2020, 31746
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Unter Aufhebung des Bescheides vom 6. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2018 wird die Beklagte dazu verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit aufgrund eines Leistungsfalls am 6. Juni 2017 nach den gesetzlichen Vorschriften bis zum 30. April 2023 zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

Die 1963 geborene Klägerin begeht die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie befand sich im Jahr 2010 in einer orthopädischen Reha. Sie wurde damals mit einer Arbeitsfähigkeit von über sechs Stunden täglich entlassen. Am 6. Juni 2017 stellt sie einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, da ihre orthopädischen Beschwerden schlimmer geworden seien. Die Beklagte zog daraufhin Befundberichte bei. Aus dem Bericht vom 26. April 2017 von Dr. D. ergab sich, dass die Klägerin dort im April 2017 in Behandlung war und an deutlichen Rückenschmerzen litt. Die Beklagte holte daraufhin ein orthopädisches Gutachten, welches am 7. August 2017 von Dr. E. erstattet wurde, ein. Auch dort wurden deutliche Beschwerden von ihr geäußert. Er stellt chronische Rückenschmerzen bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule fest. Die allgemeine Leistungsfähigkeit der Klägerin schätzte er auf mindestens sechs Stunden täglich ein. Auf den weiteren Inhalt des Gutachtens wird ergänzend Bezug genommen. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 6. September 2017 den Rentenantrag ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2018 zurückgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin am 15. Februar 2018 Klage vor dem Sozialgericht Stade erhoben. Sie trägt vor, dass sie neben ihren orthopädischen Beschwerden an einer Schmerzerkrankung leide, die zu einer schweren Depression geführt habe, weswegen sie nicht mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig sei.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 6. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2018 die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Erwerbsminderungsrechte zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass eine Erwerbsminderung nicht im Vollbeweis nachgewiesen sei. Das Gericht hat einen Befundbericht von Dr. D. eingeholt. Dieser hat in seinem Schreiben vom 11. April 2018 angegeben, dass die Klägerin noch leichte körperliche Tätigkeiten vollschichtig durchführen könne. Mit ärztlichem Befundattest vom 4. Juni 2018 ist vom Orthopäden F. angegeben worden, dass die Klägerin wegen deutlicher Schmerzen auch an Depression erkrankt sei und auch keine leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr durchführen könne. Auf den weiteren Inhalt dieser Berichte wird ergänzend Bezug genommen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines psychosomatischen Gutachtens, welches am 29. September 2018 von Dr. G. stellt worden ist. Neben einer ausführlichen Amnese sind auch psychopathologische Befunde erhoben worden. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten könne, öffentliche Verkehrsmittel nicht nutzen könne und es bei einer Tätigkeit wegen der Schmerzsymptomatik und Depressivität zu einer 30%igen Ausfallquote kommen würde. Bei einer Berücksichtigung der vorhandenen Befunde bestehe das Krankheitsbild seit dem 6. Juni 2017. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es zu einer Verbesserung des Leistungsvermögens kommen könne. Mit Schreiben vom 27. November 2018 hat die Beklagte die Stellungnahme ihres Beratungsarztes mitgeteilt. Dieser ist der Auffassung, dass die Auswirkungen auf das Leistungsvermögen weniger gravierend ausgeprägt seien. Die Gutachterin würde ihre Ergebnisse zu sehr auf die subjektiven Angaben der Klägerin stützen. Hierzu hat die Gutachterin im Auftrag des Gerichts ergänzend Stellung genommen. Die Beklagte hat daraufhin eine weitere Stellungnahme ihres beratungsärztlichen Dienstes mitgeteilt. Auf den weiteren Inhalt des Gutachtens und der beratungsärztlichen Stellungnahme wird ergänzend Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 20. April 2020 hat die Beklagte das Gericht darüber informiert, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente bei der Klägerin letztmalig am 31. Juli 2018 erfüllt gewesen sind. Das Gericht hat die Beteiligten bezüglich einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Entscheidungsgründe

