Landgericht Lüneburg
Urt. v. 15.07.2015, Az.: 27 Ks 9/14

Auschwitz; Beihilfe; Mord; Tateinheit

Bibliographie

Gericht
LG Lüneburg
Datum
15.07.2015
Aktenzeichen
27 Ks 9/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 44921
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Tateinheitliches Handeln des Gehilfen bei verschiedenen Unterstützungshandlungen zu dem für die Haupttäter teils tateinheitlichen teils tatmehrheitlichen Geschehen.

Tenor:

Der Angeklagte ist schuldig der Beihilfe zum Mord in dreihunderttausend rechtlich zusammentreffenden Fällen.

Er wird zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt.

Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Nebenkläger.

Angewendete Vorschriften: §§ 211, 27, 38 Abs. 2, 49 Abs. 1, 52 StGB.

Gründe

I.

Der bei Begehung der Tat zweiundzwanzigjährige Angeklagte wurde in N./ W. geboren. Dort wuchs er gemeinsam mit seinem Bruder G. bei seinen Eltern auf. Sein Vater war Inhaber eines Ladengeschäfts, seine Mutter Hausfrau. Sie starb, als der Angeklagte vier Jahre alt war. Der Vater des Angeklagten war Mitglied der Organisation „Stahlhelm“, die sich als Bund ehemaliger, kaisertreuer Frontsoldaten des 1. Weltkriegs verstand. Der Angeklagte selbst war zunächst Mitglied in deren Jugendorganisation „Scharnhorstbund“, die nach der sog. „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Jahre 1933 in deren Jugendorganisation „Hitlerjugend“ aufging. Nachdem er die mittlere Reife erlangt hatte, absolvierte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der K. N.. Er war  - ebenso wie sein Bruder, der hauptamtlicher Führer der „Hitlerjugend“ war - ein überzeugter Nationalsozialist („Ich habe damals alles bejubelt, was es zu bejubeln gab.“)

Der Angeklagte ist Rentner, verwitwet und  Vater zweier Söhne im Alter von 65 und 70 Jahren. Bislang ist er unbestraft.

II.

1. Nach der „Machtergreifung“ begannen die Nationalsozialisten, politische Gegner und andere sog. "Staatsfeinde" bzw. "Volksfeinde" (u.a. „Bibelforscher“, „Zigeuner“, „Asoziale“, Prostituierte und Homosexuelle) systematisch zu verfolgen. Die massenweise Verhaftung angeblicher „Staatsfeinde“ führte schon bald zu einer Überfüllung der staatlichen Haftanstalten, woraufhin die NS-Machthaber sog. „Konzentrationslager“ (damals gebräuchliche Abkürzung „K.L.“) einrichteten, deren Leitung der sog. „Schutzstaffel“ (im Folgenden „SS“) übertragen wurde. Die SS diente ursprünglich als Leibgarde des „Führers“ Adolf Hitlers, wurde aber unter dem Befehl des „Reichsführers-SS“ Heinrich Himmler im Laufe der Zeit zu einer paramilitärischen Einheit um- und ausgebaut, die zunächst umfangreiche polizeiliche Befugnisse erhielt und nach Beginn der zweiten Weltkrieges auch kämpfende Truppen (sog. „Feldeinheiten“) an die Front schickte. Die Angehörigen der SS verstanden sich selbst als nationalsozialistische Elite, die den Feind - egal ob die Feindschaft auf politischen, rassistischen, militärischen oder sonstigen Gründen beruhte - mit unbarmherziger Härte zu bekämpfen und selbst größte Opferbereitschaft zu zeigen hatte. Wahlsprüche wie „Meine Ehre heißt Treue“ und „Den Tod geben, den Tod nehmen“ kennzeichneten diese Einstellung.

2. In den Augen des Angeklagten war die SS eine „Elite-Kaste“, eine „zackige Truppe, die immer ruhmbedeckt nach Hause kam“. Er war begeistert über die militärischen Erfolge der deutschen Truppen in Polen („Die Polacken verhauen in 18 Tagen!“) und Frankreich. Um Teil der vermeintlich ruhmreichen SS zu werden, meldete er sich im Oktober 1940 als Freiwilliger zur SS. Weil er nicht die Absicht hatte, im Sinne der SS-Ideologie „den Tod zu nehmen“, d.h. sein Leben an der Front zu riskieren, erklärte er bereits bei seiner Musterung, er wolle „Zahlmeister“ werden. Nach der Grundausbildung wurde er - seinem Wunsch entsprechend - in Besoldungsstellen der SS in Ellwangen und Dachau eingesetzt und weiter ausgebildet.

3. Während des Krieges wurden auch in den von Deutschland besetzten Gebieten, u.a. in Polen, zahlreiche Konzentrationslager errichtet, in denen vermeintliche „Staatsfeinde“ und Kriegsgefangene interniert wurden und der Willkür der SS ausgeliefert waren. Zur Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde zunächst ein Komplex ehemaliger Kasernengebäude in einem Vorort von Auschwitz (polnischer Ortsname Oświęcim) genutzt, in dessen Nähe die Bahnlinie Kattowitz-Auschwitz-Krakau verlief. Das auf dem ehemaligen Kasernengelände erstellte Lager wurde „Stammlager“ (auch „Auschwitz I“) genannt. Das „Stammlager“ bestand aus dem sog. „Schutzhaftlager“, das mit einem - nachts unter Starkstrom gesetzten - Stacheldrahtzaun umgeben war, sowie aus Verwaltungsgebäuden, in denen u.a. die sog. „Häftlingseigentumsverwaltung“ (HEV) und - als deren Abteilung - die „Häftlingsgeldverwaltung“ (HGV) ihren Sitz hatten. Weil sich das „Stammlager“ schon nach kurzer Zeit als zu klein erwies, begannen Anfang März 1941 die Planungen für die Errichtung eines weiteren, weitaus größeren Lagers auf dem Gelände des nahegelegenen, ca. 3 km vom Lager Auschwitz entfernten Dorfes Birkenau. Der Aufbau des Lagers Birkenau (auch „Auschwitz II“) wurde im Oktober 1941 begonnen.

