Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 17.02.1989, Az.: 11 U 98/87

Geltendmachung von Ersatzansprüchen aus einem Verkehrsunfall einer Schülerin durch den Gemeindeunfallversicherungsverband aus übergegangenem Recht; Zurechnung von Unfallfolgen aufgrund eines Zusammenstoßes eines Fahrrades mit einem Lastwagenanhänger wegen der erhöhten Betriebsgefahr des Lastzuges; Vermeidbarkeit eines Unfalls durch Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit eines Lastzuges auf 25 km/h bei Annäherung an die Radfahrergruppe

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
17.02.1989
Aktenzeichen
11 U 98/87
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 25295
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1989:0217.11U98.87.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 20.08.1987 - AZ: 4 O 747/87

Fundstellen

  • NJW-RR 1990, 98 (Volltext mit amtl. LS)
  • NZV 1990, 393 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Geldforderung und Feststellung

In dem Rechtsstreit
...
hat der 11. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 1989
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxx und
die Richter am Oberlandesgericht xxx und xxx
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 20. August 1987 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg geändert.

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 22.687,52 DM nebst 4% Zinsen seit dem 11. September 1986 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger aus übergegangenem Recht der Schülerin xxx, geboren am xxx wohnhaft xxx xxx den Schaden 70% zu setzen, den der Kläger der Schülerin zu erstatten hat.

Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer der Beklagten übersteigt nicht 40.000,- DM.

Tatbestand

1

Der klagende Gemeindeunfallversicherungsverband macht aus übergegangenem Recht Ersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.

2

Der Beklagte zu 2) ist Halter eines LKW (zulässiges Gesamtgewicht 14,5 to) nebst Anhänger (16 to), die bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert sind. Mit diesem Zug befuhr der Beklagte zu 1) am 9. Juli 1985 gegen 13.00 Uhr bei regnerischem Wetter die Landesstraße 776 aus Richtung Delmenhorst kommend in Richtung Groß Ippener (Gemeinde Harpstedt). In dieser Ortschaft befuhr eine Radfahrergruppe die Landesstraße in Gegenrichtung. Die Gruppe bestand aus 24 Schülern der Klasse xxx des Schulzentrums xxx und zwei begleitenden Lehrerinnen. Der Kläger ist gesetzlicher Unfallversicherer der Schüler.

3

Als der Beklagte zu 1) an der Schülergruppe auf der 5,30 m breiten Ortsdurchfahrt vorbeifuhr, machte eine der Schülerinnen, die damals xxx, mit dem Fahrrad eine Fahrbewegung zur Fahrbahnmitte hin und geriet mit dem Kopf gegen Seitenteile des Anhängers. Der Lastzug hielt zu dieser Zeit eine Fahrgeschwindigkeit von ca. 47 km/h ein, wie in zweiter Instanz unstreitig geworden ist. Die Schülerin erlitt schwere Verletzungen insbesondere am Kopf.

4

Der Kläger hat für die verletzte Schülerin Aufwendungen in Höhe von 32.410,74 DM erbracht. Er hat davon 70% gegen die Beklagten geltend gemacht und die Feststellung einer entsprechenden Ersatzpflicht für künftige Aufwendungen begehrt. Er hat die Ansicht vertreten, die Beklagten hätten in dieser Höhe für die Unfallfolgen einzustehen, weil ihnen die erhöhte Betriebsgefahr des Lastzuges anzurechnen sei und weil den Beklagten zu 1) das überwiegende Verschulden an dem Unfall treffe. Die Beklagten haben demgegenüber eine Haftung abgelehnt, weil der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen sei.

5

Das Landgericht Oldenburg hat nach einer Beweisaufnahme der Klage zu einer Haftungsquote der Beklagten von 30% stattgegeben. Es hat ein Verschulden der verletzten Schülerin, nicht jedoch ein Verschulden des Beklagten zu 1), andererseits aber auch nicht die Unabwendbarkeit des Unfalls für den Beklagten zu 1) als erwiesen angesehen.

6

Dagegen wenden sich beide Parteien mit der Berufung. Sie verfolgen ihr jeweiliges erstinstanzliches Begehren weiter.