Das Gericht kann gemäß § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist und die Sache rechtlich einfach ist. Die Beteiligten sind vorher angehört worden. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf volle Erwerbsminderung auf Zeit. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Wie die Beklagte in ihrem Schreiben vom 20. April 2020 mitteilt, sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bis zum 31. Juli 2018 erfüllt. Nach Feststellung des Gerichts ist die Klägerin bereits zuvor seit dem 6. Juni 2017 voll erwerbsgemindert gewesen. Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind Versicherte voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin seit dem 6. Juni 2017 außerstande ist, drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Überzeugung hat sich das Gericht anhand des Gutachtens von Frau Dr. Sauer vom 29. September 2018 gebildet. Das Gutachten ist überzeugend, nachvollziehbar, widerspruchsfrei und schlüssig. Anders als der beratungsärztliche Dienst der Beklagten meint, resultiert die Bewertung der Leistungseinschränkung nicht aus den subjektiven Angaben der Klägerin, sondern aufgrund der Befunderhebung durch die Gutachterin. Dass sie aufgrund dieser Befunde zu einer Leistungseinschränkung von unter drei Stunden kommt, ist überzeugend. So wird bei der Klägerin eine deutliche Auffassungsstörung und Konzentrationsstörung festgestellt. Die Klägerin hat erhebliche Schwierigkeiten Daten zuzuordnen. Die Gutachterin hat somit deutliche Funktionseinschränkungen der Klägerin festgestellt. Dass diese strukturellen Störungen es der Klägerin unmöglich machen, mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten, ist nachvollziehbar. Nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachterin ist sie dadurch in ihrer Anpassung an Regeln und Routinen hoch eingeschränkt, in der Strukturierung von Aufgaben sehr hoch eingeschränkt, in der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit sehr hoch eingeschränkt, in der Anwendung fachlicher Kompetenz hoch eingeschränkt, in der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit hoch eingeschränkt und in der Durchhaltefähigkeit hoch eingeschränkt. Das Gericht kann selbst nicht erkennen, wie jemand mit einer derartig starken Einschränkung noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein soll. Dass der beratungsärztliche Dienst der Beklagten bemängelt, dass die Klägerin sich bisher nicht psychiatrische oder psychologische Hilfe geholt hat, steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Wie die Gutachterin ausführt, leidet die Klägerin an einer chronischen somatischen Schmerzstörung. Die Klägerin erkennt selbst somit nicht ausreichend, dass es sich bei ihren Beschwerden um psychische Probleme handelt, sondern verordnet diese im somatischen Bereich. Bezüglich ihrer Schmerzen hat die Klägerin auch seit 2017 Behandlungsversuche auf orthopädischem Fachgebiet unternommen. Anders als der beratungsärztliche Dienst der Beklagten meint, hat die Klägerin somit Behandlungsversuche unternommen, so dass ein Leidensdruck dadurch deutlich wird. Die Klägerin ist auch deswegen voll erwerbsgemindert, da sie gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI aufgrund der Schwere ihrer Erkrankungen nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann. Wie die Gutachterin überzeugend ausführt, kann die Klägerin aufgrund ihrer Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Da sie keinen Führerschein hat, ist es ihr somit krankheitsbedingt unmöglich, zumutbar eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Des Weiteren ergibt sich die volle Erwerbsminderung daraus, dass die Klägerin aufgrund ihrer Schmerzsymptomatik und Depressivität während eines Jahre ca. 30% der Arbeitszeit ausfallen würde. Dies wird überzeugend durch die Gutachterin dargestellt. Eine so hohe Ausfallquote wird auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht toleriert. Eine regelmäßige Beschäftigung kann dadurch nicht vorgenommen werden. Gegen das Gutachten spricht auch nicht das orthopädische Gutachten von Dr. E ... Diesem ist zu folgen, dass die Klägerin auf orthopädischem Fachgebiet noch mehr als sechs Stunden täglich arbeiten könnte. Durch ihn ist jedoch keine psychosomatische Befunderhebung und Einschätzung erfolgt, da dies auch nicht seinem Fachgebiet entspricht. Die Rente ist gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI befristet zu gewähren. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Sie kann jedoch verlängert werden. Da die im Jahr 2017 beantragte Rente erst durch das Gericht festgestellt wird und der Dreijahreszeitraum bereits dieses Jahr abläuft, ist es vorliegend sachgerecht, jetzt schon eine Verlängerung der Rente für weitere drei Jahre ab Entscheidung des Gerichts vorzunehmen. Die Gewährung einer unbefristeten Rente kommt nicht in Betracht, da es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Die Gutachterin hat überzeugend ausgeführt, dass eine Verbesserung noch möglich ist. Als medizinischer Leistungsfall wird der Tag des Antrags am 6. Juni 2017 festgestellt. Die Gutachterin Dr. Sauer hat überzeugend dargestellt, dass aufgrund der im April 2017 begangenen neurochirurgischen Behandlungen die aktuelle Symptomatik bereits am 6. Juni 2017 bestanden hat. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.