4. Zu einem nicht näher aufklärbaren Zeitpunkt im Jahre 1941 oder spätestens Anfang 1942 beschlossen die nationalsozialistischen Machthaber (u.a. Adolf Hitler, Hermann Göring und Heinrich Himmler) die sog. „Endlösung der Judenfrage“, womit die systematische Tötung der europäischen Juden im deutschen Einflussbereich gemeint war. Unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers und Leiters des Reichssicherheitshauptamtes R. H. fand die sog. „Wannseekonferenz“ statt, an der u.a. hohe SS-Offiziere, Staatssekretäre und Ministerialdirektoren teilnahmen und in deren Rahmen insbesondere Zuständigkeiten und Abläufe der geplanten Massentötung erörtert wurden. Das Protokoll führte SS-Obersturmbannführer A. E., Leiter des sog. „Judenreferats“ im Reichssicherheitshauptamt, der später bei der Durchführung der „Endlösung“ federführend wurde. Unter dem Tarnnamen „Aktion Reinhard“, benannt nach R. H., begann in der ersten Jahreshälfte 1942 die Deportation der Juden aus dem besetzten Polen und der Ukraine. Diese sollten ausnahmslos getötet werden, wobei einige zuvor noch eine Weile als Sklaven zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft, dem Straßen- und Bergbau sowie in Industrie- und Rüstungsbetrieben ausgebeutet werden sollten. Dieses Vorgehen wurde als „Vernichtung durch Arbeit“ bezeichnet, denn die Arbeits- und Lebensbedingungen (Kalorienzufuhr, Hygiene, medizinische Versorgung, Kleidung etc.) wurden bewusst so gestaltet, dass die Zwangsarbeiter nach wenigen Wochen oder Monaten aus Erschöpfung oder aufgrund von Krankheiten starben. Wer nicht für die „Vernichtung durch Arbeit“ ausgewählt würde, sollte sofort getötet werden. Weil die bis dahin praktizierte massenweise Erschießung von Juden als zu aufwendig, zu ineffektiv und für die eigenen Truppen zu belastend erschien, errichtete die SS in Polen eine Reihe von Vernichtungslagern, in denen jüdische Menschen in Gaskammern in großer Zahl durch Kohlenmonoxid oder Abgase von Verbrennungsmotoren getötet wurden. Zu diesen Vernichtungslagern gehörten zunächst die Lager Belzec, Treblinka und Sobibor. Die Existenz dieser Vernichtungslager wurde von der SS streng geheim gehalten, die dort für die SS tätigen Personen wurden zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. Die strenge Geheimhaltung diente in erster Linie dazu, die zur Vernichtung vorgesehenen Menschen über das ihnen bevorstehende Schicksal im Unklaren zu lassen. Ihre Arglosigkeit war sowohl aus Sicht der für die „Aktion Reinhard“ Verantwortlichen als auch objektiv entscheidend für deren schnellen, reibungslosen und effizienten Ablauf, denn nur auf diese Weise konnte gewährleistet werden, dass sich die Menschen nicht durch Flucht und/oder Widerstand der Deportation entziehen würden. Um die Arglosigkeit aufrechtzuerhalten, wurden u.a. gezielt Gerüchte im Umlauf gebracht, etwa dahingehend, dass die Menschen umgesiedelt oder auf landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzt würden.