7

Der Senat hat Beweis durch Einholung von Sachverständigengutachten erhoben.

Entscheidungsgründe

8

Die Berufungen der Parteien sind zulässig. Das Rechtsmittel des Klägers hat Erfolg, während das der Beklagten unbegründet ist. Der Kläger hat gegen die Beklagten, aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB Xübergegangenem Recht der verletzten Schülerin xxx Anspruch auf Ersatz von 70% der Aufwendungen, die er aus Anlaß des Unfalls erbringen mußte und noch erbringen muß; denn die Beklagten sind verpflichtet, in Höhe dieser Quote die der Schülerin entstandenen und noch entstehenden Schäden zu ersetzen.

9

Der Beklagte zu 1) hat als Halter des Lastzuges gemäß § 7 Abs. 1 StVG für die Unfallfolgen einzustehen. Seine Haftung ist nicht gemäß § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen; ihm ist nicht der Beweis gelungen, daß der Unfall für den LKW-Fahrer, den Beklagten zu 1), ein unabwendbares Ereignis war. Der Beklagte zu 1) hat bei Annäherung an die Radfahrergruppe eine Fahrgeschwindigkeit von ca. 47 km/h eingehalten, wie nach gutachtlicher Auswertung der Tachographenscheibe des LKW in der Berufungsinstanz unstreitig geworden ist. Damit hat er zwar die an der Unfallsteile vorgeschriebene innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h nicht überschritten. Er ist jedoch erheblich schneller gefahren, als der besonders sorgfältiger Kraftfahrer, den § 7 Abs. 2 StVG meint, es getan hätte.

10

Auf die unter den Parteien streitige Frage, ob die verletzte Schülerin zu dem gemäß § 3 Abs. 2a StVO besonders schutzbedürftigen Personenkreis zählte, kommt es nicht an. Denn bereits gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO hatte der Beklagte zu 1) zu berücksichtigen, daß ihm auf verhältnismäßig schmaler Fahrbahn eine große Gruppe jüngerer Radfahrer entgegenkam, deren hinterer Teil - für den Beklagten zu 1) erkennbar - keine strikte Ordnung einhielt. Das ergibt sich aus den erstinstanzlichen Angaben der Zeugin xxx auf die Beweiswürdigung in dem angefochtenen Urteil wird insoweit verwiesen. Bei diesen Gegebenheiten hätte ein besonders sorgfältiger Kraftfahrer die Fahrgeschwindigkeit bereits vor Erreichen der Gruppenspitze deutlich unter 47 km/h herabgesetzt. Dabei ist unerheblich, ob - wie die Beklagten vortragen - sich die Gruppenspitze bereits außerhalb der geschlossenen Ortschaft befand, als der Lastzug ihr begegnete, und ob der Beklagte zu 1) so scharf rechts fuhr, daß sich die rechten Räder des Lastzuges auf der Berme befanden.

11

Der Beklagte zu 2) beruft sich vergeblich darauf, daß auch bei einer zu hohen Geschwindigkeit des Lastzuges der Haftungsausschluß des § 7 Abs. 2 StVG greife, weil der Unfall auch bei einer weiter reduzierten Geschwindigkeit geschehen wäre, möglicherweise mit noch schwereren Folgen, weil die verletzte Schülerin unter die Räder des Lastzuges hätte geraten können. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob sich ein Kfz-Halter überhaupt auf fehlende Kausalität berufen kann, wenn der Kfz-Fahrer gegen eine Verhaltensnorm verstößt und in unmittelbarem Zusammenhang damit ein Schaden eintritt, den zu vermeiden die Norm bezweckt (hier: Pflicht zur Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit eines Lastzuges bei Annäherung an eine Gruppe vornehmlich jugendlicher Radfahrer auf schmaler Straße und Schädigung einer Radfahrerin aus dieser Gruppe durch das zu schnell fahrende Kfz). Denn jedenfalls ist dem Beklagten zu 2) nicht nur der ihm für die fehlende Kausalität gemäß § 7 Abs. 2 StVG obliegende Beweis nicht gelungen. Es steht vielmehr fest, daß die zu hohe Fahrgeschwindigkeit des Lastzuges ursächlich für den Unfall geworden ist. Der Sachverständige xxx hat in seinem Gutachten vom 31.12.1988 überzeugend ausgeführt, daß der Unfall bei einer Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit des Lastzuges auf 25 km/h bei Annäherung an die Radfahrergruppe vermeidbar gewesen wäre, weil der Beklagte zu 1) den Lastzug vor der stürzenden Schülerin zum Stehen hätte bringen können. Ein besonders sorgfältiger Kraftfahrer hätte aber seine Fahrgeschwindigkeit rechtzeitig vor Annäherung an die Gruppe jugendlicher Radfahrer- auf diese Geschwindigkeit herabgesetzt.

