Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 21.01.2016, Az.: 6 B 647/15
Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bzgl. der Aufforderung zur Ausreise unter Androhung der Abschiebung in den Kosovo; Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung; Voraussetzungen für den Eintritt der Rücknahmefiktion eines Asylantrags; Hinreichende Belehrung des Antragsteller in der Betreibensaufforderung bzgl. des Asylantragsverfahrens
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 21.01.2016
- Aktenzeichen
- 6 B 647/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 23495
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2016:0121.6B647.15.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
- § 25 Abs. 5 AsylG
- § 32 AsylG
- § 33 Abs. 1 S. 1 AsylG
- § 75 Abs. 1 AsylG
- § 60 Abs. 5 AufenthG
- § 60 Abs. 7 AufenthG
In der Verwaltungsrechtssache
1. der Frau A.,
2. der B.,
3. des C.,
4. der D., Staatsangehörigkeit: kosovarisch,
Antragsteller,
Proz.-Bev. zu 1-4: Rechtsanwalt Zaizaa,
Grauhorststraße 15, 38440 Wolfsburg, - E. -
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg, - -
Antragsgegnerin,
Streitgegenstand: Asylrecht - Eilverfahren
- hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO -
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 6. Kammer - am 21. Januar 2016 durch den Einzelrichter
beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. November 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mit Bescheid vom 17. November 2015 festgestellt, dass der Asylantrag der Antragsteller als zurückgenommen gilt und das Verfahren eingestellt ist; außerdem hat das Bundesamt die Antragsteller in dem Bescheid unter Androhung ihrer Abschiebung in den Kosovo zur Ausreise aufgefordert und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Der dagegen gerichtete Antrag der Antragsteller auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern erhobenen Klage gegen die gemäß § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbare Entscheidung des Bundesamts anordnen, wenn sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage ergibt, dass die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird. Dies ist hier der Fall. Die Feststellung der Antragsgegnerin, dass der Asylantrag der Antragsteller als zurückgenommen gilt, ist rechtswidrig.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren trotz Aufforderung des Bundesamtes länger als einen Monat nicht betreibt. Die Regelung ist nach ständiger Rechtsprechung verfassungskonform dahin auszulegen, dass die Rücknahmefiktion nur eintritt, wenn für die Betreibensaufforderung durch das Bundesamt ein besonderer Anlass bestanden hat: Es müssen Anhaltspunkte dafür vorgelegen haben, dass der Ausländer erkennbar kein Interesse mehr an der Fortführung des Verfahrens hat (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl., § 33 Rn. 4; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand: Dezember 2015, § 33 Rn. 12 und 6, jew. m. w. N.). Darüber hinaus tritt die Rücknahmefiktion nur ein, wenn das Bundesamt den Ausländer in der Betreibensaufforderung ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen des Nichtbetreibens belehrt hat (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 2 AsylG und Funke-Kaiser, a. a. O., Rn. 29).
Danach ist die Feststellung, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, hier schon deswegen nicht gerechtfertigt, weil das Bundesamt die Antragsteller in der Betreibensaufforderung vom 25. September 2015 nicht hinreichend über die Rechtsfolgen belehrt hat. Eine ordnungsgemäße Belehrung verlangt nicht nur den - gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen - Hinweis darauf, dass der Asylantrag im Fall des Nichtbetreibens als zurückgenommen gilt (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet darüber hinaus, den Asylbewerber darüber zu belehren, dass das Bundesamt im Fall der Verfahrensbeendigung gemäß § 32 AsylG ohne weitere Anhörung nach Aktenlage über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG entscheidet (BVerwG, U. v. 05.09.2013 - 10 C 1/13 -, Rn. 31 = BVerwGE 147, 329 = NVwZ 2014, 158; Marx, a. a. O., Rn. 15; Funke-Kaiser, a. a. O., Rn. 29). Eine solche Entscheidung hat das Bundesamt hier in dem angegriffenen Bescheid getroffen, ohne die Antragsteller zuvor darüber belehrt zu haben.