5. a. Bereits kurz nach ihrem Beginn wurde der Angeklagte Teil der „Aktion Reinhard“. Mit Wirkung zum 25.09.1942 wurde er im Rang eines „SS-Sturmmanns“ (Mannschaftsdienstgrad entsprechend einem Gefreiten) von seiner Dienststelle beim „SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt“ in Dachau zur  „Verwaltung des K.L. Auschwitz   für   die  Aktion   "Reinhard" versetzt“. Dazu wurde ihm von einem Vorgesetzten sinngemäß mitgeteilt, die Aufgaben, die ihn erwarteten, seien „nicht angenehm und ruhmreich, aber zur Verhinderung des Untergangs des deutschen Volkes unbedingt notwendig“. Der Angeklagte hatte bis zu diesem Zeitpunkt den Namen Auschwitz noch nie gehört und auch keine Vorstellung, was dort vor sich ging, nämlich dass um die Jahreswende 1942/43 auch das Konzentrationslager Birkenau („Auschwitz II“) im Rahmen der „Aktion Reinhard“ endgültig zum Vernichtungslager umfunktioniert wurde. Nachdem dort zunächst in zwei ehemaligen Bauernhäusern provisorische Gaskammern eingerichtet worden waren, wurde im Jahre 1942 mit dem Bau von vier großen Gaskammern begonnen, denen Krematorien zur Verbrennung der Leichen angeschlossen waren. Diese wurden im Laufe des Jahres 1943 in Betrieb genommen. Wenn alle Gaskammern und Krematorien im Betrieb waren, konnten pro Tag bis zu 5.000 Menschen getötet und verbrannt werden. Die zur Vernichtung bestimmten Juden wurden per Eisenbahn in Viehwaggons nach Auschwitz transportiert. Die Transporte waren für die Deportierten außerordentlich strapaziös. In einem Viehwaggon wurden 80 oder mehr Personen eingepfercht, so dass sie gezwungen waren, die teilweise mehrere Tage und Nächte dauernde Fahrt im Stehen zu verbringen. In den Viehwaggons gab es weder Toiletten noch ausreichend Trinkwasser, zudem waren sie weder gegen winterliche Kälte noch gegen sommerliche Hitze ausreichend isoliert. Alte und kranke Menschen starben vielfach bereits auf den Transporten, ihre Leichname verblieben bis zur Ankunft in Auschwitz in den Waggons. Um die Züge entladen zu können, wurde parallel der Eisenbahnlinie Kattowitz-Auschwitz-Krakau ein Nebengleis angelegt, das am Ende mit einer Holzrampe ausgestattet war. Auf dieser Rampe endeten die Transporte. Nachdem die Türen der Viehwaggons von SS-Männern aufgerissen worden waren, wurden die völlig entkräfteten und demoralisierten Deportierten mit lauten Rufen („Raus! Raus! Schnell! Schnell!“) aus den Viehwaggons getrieben. Auf der Rampe standen bewaffnete SS-Angehörige, zeitweise mit sich wild gebärdenden und laut bellenden Diensthunden. Wenn ein Transport zur Nachtzeit in Auschwitz ankam, wurden die Ankommenden von grellen Scheinwerfern geblendet. Dieses gesamte Szenario diente dazu, jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht - für den Fall, dass einzelne Deportierte wider Erwarten doch nicht arglos waren -  bereits im Keim zu ersticken und auf diese Weise eine zügige und reibungslose Entladung des Zuges zu gewährleisten. Um ein Entweichen einzelner Menschen vollends unmöglich zu machen, bildeten bewaffnete SS-Männer um die Rampe herum eine sog. „Postenkette“. Die Deportierten wurden angewiesen, ihr Gepäck auf der Rampe stehen zu lassen. Das Gepäck, so wurde ihnen wahrheitswidrig gesagt, werde ihnen nachgebracht. Diese Lüge diente der Aufrechterhaltung der Arglosigkeit der Deportierten, die trotz der Umstände des Transports und der Situation auf der Rampe weiterhin glauben sollten, sie würden irgendwo zur Arbeit eingesetzt und dort ihre Habe wieder ausgehändigt bekommen. Um den Deportierten keine Zeit zum Nachdenken und Reagieren zu geben, wurden sie sodann in großer Eile nach Geschlechtern getrennt, mussten in Reihen antreten und wurden auf einen SS-Lagerarzt - wie beispielsweise dem im Lager bekannten und gefürchteten Dr. Mengele - zugetrieben, der die sog. „Selektion“ vornahm und nach dem äußeren Eindruck und kurzer Befragung (insbesondere zu Alter und Beruf) darüber entschied, wer als „arbeitsfähig“ und wer als „nicht arbeitsfähig“ galt. Die  Arbeitsfähigen wurden in das Lager eingewiesen und später zur Zwangsarbeit eingesetzt, teilweise in Auschwitz, teilweise aber auch in anderen Konzentrationslagern. Alle übrigen Menschen - durchschnittlich etwa 80 bis 90 Prozent eines Transports - wurden direkt zu den Gaskammern geführt, wobei ihnen wahrheitswidrig gesagt wurde, es gehe zum Duschen. Unmittelbar vor den Gaskammern befand sich ein Raum, der wie ein Umkleideraum gestaltet war. Die Deportierten wurden angewiesen, sich vollständig zu entkleiden. Außerdem wurde ihnen - wiederum in der Absicht, ihre Arglosigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten - gesagt, sie sollten sich die Stelle, an der sie ihre Kleidung abgelegt hatten, genau merken, damit sie ihre Sachen nach dem Duschen wiederfänden. Anschließend wurden sie in die Gaskammer getrieben. Wenn alle Menschen darin waren, wurde die Tür von außen verriegelt und durch eine Öffnung in der Decke das Schädlingsvernichtungsmittel „Zyklon B“ (Cyanwasserstoff, „Blausäure“) in die Gaskammer geworfen. In der Gaskammer breitete sich, ausgehend von der Einwurfstelle, ein hochgiftiges Gas aus, das von den Menschen über die Haut und vor allem über die Atemwege aufgenommen wurde und zu einer Blockade der Sauerstoffaufnahme der Körperzellen führte. Dieses „zelltoxische Ersticken“ verursachte bei den Opfern zunächst Kopfschmerzen, Übelkeit, Stich- und Druckgefühle im Bereich des Brustkorbs, kratzende Reizungen der Schleimhäute, Schwindel, Ohrensausen und Angst, im weiteren Verlauf dann starke Krampanfälle und Atemnot, schließlich Bewusstlosigkeit und den Tod. Weil das Giftgas leichter war als Luft und sich erst nach einer gewissen Zeit in der Gaskammer verteilte, traten die Symptome zuerst bei größeren Personen nahe der Einwurfstelle auf, während kleinere und weiter von der Einwurfstelle entfernt stehende Personen zunächst keine oder nur leichte Symptome aufwiesen, jedoch den Todeskampf ihrer Schicksalsgenossen mit ansehen bzw. ihre Schreie anhören mussten und erkannten, dass diese Qualen auch ihnen bevorstanden. Auf diese Weise breitete sich rasch eine allgemeine Todesangst aus, die Menschen gerieten in Panik, schrien und versuchten vergeblich, sich vor dem Gas zu schützen. Vor allem Mütter und Kinder klammerten sich im Todeskampf so fest aneinander, dass ihre Leichname später teilweise mit Gewalt voneinander getrennt werden mussten. Erst nach 20 bis 30 Minuten verstummten die letzten Schreie, starben die letzten Menschen. Anschließend wurde die Gaskammer geöffnet und belüftet, sog. „Funktionshäftlinge“ mussten die Leichname aus der Gaskammer ziehen und zu den Verbrennungsöfen der Krematorien schaffen. Bevor die Leichname verbrannt wurden, wurden ihnen etwaige Goldzähne herausgebrochen, um sie für die SS zu verwenden. Weil die Kapazität der Krematorien zeitweilig nicht ausreichte, um alle anfallenden Leichen zu verbrennen, wurden zusätzlich Verbrennungsgruben installiert. Über diesen wurden die Leichen auf Rosten, die aus Eisenbahnschwellen zusammengefügt waren, verbrannt. Das Gepäck der Deportierten wurde teilweise bereits während der Selektion, jedenfalls vor Eintreffen des nächsten Transportzuges, von anderen Funktionshäftlingen, dem sog. „Kanada-Kommando“, auf Lastwagen verladen und in das sog. „Effektenlager“ (im Lagerjargon „Kanada-Lager“ genannt) verbracht. Im „Kanada-Lager“ wurde es von Funktionshäftlingen geöffnet, nach Wertsachen (Geld, Schmuck etc.) durchsucht und der Inhalt sortiert und zum Weitertransport nach Deutschland (z.B. ins SS-Bekleidungswerk Oranienburg) in großen Baracken gelagert. Geld und Wertgegenstände wurden in die „Häftlingseigentumsverwaltung“ (HEV) gebracht.