12

Dieser Wertung steht nicht entgegen, daß rechtlich Kausalität einer überhöhten Fahrgeschwindigkeit für einen Unfall im allgemeinen nicht schon deshalb zu bejahen ist, weil das Fahrzeug die Unfallstelle später erreicht hätte (vgl. z.B. BGH in NJW 1988 S. 58; Greger, Zivilrechtl. Haftung im Straßenverkehr, 1985 § 7 StVG Rdnr. 398). Diese wertende Einschränkung gilt nicht für den Zeitraum zwischen Beginn der kritischen Verkehrslage und dem Unfall (BGH in VersR 1963 S. 165; NJW 1985 S. 1350). Die kritische Verkehrslage begann bei Annäherung des Beklagten zu 1) an die Radfahrergruppe, nicht erst bei Annäherung an den hinteren unruhigen Teil der Gruppe, wie in dem von den Beklagten vorgelegten Privatgutachten des Dipl. Ing. Ottmeyer vor 12.8.1988 ausgeführt ist. - Bei der Abwägung der Verursachungsanteile wird noch auszuführen sein, daß sich die Beklagten neben der Betriebsgefahr des Lastzuges ein Verschulden des Beklagten zu 1) zurechnen lassen müssen.

13

Die Haftung des Beklagten zu 1) für die Unfallfolgen ergibt sich aus § 18 StVG. Er hat nicht bewiesen, daß ihn an dem Unfall kein Verschulden trifft. Das geht bereits aus den Ausführungen zu § 7 Abs. 2 StVG hervor. Darüberhinaus hat er den Unfall mitverschuldet (siehe unten).

14

Die Beklagte zu 3) hat gemäß § 3 Nr. 1 PflVersG für die Unfallfolgen einzustehen.

15

Gemäß §§ 840 Abs. 1 BGB, 3 Nr. 2 PflVersG haften die Beklagten als Gesamtschuldner.

16

Entsprechend den Klageanträgen sind die Beklagten nur zu einer Haftung von 70% der eingetretenen und künftig noch eintretenden Schäden zu verurteilen. Eine Mithaft der verletzten Schülerin gemäß § 9 StVG, § 254 BGB in Verbindung mit der entsprechenden Anwendung des § 328 Abs. 2 BGB von mehr als 30% ist nicht gegeben.

17

Bei den gegeneinander abzuwägenden Verursachungsbeiträgen ist auf seiten der Schülerin ein erhebliches Verschulden zu berücksichtigen. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme steht fest, daß die verletzte Schülerin aus Unachtsamkeit einen unkontrollierten Fahrschlenker zur Fahrbahnmitte hin gemacht, hat, der - wenn auch möglicherweise unter Einfluß des vorbeifahrenden Lastzugs - zum Sturz führte. Das wird vom Kläger auch nicht mehr in Abrede genommen. Dieser Fahrschlenker ist, schon bei normaler Verkehrssituation vorwerfbar. Das Herannahen des Lastzuges auf verhältnismäßig schmaler Fahrbahn hätte die Schülerin darüberhinaus zu besonders vorsichtiger Fahrweise veranlassen müssen.