Unabhängig davon hat nach der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung ein hinreichender Anlass für die Betreibensaufforderung durch das Bundesamt nicht bestanden. Es dürfte keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gegeben haben, dass die Antragsteller nicht mehr an der Fortführung des Verfahrens interessiert waren. Soweit das Bundesamt in der Betreibensaufforderung darauf hinweist, dass die Antragsteller die anberaumten Termine ohne genügende Entschuldigung nicht wahrgenommen und die "Aufforderung" zur schriftlichen Stellungnahme mit Schreiben vom 25. August 2015 nicht beachtet hätten, hat dies nach den vorliegenden Unterlagen nicht den Erlass einer Betreibensaufforderung gerechtfertigt.
Für den Erlass einer solchen Aufforderung reicht es nicht aus, wenn der Ausländer trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur Anhörung vor dem Bundesamt erschienen ist (ebenso Funke-Kaiser, a. a. O., Rn. 23). Folgt der Ausländer ohne genügende Entschuldigung einer Ladung des Bundesamtes zur Anhörung nicht, so ist ihm Gelegenheit zu geben, schriftlich innerhalb eines Monats Stellung zu nehmen (§ 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Äußert sich der Ausländer in dieser Frist nicht, entscheidet das Bundesamt nach Aktenlage, wobei auch die Nichtmitwirkung des Ausländers zu würdigen ist (§ 25 Abs. 5 Satz 3 AsylG). Aus den Regelungen in § 25 Abs. 5 AsylG ergibt sich damit der gesetzliche Grundsatz, dass das Bundesamt auch bei Nichterscheinen des Ausländers zur Anhörung eine Sachentscheidung zu treffen hat. Demgegenüber lässt sich aus § 25 Abs. 5 Satz 4 AsylG, wonach § 33 AsylG unberührt bleibt, kein Wahlrecht des Bundesamtes zwischen Sachentscheidung und Betreibensaufforderung herleiten. Unter Berücksichtigung der Systematik des § 25 Abs. 5 AsylG kann dem Hinweis auf § 33 AsylG nur die Bedeutung zukommen, dass das Bundesamt bei Nichterscheinen des Ausländers zur Anhörung nach § 33 AsylG vorgehen kann, wenn zusätzliche Umstände Anlass geben, am Fortbestehen des Bescheidungs- oder Rechtsschutzinteresses zu zweifeln (ebenso im Ergebnis Funke-Kaiser, a. a. O., m. w. N.).
Auch die Tatsache, dass die Antragsteller keine schriftliche Stellungnahme zu ihrem Asylantrag vorgelegt hatten, rechtfertigte nicht den Erlass der Betreibensaufforderung. Die Betreibensaufforderung darf nur auf die Erfüllung einer gesetzlichen Mitwirkungspflicht gerichtet sein (vgl. Marx, a. a. O., Rn. 13; Funke-Kaiser, a. a. O., Rn. 30). Mit Schreiben vom 25. August 2015, auf das die Betreibensaufforderung Bezug genommen hat, hatte das Bundesamt den Antragstellern nach deren Nichterscheinen zum Anhörungstermin jedoch lediglich Gelegenheit gegeben, sich zur Begründung ihres Asylantrags schriftlich zu äußern. Dies entspricht der Regelung in § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG, auf die sich das Bundesamt auch berufen hatte. Damit wird den Asylsuchenden aber keine Rechtspflicht zur schriftlichen Stellungnahme auferlegt, sondern lediglich die Möglichkeit eingeräumt, sich auf diesem Wege zu äußern. Auch soweit das Bundesamt die Antragsteller mit Schreiben vom 25. August 2015 aufgefordert hatte, Tatsachen vorzutragen, die bei der Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 7 bzw. Abs. 2 AufenthG zu berücksichtigen sind, konnte sich die Behörde nicht auf eine gesetzliche Mitwirkungspflicht berufen. Der Asylsuchende ist grundsätzlich weder zur schriftlichen Begründung des Asylantrages (vgl. Funke-Kaiser, a. a. O., Rn. 30) noch zu schriftlichen Ausführungen hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gesetzlich verpflichtet. Anders kann die Rechtslage in dem hier nicht gegebenen Fall zu beurteilen sein, dass bereits ein ausführlich begründeter Antrag vorliegt und das Bundesamt dazu ergänzende Ausführungen anfordert (vgl. Funke-Kaiser, a. a. O.).