Der Angeklagte erfuhr bereits am Tag seiner Ankunft in Auschwitz in groben Zügen von diesen Vorgängen. Andere SS-Angehörige erklärten ihm sinngemäß: „Hier sind Juden und andere interniert, die müssen arbeiten und wer nicht arbeiten kann wird entsorgt, d.h. vergast und anschließend verbrannt.“ Der  - im nationalsozialistischen Sinne „weltanschaulich gefestigte“ - Angeklagte fand sich damit ab. Das „Entsorgen“, d.h. das Töten, von Menschen war - wie er wusste - verboten, aus seiner Sicht aber gleichwohl notwendig, schließlich handelte es sich seiner damaligen Überzeugung nach um „Feinde des deutschen Volkes“. Die Eingewöhnung im Konzentrationslager Auschwitz wurde ihm zudem dadurch erleichtert, dass die Lebensmittelversorgung der SS-Angehörigen dort außergewöhnlich üppig ausfiel. Bereits am ersten Abend kamen Speck, Ölsardinen und „Wodka, Wodka, Wodka“ auf den Tisch, alles Dinge, die der Angeklagten „seit Monaten nicht gesehen hatte“. Diese Dinge stammten aus dem geplünderten Gepäck der Deportierten, was den Angeklagten indes nicht störte, weil diese sie „ja nicht mehr brauchten“.

b. Am nächsten Tag wurde dem Angeklagten eine Stelle in der sog. „Häftlingseigentumsverwaltung“ (HEV) des Konzentrationslagers zugewiesen, konkret in einer ihrer Abteilungen, der „Häftlingsgeldverwaltung“ (HGV). Diese hatte ihren Sitz im sog. „Stammlager“ („Auschwitz I“). Dort hatte der Angeklagte verschiedene Aufgaben.

aa. Als Angehöriger der HGV hatte er nach Dienstplan den sog. „Rampendienst“ zu versehen. Beim „Rampendienst“, den er uniformiert und mit einer Pistole bewaffnet versah, hatte er in erster Linie die Aufgabe, während der Entladung der in Auschwitz ankommenden Züge das auf der Rampe abgestellte Gepäck zu bewachen und Diebstähle zu verhindern. Aufgrund der großen Zahl von Deportierten, die sämtliche Wertgegenstände, die ihnen nicht bereits zuvor abgenommen worden waren, mit nach Auschwitz brachten, waren Diebstähle sowohl von SS-Angehörigen als auch von zur Zwangsarbeit eingesetzten „Funktionshäftlingen“ dort an der Tagesordnung. Zwar wurden Diebstähle durch SS-Angehörige, obwohl offiziell streng verboten, zumeist nicht verfolgt und bestraft, weil man ihnen einen Teil der „Beute“ stillschweigend zugestand, um die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. Nur wenn die Korruption Überhand zu nehmen drohte und die Lagerleitung ihre Autorität in Frage gestellt sah, wurde eingeschritten. An der Rampe sollte jedoch unbedingt verhindert werden, dass das Gepäck - vor den Augen der Deportierten - geöffnet, durchsucht und geplündert wurde, um deren für den weiteren Ablauf der Selektion und Vergasung unerlässlichen Arglosigkeit nicht zu gefährden und Unruhe zu verhindern. Mit den Worten des Angeklagten ausgedrückt ging es darum, alles zu verhindern, „was Panik auslöst und denen die Augen öffnet, alles sollte so ruhig wie möglich ablaufen.“ Im Hinblick auf dieses Ziel war er - uniformiert und bewaffnet - gleichzeitig auch Teil der Drohkulisse, die jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht bereits im Keim ersticken sollte.  Zwar oblag die Bewachung der Deportierten primär den Angehörigen der sog. „Wachmannschaften“ („SS-Totenkopf-Sturmbanne“). Diese waren - wie der Angeklagte wusste - jedoch für die ankommenden Deportierten von den SS-Männern der HGV nicht zu unterscheiden, denn der einzige Unterschied bestand darin, dass die „Wachmannschaften“ nicht mit Pistolen, sondern mit Gewehren bewaffnet waren, ein Detail, dass nur diejenigen richtig zu deuten wussten, die sich in Auschwitz genau auskannten. Durch seine Tätigkeit beim „Rampendienst“ half der Angeklagte wissentlich und willentlich dabei, durch die Bewachung des Gepäcks die Arglosigkeit der Deportierten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig durch seine uniformierte und bewaffnete Anwesenheit auf der Rampe etwaige Widerstände oder Fluchtgedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen und somit die schnelle und reibungslose Durchführung des eigentlichen Tötungsvorgangs in den Gaskammern zu ermöglichen.

bb. Neben dem „Rampendienst“ bestand seine Aufgabe darin, das Geld, das den in Auschwitz internierten Menschen abgenommen worden war, nach Devisensorten zu sortieren, zu verbuchen und zu verwahren. Dies betraf sowohl die Gelder von Gefangenen, die aus politischen oder sonstigen Gründen dorthin gebracht worden waren und das Geld im Falle einer - zumindest theoretisch möglichen - Entlassung zurückerhalten sollten als auch die Gelder, die den zur Vernichtung deportierten Juden abgenommen worden bzw. bei der Durchsuchung ihres Gepäcks im „Kanada-Lager“ gefunden worden waren und, so die Sichtweise des Angeklagten, nunmehr „dem Staat gehörten“. Letztere wurden dem Angeklagten in einer Holzkiste angeliefert, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Der Angeklagte hatte den Inhalt dieser Kiste zu sortieren, zu verbuchen und in einem Tresor zu verwahren. In unregelmäßigen Abständen wurde das Geld, zusammen mit anderen Wertsachen aus dem Besitz der Deportierten, auf Lastwagen nach Berlin gebracht und dort entweder beim „SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt“ oder direkt bei der Reichsbank abgeliefert. Der Angeklagte begleitete diese Transporte und war bis zu endgültigen Übergabe für das Geld verantwortlich. Das Geld wurde auf ein unter einem Tarnnamen („Max Heiliger“) geführten Konto der SS bei der Reichsbank verbucht. Im Gegenzug dafür erhielt die SS von der Reichsbank Kredite aus sog. „Reinhard-Fonds“, die sie zum Auf- und Ausbau eigener Wirtschaftsbetriebe verwendete. Dem Angeklagten war bewusst, dass er die SS und die von ihr in Auschwitz betriebene Tötungsmaschinerie unterstützte, indem er ihr das von ihm verwaltete Geld zur Verfügung stellte.

