Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.11.2022, Az.: 2 Ss 131/22

Berufung; nachträgliche Gesamtstrafenbildung; Beschlussverfahren; Verschlechterungsverbot

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.11.2022
Aktenzeichen
2 Ss 131/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59335
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 27.06.2022 - AZ: 23 Ns 27/22

Fundstelle

  • StV 2023, 615

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB ist regelmäßig Sache des Tatrichters.

2. Er darf die Entscheidung ausnahmsweise dem Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO überlassen, wenn er aufgrund der bislang gewonnenen Erkenntnisse keine sichere Entscheidung fällen kann, etwa weil die Unterlagen für eine möglicherweise gebotene Gesamtstrafen-bildung nicht vollständig vorliegen (ohne dass dies auf unzureichender Terminvorbereitung beruht) und die Hauptverhandlung allein wegen deshalb noch notwendiger Erhebungen mit weiterem erheblichen Zeitaufwand belastet werden würde (vgl. BGH Beschl. v. 04.03.2021 – 2 StR 431/20 –, juris).

3. Dies gilt nicht, wenn in erster Instanz eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet wurde und das Berufungsgericht erneut über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung zu entscheiden ist. Überlässt das Berufungsgericht die Entscheidung dem nachträglichen Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO, begründet dies einen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot in § 331 Abs. 1 StPO (Anschluss an OLG Hamburg, NStZ 1994, 508 [OLG Hamburg 07.06.1994 - 2 Ss 26/94]).

Tenor:

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 23. kleinen Strafkammer des Landgerichts Verden vom 27.06.2022 im Ausspruch über die Gesamtstrafe nach § 349 Abs. 4 StPO mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 StPO durch das nach § 462a Abs. 3 StPO zuständige Gericht zu treffen ist.

2.

Die weitergehende Revision des Angeklagten wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

3.

Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Verden (Aller) hat den Angeklagten mit Urteil vom 14.02.2022 (Az. 9 Ds 212 Js 29302/20-6/21) wegen Betruges in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Itzehoe vom 16.04.2021 (Az. 45 Ds 311 Js 16338/20) unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe sowie der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Reinbek vom 05.05.2021 (Az. 22 Ds 779 Js 37341/19) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt.

Auf die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Verden (Az. 23 Ns 27/22) in der Hauptverhandlung vom 27.06.2022 das erstinstanzliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und den Angeklagten unter Verwerfung der weitergehenden Berufung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt.

Mit der gegen das landgerichtliche Urteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, unter Verwerfung der Revision im Übrigen das Urteil des Landgerichts im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufzuheben und festzustellen, dass die unterbliebene Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO durch eine Entscheidung nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.

II.

Die zulässige Revision des Angeklagten führt lediglich zu dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Teilerfolg.

1.

Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die nicht näher ausgeführte Sachrüge zeigt bzgl. des Schuldspruchs und im Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich der festgesetzten Einzelstrafen sowie der getroffenen Einziehungsentscheidung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Insoweit verwirft der Senat die Revision des Angeklagten auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet.

2.

Der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält der revisionsrechtlichen Überprüfung hingegen nicht stand.

Das Landgericht hat bei der vorgenommenem Gesamtstrafenbildung rechtsfehlerhaft die bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen nach § 55 StGB zwingend einzubeziehenden Einzelstrafen aus den o.g. Urteil des Amtsgerichts Itzehohe vom 16.04.2021 und des Amtsgerichts Reinbek vom 05.05.2021 außer Betracht gelassen. Das Landgericht hat sich an der Einbeziehung dieser Einzelstrafen gehindert gesehen, da es ihm trotz umfangreicher Bemühungen im Rahmen der Vorbereitung der Berufungsverhandlung nicht gelungen war, die für die Entscheidung über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung unter Einbeziehung dieser Einzelstrafen erforderlichen Unterlagen vollständig herbeizuschaffen und die Berufungsverhandlung allein deshalb mit weiteren erheblichen Zeitaufwand erfordernden Ermittlungen belastet worden wäre. Dies war rechtlich nicht zulässig. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass in einer solchen Konstellation von dem Grundsatz, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 55 StGB über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung im Erkenntnisverfahren durch den Tatrichter zu entscheiden ist, ausnahmsweise abgewichen und die Entscheidung dem Beschlussverfahren nach den §§ 460, 462 StPO überlassen werden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 04.03.2021 – 2 StR 431/20 –, juris, mwN). Dies gilt indes nicht, wenn von der in erster Instanz ausgesprochene Einbeziehung von Einzelstrafen aus Vorverurteilungen im nachfolgenden Berufungsurteil abgesehen wird. Denn die Einbeziehung gleichartiger Einzelstrafen in eine Gesamtstrafe beinhaltet wegen der Regelung in § 54 StGB regelmäßig eine Besserstellung des Angeklagten. Fällt diese später in einem Berufungsurteil weg, weil sich die Berufungskammer zu der Entscheidung über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung wegen der fehlenden Kenntnis der für die Entscheidung notwendigen Unterlagen zu den Vorverurteilungen nicht in der Lage gesehen hat, stellt dies einen Verstoß gegen das aus § 331 Abs. 1 StPO folgende Verschlechterungsverbot dar (vgl. OLG Hamburg, NStZ 1994, 508 [OLG Hamburg 07.06.1994 - 2 Ss 26/94] mwN). In einem solchem Fall kommt eine Verweisung auf das Nachtragsverfahren nach §§ 460, 462 StPO nicht in Betracht, um den gegebenen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot auszugleichen. Stattdessen ist die Berufungsentscheidung zurückzustellen, bis die zur Prüfung der Voraussetzungen des § 55 StGB erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stehen (vgl. OLG Hamburg, aaO). Dies hat das Landgericht im vorliegenden Fall nicht bedacht.

Auf der aufgezeigten Verletzung von § 331 Abs. 1 StPO beruht der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils über die Gesamtstrafe. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht, hätten ihm die Verfahrens- und Vollstreckungsakten der o.g. Vorverurteilungen des Angeklagten durch die Amtsgerichte Itzehoe und Reinbek zur Verfügung gestanden, die Voraussetzungen nach § 55 StGB bejaht und eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung unter Einbeziehung dieser Vorverurteilungen vorgenommen hätte.

Der Senat ist an einer eigenen Sachentscheidung gemäß § 354 Abs. 1 StPO gehindert, da es näherer Feststellungen zu den in den Urteilen der Amtsgericht Itzehoe und Reinbek abgeurteilten Sachverhalten sowie der für die verhängten Strafen maßgeblichen Strafzumessungserwägungen bedarf. Daher hat der Senat – wie aus dem Beschlusstenor ersichtlich – die Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs des angefochtenen Urteils über die Gesamtstrafe gemäß § 354 Abs. 1b Satz 1 StPO mit der Maßgabe versehen, dass die unterbliebene Entscheidung über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nunmehr nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist (vgl. hierzu BGH NJW 2004, 3788 [BGH 28.10.2004 - 5 StR 430/04]; OLG Köln NStZ 2005, 164 [OLG Köln 08.10.2004 - 8 Ss 415/04 204]).

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO. Der Angeklagte hat mit seiner Revision nur einen geringfügigen Teilerfolg erzielt. Daher erscheint es nicht unbillig, dem Angeklagten die Kosten des Revisionsverfahrens im vollen Umfang aufzuerlegen. In einer Konstellation der vorliegenden Art kann das Revisionsgericht die abschließende Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens nach § 473 Abs. 4 StPO selbst treffen und muss sie nicht dem Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO vorbehalten, dem sie systemfremd wäre (vgl. hierzu BGH, aaO).