Dass allein die unterbliebene schriftliche Stellungnahme des Ausländers nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG eine Betreibensaufforderung des Bundesamtes nicht rechtfertigt, ergibt sich auch aus der Systematik des § 25 Abs. 5 AsylG. Äußert sich der Ausländer in der ihm vom Bundesamt gemäß § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG gesetzten Frist nicht, entscheidet das Bundesamt gemäß § 25 Abs. 5 Satz 3 AsylG nach Aktenlage. Auch im Hinblick auf die unterbliebene schriftliche Stellungnahme des Asylsuchenden kann dem Hinweis in Satz 4 des § 25 Abs. 5 AsylG auf die Regelungen zum Nichtbetreiben des Verfahrens in § 33 AsylG lediglich die Bedeutung zukommen, dass das Bundesamt nur dann eine Betreibensaufforderung erlassen darf, wenn zusätzliche Umstände Anlass geben, am Fortbestehen des Bescheidungs- oder Rechtsschutzinteresses zu zweifeln (s. oben).
Aus der Gesamtschau aller Umstände ergibt sich nach den vorliegenden Unterlagen und summarischer Prüfung ebenfalls kein hinreichender Anlass für eine Betreibensaufforderung. Bereits in seinem Erwiderungsschreiben vom 18. Juni 2015 auf die erste Ladung zur Anhörung hatte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin zu 2. - die 10 Jahre alte Tochter der Antragstellerin zu 1. - vor Kurzem operiert worden sei und nach dem vorgelegten vorläufigen Arztbrief mindestens zwei Monate auf dem Rücken liegen müsse; um einen Termin frühestens Anfang August werde gebeten. Auf die Ladung zur Anhörung am 25. August 2015 hatte der Prozessbevollmächtigte vorgetragen, die Antragstellerin zu 2. sei weiter bettlägerig, eine Betreuungsperson stehe für den vorgesehenen Termin nicht zur Verfügung; für die in F. wohnenden Antragsteller werde gebeten, die Anhörung in Braunschweig durchzuführen und nicht - wie vom Bundesamt vorgesehen - in dem deutlich weiter entfernten G.. Diesen Ausführungen lässt sich - auch in Zusammenschau mit den weiteren Umständen des konkreten Falles - nicht entnehmen, dass die Antragsteller kein Interesse mehr an der Fortführung des Verfahrens hatten.
Die Rechtswidrigkeit der Einstellungsverfügung führt dazu, dass auch die Feststellung des Bundesamtes, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor, sowie die Abschiebungsandrohung rechtswidrig sind (vgl. BVerwG, U. v. 07.03.1995 - 9 C 264/94 -, Rn.19 = NVwZ 1996, 80 [BVerwG 07.03.1995 - 9 C 264.94]; Marx, a. a. O., Rn. 26). Verfrüht und damit rechtswidrig ist auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots; ob ein solches Verbot besteht (s. § 11 Abs. 1 AufenthG), muss erst noch im Asylverfahren geklärt werden. Dieses Verfahren ist jetzt vom Bundesamt fortzuführen (vgl. BVerwG, U. v. 07.03.1995, a. a. O., Rn. 17 f.; Marx, a. a. O.).
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens ergibt sich aus der Anwendung des § 154 Abs. 1 VwGO und des § 83 b AsylG.
Rechtsmittelbelehrung:
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).