cc. Binnen weniger Wochen erfuhr der Angeklagte, teils aus Gesprächen mit anderen SS-Angehörigen, überwiegend aus eigener Wahrnehmung, immer mehr Einzelheiten über die Abläufe und den Umfang der massenhaften Tötung von Menschen. Er versah eine nicht näher aufklärbare Zahl von Rampendiensten, sah die Berge von Gepäck, die auf der Rampe lagen und zählte Geld in allen möglichen Währungen. Er beteiligte sich an der Suche nach Flüchtigen, hörte die Menschen in der Gaskammer schreien, sah tagsüber den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien aufsteigen und nachts die Flammen aus den Verbrennungsgruben schlagen. Er beobachtete, wie ein SS-Wachmann ein an der Rampe zurückgelassenes Baby an den Füßen packte und an einem LKW totschlug. Obwohl er weiterhin der Überzeugung war, dass die „Entsorgung“ nicht arbeitsfähiger Juden notwendig war („Das Töten hielt ich grundsätzlich für o.k.!“), wandte er sich wegen der aus seiner Sicht überflüssigen Brutalität der Tötung des Babys an seinen Vorgesetzten. Dieser äußerte Verständnis, wies ihn aber gleichzeitig nachdrücklich darauf hin, dass er - der Angeklagte - als SS-Angehöriger seine Pflicht zu tun habe. Dabei ließ es der Angeklagte bewenden. Obwohl in ihm der Gedanke aufkam, „im falschen Boot zu sitzen“, fügte er sich, wie er es ausdrückte, „in die Bequemlichkeit des Gehorsams“, weil er wusste, dass die einzige Möglichkeit, Auschwitz zu verlassen, für ihn darin bestand, sich zu den kämpfenden SS-Einheiten („Feldeinheiten“) an die Front versetzen zu lassen. Weil er als „kriegsverwendungsfähig“ („k.v.“) und „abkömmlich“ galt, wäre ihm dies auch ohne weiteres - insbesondere ohne dienstliche Nachteile befürchten zu müssen - möglich gewesen. Für ihn war dies indes keine ernsthafte Option („Ich hatte Angst vor der Front, ich war ja kein doofer Vierzehnjähriger mehr!“). Spätestens als er Ende 1942 erfuhr er, dass sein Bruder G. vor Stalingrad gefallen war, kam eine freiwillige Meldung zur Front für ihn nicht mehr in Betracht, zumal er sich wenig später mit der Frau verlobte, mit der zuvor sein Bruder verlobt gewesen war. Der Angeklagte sah sich in der Pflicht, nunmehr anstelle seines Bruders mit ihr „die Blutlinie aufrechtzuerhalten“, was einen Fronteinsatz aus seiner Sicht ausschloss. In seinem „Verlobungs- und Heiratsgesuch“, das er 1943 an das „Rasse- und Siedlungshauptamt-SS“ richtete, bat er um „bevorzugte Bearbeitung“ seines Antrags und begründete dies wie folgt: „Ich bin letzter Sohn, da mein Bruder 1942 vor Stalingrad fiel. Da ich k.v. bin und mit einer Versetzung zu einer Feldeinheit in Kürze rechnen muss, bitte ich mein Gesuch bevorzugt zu bearbeiten und mir die Heiratsgenehmigung bis zum XX 1943 zu erteilen.“  Der Angeklagte erhielt die beantragte Genehmigung, heiratete und arrangierte sich mit den Verhältnissen in Auschwitz. Er vertrieb sich die Zeit nach Dienstschluss mit Leichtathletik und war froh, als Angehöriger der Häftlingsgeldverwaltung „unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun zu haben“, wenngleich ihm klar war, dass er durch seine Tätigkeit dazu beitrug, dass „das Lager Auschwitz funktionierte“ und er dies um seiner eigenen Sicherheit willen auch zumindest billigend in Kauf nahm.

6. a. Anfang März 1944 begann die SS damit, die sog. „Ungarn-Aktion“ vorzubereiten, gemeint war damit die Vernichtung der in Ungarn lebenden Juden nach dem Vorbild der „Aktion Reinhard“. Zu diesem Zweck reiste am 10.03.1944 eine als „Kommando Eichmann“ bezeichnete Gruppe von SS-Männer, die zuvor im KZ Mauthausen auf diesen Einsatz vorbereitet worden waren, in das zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Deutschen Reich verbündete Ungarn. In Ungarn galt bereits seit den 1920er Jahren eine Vielzahl von Gesetzen, mit denen Juden aus der Gesellschaft ausgegrenzt und ihnen der Zugang zu Universitäten, bestimmten Berufen usw. erschwert wurde. Außerdem waren viele jüngere männliche Juden zur Zwangsarbeit oder zum Dienst in der ungarischen Armee herangezogen worden. Eine systematische Verfolgung und Vernichtung nach deutschem Vorbild hatte es jedoch nicht gegeben. Dies änderte sich, nachdem am 19.03.1944 deutsche Truppen Ungarn besetzten, um zu verhindern, dass es angesichts der immer weiter vordringenden Roten Armee kapitulieren würde. Binnen weniger Tage begann die ungarische Gendarmerie auf Befehl der deutschen Behörden damit, die jüdische Bevölkerung - infolge der durch Zwangsarbeit und Militärdienst bedingten Abwesenheit vieler jüngerer Männer überwiegend bestehend aus Frauen, Kindern und älteren Menschen - in Ghettos zusammenzutreiben. In ländlichen Regionen dienten Fabriken und Ziegeleien als Sammelpunkte. Dort wurden die Menschen mehrere Wochen unter katastrophalen Umständen - räumliche Enge, unzureichende sanitäre Einrichtungen, kaum Trinkwasser und Nahrung - eingesperrt und für die Deportation nach Auschwitz bereitgehalten. Unter den Internierten breiteten sich Gerüchte aus, teilweise war die Rede davon, dass die Deutschen in Polen viele Juden erschossen hätten. Von einer massenweisen Tötung in Gaskammern ahnten die Menschen hingegen nichts, zumal sie die Deutschen - so eine weitverbreitete Meinung - für kultivierte Menschen und nicht für Barbaren hielten. Beruhigend wirkten auch Postkarten, die von Angehörigen zu stammen schienen, erkennbar in Polen abgeschickt worden waren und Texte enthielten wie: „Wir arbeiten hier alle zusammen auf einem Bauernhof und erwarten Eure Ankunft!“ Tatsächlich waren diese sog. „Waldseekarten“ von der SS in Umlauf gebracht worden, um - wie schon seit Beginn der „Aktion Reinhard“ - die Arglosigkeit der Juden aufrechtzuerhalten. Tatsächlich herrschte unter den Internierten die Meinung, dass das, was ihnen bevorstünde, weniger schlimm sein würde als die Zustände in den Ghettos bzw. Fabriken, zumal sie davon ausgingen, dass der Krieg und damit auch die deutsche Besatzung ohnehin bald vorüber sein würden. Nachdem die Menschen einige Wochen in den Ghettos bzw. Fabriken verbracht hatten, wurden sie zu Eisenbahnzügen gebracht. Aufgrund der katastrophalen Umstände, unter denen sie gelitten hatten, waren viele geradezu froh, nun endlich fort- und an einen vermeintlich besseren Ort gebracht zu werden. Aus dem Umstand, dass ihnen die Mitnahme von Gepäck erlaubt war, zogen viele der Internierten den Schluss, sie würden - was auch immer sie erwarte - jedenfalls am Leben gelassen. Diese Illusion nährten einige der ungarischen Bewacher, indem sie behaupteten, sie suchten Freiwillige für Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft. So stiegen die Menschen freiwillig in die Viehwaggons, nicht ahnend, welche Qualen ihnen bereits auf dem Transport nach Auschwitz bevorstanden, geschweige denn, was dort mit ihnen geschehen würde.