18

Dem Verschulden der Schülerin steht auf seiten der Beklagten die Betriebsgefahr des Lastzuges gegenüber, die wegen der nicht hinreichend angepaßten Fahrgeschwindigkeit erhöht war. Daß diese Gefahrerhöhung für den Unfall ursächlich geworden ist, ist bereits dargelegt worden. Es braucht deshalb auch an dieser Stelle nicht darauf eingegangen zu werden, ob die Beklagten sich bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge auf fehlende Kausalität der Fahrgeschwindigkeit berufen können, wenn sowohl zu schelles Fahren feststeht als auch eine in unmittelbarem Zusammenhang damit eingetretene Schädigung eines Verkehrsteilnehmers, der durch die Verpflichtung zu reduzierter Geschwindigkeit geschützt werden soll (so OLG Celle in NJW 1989 S. 43 für den Fall der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit; wohl gegen die herrschende Meinung, z.B. BGH in VRS 12 S. 17; Jagusch-Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 29. Aufl. 1987, § 17 StVG Rdnr. 21). Es kann auch offenbleiben, ob bei der gegebenen Konstellation nicht zumindest eine Vermutung für die Ursächlichkeit spricht, mithin dem Schädiger - anders als nach der herrschenden Meinung im Regelfall - die Beweislast dafür obliegt, daß die gefahrerhöhenden Umstände nicht kausal geworden sind für den Unfall bzw. die Unfallfolgen.

19

Neben der erhöhten Betriebsgefahr ist ein Verschulden des Beklagten zu 1) zu berücksichtigen. Nicht nur von dem besonders sorgfältigen Kraftfahrer im Rahmen der Entlastung gemäß § 7 Abs. 2 StVG ist zu verlangen, daß er bei der gegebenen Situation rechtseitig auf 25 km/h verlangsamt (s. o.). Es ist auch dem Beklagten zu 1) als Verschulden anzurechnen, daß er nicht auf diese Geschwindigkeit herabgebremst hat. Für ihn war erkennbar, daß die jugendlichen Radfahrer teilweise nebeneinander fuhren und dadurch den Seitenabstand zum Gegenverkehr auf der ohnehin verhältnismäßig schmalen Straße erheblich verringerten. Hinzu kamen undisziplinierte Fahrweise eines Teils der Radfahrer und Beeinträchtigungen durch regnerisches Wetter. Zu dieser gefahrenträchtigen Verkehrslage kam ferner, daß nicht auszuschließen war, daß ein mit mehr als 25 km/h die Gruppe passierender Lastzug die Fahrsicherheit der Radfahrer beeinträchtigte. Der Sachverständige xxx hat es als nicht sicher angesehen, daß die Schülerin ohne das schnelle Herannahen und die zügige Vorbeifahrt des Lastzuges überhaupt gestürzt, wäre. Er hat in seinem Gutachten vom 12.7.1988 ausgeführt, das Entgegenkommen eines Lastzuges auf einer schmalen Straße wirke auf einen Radfahrer verunsichernd; die Fahrgeschwindigkeit von 47 km/h sei in Anbetracht der Radfahrer entschieden zu hoch gewesen.

20

Die Abwägung des Verschuldens der Schülerin auf der einen Seite und der erhöhten Betriebsgefahr des Lastzuges und des Verschuldens des Beklagten zu 1) auf der anderen Seite ergibt keine höhere Mithaftquote der Schülerin als 30%, die der Kläger hinnehmen will.

21

Der Höhe nach ist der geltend gemachte Zahlungsanspruch nicht in Streit.

22

Das erforderliche besondere Interesse des Klägers an der Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für künftige Aufwendungen des Klägers für die verletzte Schülerin (Klageantrag zu 2) ergibt sich aus den unstreitigen Unfallfolgen.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Dem Kläger ist nicht deshalb ein Teil der erstinstanzlichen Kosten aufzuerlegen, weil er zunächst einen uneingeschränkten, nicht auf 70% begrenzten Feststellungsantrag gestellt hat. Nach der Klagebegründung handelte es sich um einen durch Auslegung zu korrigierenden Formulierungsfehler. Der Kläger hat stets nur eine 70%-Quote geltend gemacht.

24

Die übrigen Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 284, 288 BGB und den §§ 708 Nr. 10, 546 Abs. 2 ZPO.

25

Entgegen der Anregung der Beklagten war die Revision nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 546 Abs. 1 ZPO nicht gegeben sind.