b. In Auschwitz hatte man sich in der Zwischenzeit auf die „Ungarn-Aktion“ vorbereitet, bei der man mit der Ankunft einer bis dahin noch nie dagewesen Zahl von Juden innerhalb weniger Wochen rechnete. In technischer Hinsicht bestand die wichtigste Neuerung darin, dass im südlichen Bereich des Lagers Birkenau („Auschwitz II“) ein Lageranschlussgleis verlegt worden war, so dass die Züge mit den Deportierten in das Lager hineinfahren und dort - nur wenige hundert Meter von den Gaskammern und Krematorien entfernt -  „entladen“ werden konnten. Auf diese Weise sollte die Tötung noch schneller und effektiver werden, wobei gleichzeitig der Personalaufwand dadurch reduziert wurde, dass durch die starke Sicherung des Lagers mit Stacheldraht, Wachtürmen und elektrisch geladenen Zäunen eine Postenkette rund um den gesamten Zug nicht mehr benötigt wurde. Das Lageranschlussgleis fächerte sich innerhalb des Lagers in drei Gleise auf, so dass die erwarteten sehr langen Züge geteilt und auf mehrere Gleise verteilt werden konnten. Im Lagerjargon wurde dieser Bereich als „neue Rampe“ bezeichnet. Auch in personeller Hinsicht wurde umstrukturiert, dies betraf insbesondere die Führungsebene des Lagers. Aus verschiedenen Konzentrationslagern wurden SS-Männer zusammengezogen, die sich ihm Rahmen der „Aktion Reinhard“ besonders „bewährt“ und sich spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten betreffend die massenweise Tötung und Verbrennung von Menschen angeeignet hatten. So kehrte u.a. SS-Obersturmbannführer R. H. als Standortältester nach Auschwitz zurück, sein früherer Adjutant J. K. wurde Kommandant von Birkenau („Auschwitz II“). Neuer Leiter aller Krematorien wurde SS-Hauptscharführer O. M., zuvor Kommandant eines Sonderkommandos für die Leichenverbrennung in offenen Gruben. Auch der Angeklagte, zwischenzeitlich zum SS-Unterscharführer (Unteroffizier) befördert, wusste, dass die „Ungarn-Aktion“ unmittelbar bevorstand („Das nannten wir damals schon „Ungarn-Aktion“, besser konnte man das auch nicht ausdrücken!“), wobei dies für ihn nicht mit durchgreifenden Änderungen verbunden war. Er versah weiter seinen Dienst in der HGV und an der „Rampe“ und genoss die für die Kriegszeit außergewöhnlich üppige Verpflegung.

c. Am 16.05.1944 traf der erste Eisenbahntransport mit jüdischen Menschen aus Ungarn im Lager Birkenau („Auschwitz II“) ein. Die Abläufe auf der „neuen Rampe“ entsprachen denen auf der mittlerweile als „alten Rampe“ bezeichneten. Die Viehwaggons wurden geöffnet und die Menschen, die mindestens drei Tage und Nächte zusammengepfercht und weitgehend ohne Wasser und Nahrung hatten ausharren müssen, herausgetrieben. Zwischen den von ihnen als „Soldaten“ wahrgenommenen SS-Männern sahen sie Menschen in gestreifter Kleidung, die sie an Pyjamas denken ließ. Einige reagierten auf diesen Anblick erleichtert, weil sie daraus schlossen, dass es sich tatsächlich um ein Arbeitslager handelte und es nicht zu den Erschießungen kommen würde, von denen sie gerüchteweise gehört hatten. Im weiteren Verlauf wurden die Ankommenden wie oben unter II. 5. a. dargestellt  von SS-Ärzten selektiert. Die Bedeutung der Selektion, bei der sie durch eine kurze Handbewegung entweder Richtung Gaskammer, von deren Existenz sie nicht wussten, oder Richtung Lager geschickt wurden, erfassten sie - wie im Hinblick auf die Aufrechterhaltung ihrer Arglosigkeit von der SS beabsichtigt - nicht. Sorgen bereitete ihnen in erster Linie die Trennung von ihren Angehörigen und die Frage, wann und wo man sich wiedersehen würde. Je nachdem, ob sie als arbeitsfähig galten oder nicht, wurden sie ins eigentliche Lager oder direkt zu den Gaskammern gebracht. Weil diese die große Zahl der Deportierten zeitweise kaum fassen konnten, mussten die dem Tode geweihten Menschen nicht selten unter freiem Himmel warten, bis sie - vermeintlich endlich zum Duschen - in die Gaskammer gebracht und dort wie oben unter II. 5. a. dargestellt getötet wurden.

d. Diejenigen, die im Lager aufgenommen wurden, mussten sich dort ebenfalls vollständig entkleiden. Sie wurden desinfiziert, bekamen die Haare abgeschoren und eine Häftlingsnummer in den Unterarm eintätowiert. Anschließend wurden sie in Häftlingskleidung gesteckt und in zumeist völlig überbelegte und von Ungeziefer wie Flöhen und Wanzen wimmelnde Baracken gebracht, wo sie sich teilweise auf einer dünnen Strohunterlage, teilweise auf dem blanken Boden eine Stelle zum Schlafen suchen mussten. Die Frage, wann sie denn ihre Angehörigen, von denen sie auf der Rampe getrennt worden waren, wiedersehen würden, beantworteten die dort bereits länger Internierten nicht selten, indem sie die Fragesteller zu einem Fenster zogen, auf den aus den Schornsteinen der Krematorien aufsteigenden Rauch zeigten und sagten: „Da ist deine Familie!“. Trotz der Umstände der Ghettoisierung, des Transports, der Selektion und der Zustände im Lager konnten viele Neuankömmlinge dies lange Zeit nicht glauben.

e. Die „Ungarn-Aktion“ dauerte vom 16.05.1944 bis zum 11.07.1944. Während dieser Zeit versah der Angeklagte an nicht näher aufklärbaren Tagen mindestens drei „Rampendienste“. Wie viele Menschen während seiner Anwesenheit auf der „neuen Rampe“ eintrafen ließ sich ebenfalls nicht feststellen. Im Übrigen versah er seinen Dienst in der HGV, wo er das Geld der Deportierten sortierte, zählte, verbuchte und verwahrte, um es später in Berlin abzuliefern. Seine innere Einstellung hatte sich diesbezüglich nicht geändert. Ihm war weiterhin bewusst, dass die massenhaften Tötungen in den Gaskammern vorsätzlich, rechtswidrig und unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer erfolgten, ferner dass den Opfern aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen und Qualen zugefügt wurden, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgingen und dass er diese Taten sowohl durch seine „Rampendienste“ als auch durch das Verwalten und Abliefern des den Deportierten abgenommenen Geldes fortlaufend unterstütze. Insgesamt kamen im Verlauf der „Ungarn-Aktion“ 141 Züge mit rund 430.000 aus Ungarn deportierten Menschen in Auschwitz an. Rund 80% dieser Menschen wurden direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern getötet. Weil die zur sofortigen Tötung bestimmten Menschen in Auschwitz nicht registriert wurden, ist ihre genaue Zahl nicht mit letzter Sicherheit ermittelbar. Zugunsten des Angeklagten geht die Kammer - unter Vornahme eines Abschlags, der den sich aus den Umständen ergebenden Unsicherheiten angemessen Rechnung trägt - von 300.000 im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ heimtückisch und grausam getöteten Menschen aus.

f. Nach dem Ende der „Ungarn-Aktion“ - zu diesem Zeitpunkt waren die Alliierten bereits in Frankreich gelandet und die Rote Armee weit nach Westen vorgestoßen - erkannte der Angeklagte, dass Auschwitz für ihn kein sicherer Ort mehr war. Er wusste, dass die russischen Truppen Auschwitz früher oder später erreichen würden und hatte nicht die Absicht, ausgerechnet dort als SS-Angehöriger in Kriegsgefangenschaft zu gehen. Entgegen seiner ursprünglichen Hoffnung, den Krieg dort überdauern zu können, sah er sich gezwungen, sich nunmehr doch zu einer SS-Feldeinheit an die Front versetzen zu lassen, zumal ohnehin vorgesehen war, alle abkömmlichen und kriegsverwendungsfähigen („k.v.-fähigen“) SS-Männer aus Auschwitz abzuziehen und an die Front zu schicken, und stellte ein entsprechendes Gesuch. Im Rahmen einer „k.v.-Austauschaktion“ wurde er im Oktober 1944 gemeinsam mit 500 anderen SS-Männern aus Auschwitz abgezogen. Er wurde in der Folge bei der sog. „Ardennenoffensive“ eingesetzt und verwundet.

g. Die Überlebenden der „Ungarn-Aktion“, die in verschiedenen Konzentrationslagern zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren und dort trotz der oben unter II. 4. dargestellten Umstände („Vernichtung durch Arbeit“) und der in den letzten Kriegsmonaten durchgeführten „Todesmärsche“ in andere, weiter westlich gelegene, Konzentrationslager am Leben geblieben waren, mussten nach ihrer Befreiung feststellen, dass ihre Familien weitgehend ausgelöscht worden waren. Einige von ihnen kehrten nach Ungarn zurück in der Hoffnung, dort auf Angehörige zu treffen. Stattdessen mussten sie nicht selten feststellen, dass sie nicht nur ihre Familien, sondern auch ihre Heimat verloren hatten, weil ihre Wohnungen und Häuser bereits von anderen Menschen in Besitz genommen worden und sie - die Überlebenden - dort keineswegs willkommen waren. So waren sie gezwungen, sich nach dem Verlust ihrer Angehörigen und ihrer Heimat irgendwie durchzuschlagen. Viele von ihnen wanderten aus, u.a. in die U.S.A, nach Kanada, Großbritannien und Israel. Ihr weiteres Leben war durch die „Ungarn-Aktion“ und ihre Folgen nachhaltig geprägt. Alpträume, Angst, Misstrauen, Schuldgefühle, Trauer und Scham gehörten fortan - und gehören bis heute - zu ihrem Alltag.

7. Der Angeklagte kehrte nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft 1948 nach N./ W. zurück und arbeitete dort als Buchhalter, später als Personalchef, in einer Glasfabrik.

Erstmals im Jahre 1978 führte die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main ein Ermittlungsverfahren gegen ihn und weitere 61 ehemalige SS-Angehörige, die in Auschwitz eingesetzt gewesen waren.  Am 05.01.1978 wurde der Angeklagte hierzu als Beschuldigter vernommen, wobei ihm der damals zuständige Oberstaatsanwalt erklärte, er - der Angeklagte - müsse sich keine Sorgen machen, denn eigentlich wolle man ihn nicht verfolgen, sondern als „Zeugen der Anklage“ gewinnen, der Angaben gegen das von anderen Beschuldigten vorgebrachte Argument eines angebliches „Befehlsnotstandes“ machen solle. Dementsprechend ging der Angeklagte nicht davon aus, selbst angeklagt zu werden, und behielt insoweit zunächst auch Recht. Am 06.03.1985 wurde das u.a. gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Ob und ggfs. wann der Angeklagte von der Einstellung erfuhr, konnte nicht festgestellt werden. Er interessierte sich nicht für den Verfahrensausgang, weil er sich durch das Verfahren nicht belastet fühlte, und erkundigte sich diesbezüglich auch weder persönlich noch über seinen Verteidiger.

In der Folgezeit sagte der Angeklagte in anderen Strafverfahren gegen ehemalige SS-Angehörige, die im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt worden waren, als Zeuge aus. Dies bestärkte ihn in der Annahme, im strafrechtlichen Sinne unschuldig zu sein und selbst keine Verfolgung befürchten zu müssen. Im Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer G. W. vor dem Landgericht Wuppertal, durchgeführt zwischen dem 28.10.1986 und dem 28.01.1988, wurden W. fünf Erschießungen von in Auschwitz internierten Menschen vorgeworfen. Der Angeklagte erklärte, er könne sich an W. nicht erinnern. Entsprechend äußerten sich auch vier weitere ehemalige SS-Männer, die ebenfalls als Zeugen vernommen wurden. Hieraus zog das Schwurgericht seinerzeit den  - für die Verurteilung letztlich bedeutungslosen -  Schluss, dass W. „keinesfalls länger als einige - wenige - Tage in der HGV seinen Dienst verrichtete.“ Die Feststellungen, die zur Verurteilung W. wegen Mordes in fünf Fällen führten, beruhten nicht auf den Angaben des hiesigen Angeklagten, sondern „auf der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, und den Aussagen insbesondere der Zeugen F., L., v. R., S. und T..“

Im September 1991 wurde der Angeklagte als Zeuge im Strafverfahren gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer H. K. vor dem Landgericht Duisburg vernommen. K. wurden ebenfalls fünf einzelne Tötungshandlungen vorgeworfen, u.a. durch Erschießen und Erschlagen. Der Angeklagte erklärte, er habe K. im Konzentrationslager Auschwitz kennengelernt und beschrieb ihn als „lockeren, leichtlebigen Typ“, der eigentlich selbst „ein Opfer von Auschwitz“ gewesen sei. Er machte Angaben zu seinen und K.s Aufgaben und den Verhältnissen in Auschwitz. Zu den konkreten Anklagevorwürfen machte er hingegen keine Angaben und erklärte, davon wisse er nichts. Das Verfahren wurde später eingestellt, weil K. dauerhaft verhandlungsunfähig war.

Im Jahre 2005 gab der Angeklagte dem Nachrichtenmagazin „SPIEGEL“ ein Interview und machte Angaben über seine Zeit und seine Tätigkeit im Konzentrationslager Auschwitz. Dies veranlasste die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“, bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen den Angeklagten anzuregen, was diese jedoch ablehnte. Nachdem das Landgericht München II am 12.05.2011 J. D. wegen seiner Tätigkeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt hatte, wiederholte die „Zentralstelle“ ihre Anregung unter Hinweis auf eine nunmehr vermeintliche geänderte Rechtsprechung. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main lehnte eine Wiederaufnahme erneut ab. Von alledem hatte der Angeklagte keine Kenntnis.

Ende November 2013 nahm schließlich die Staatsanwaltschaft Hannover die Ermittlungen gegen den Angeklagten auf, die im weiteren Verlauf zum hiesigen Strafverfahren gegen ihn führten. Hiervon erfuhr der Angeklagte durch Schreiben des Landeskriminalamtes Niedersachsen vom 19.12.2013, in dem er für den 17.01.2014 zur Vernehmung als Beschuldigter geladen wurde.

III.

Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten (oben I.) beruhen auf seinen in der Hauptverhandlung gemachten Angaben. Dass er bislang unbestraft ist, folgt aus der Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 28.01.2015, die in der Hauptverhandlung verlesen wurde.

Die Feststellungen zur Sache (oben II.) beruhen auf der Einlassung des Angeklagten sowie den in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismitteln. Sämtliche im Folgenden erwähnten Lichtbilder wurden in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Wegen der Einzelheiten wird gemäß § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf diese Abbildungen verwiesen. Soweit die Feststellungen auf den Ausführungen von Sachverständigen beruhen, hat sich die Kammer diesen nach eigener kritischer Würdigung angeschlossen. Dazu im Einzelnen:

1. Die Feststellungen zum Aufbau der SS und der Konzentrationslager (II. 1.) beruhen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. H., Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora, der diese Vorgänge unter Bezugnahme auf das im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführte Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 28.01.1988 (Strafverfahren gegen G. W.) erläutert hat.

2. Dass sich der Angeklagte freiwillig zur SS meldete (II. 2.), weil er als „Zahlmeister“ Teil dieser „zackigen Truppe“ sein wollte, folgt aus seinen Angaben. Der Angeklagte erklärte, er habe angesichts der anfänglichen militärischen Erfolge geradezu Sorge gehabt, möglicherweise „zu spät zu kommen“ und nicht mehr am Ruhm des Sieges teilhaben zu können. Seinen Einsatz in Ellwangen und Dachau hat der Angeklagte wie festgestellt geschildert.

3. Die Feststellungen zum Aufbau des Konzentrationslagers Auschwitz und den Planungen zu dessen Erweiterung durch den Aufbau des Konzentrationslagers Birkenau bzw. „Auschwitz II“  (II. 3.) beruhen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. H. sowie den von ihm in Bezug genommenen Feststellungen des  Urteils des Landgerichts Wuppertal vom 28.01.1988.

4. Die Feststellungen zur Planung der sog. „Endlösung der Judenfrage“ durch die „Aktion Reinhard“ sowie zur Errichtung der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor  (II. 4.) beruhen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. F. B., Historiker und Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München. Ergänzend hat der Sachverständige Dr. H. ausgeführt, ein ausdrücklicher sog. „Führerbefehl“ betreffend die „Endlösung“ sei bis heute nicht bekannt. Ob es einen solchen in schriftlicher Form gegeben habe, sei unklar. Eine Entscheidung ohne oder gar gegen den Willen der damaligen Machthaber sei aus sachverständiger Sicht jedenfalls ausgeschlossen. Denkbar sei hingegen eine mündliche Befehlserteilung, weil gerade die „Endlösung“ durch Geheimhaltung, Konspiration und Verschleierung geprägt sei. Es seien jedoch zahlreiche andere Dokumente bekannt, die auf die „Endlösung“ und die „Aktion Reinhard“ Bezug nähmen und in denen das Vernichtungsgeschehen verharmlosend als „Evakuierung“ oder „Umsiedlung“ bezeichnet werde. Dies deshalb, so die Sachverständigen Dr. B. und Dr. H. übereinstimmend, weil die Geheimhaltung der „Aktion Reinhard“ aus Sicht der damaligen Machthaber ein entscheidender Faktor für deren reibungslosen Ablauf gewesen sei. Dies folgt auch aus dem in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen und verlesenen „Verpflichtungsschein“ des ehemaligen Unterscharführers K. (SH X Bd. II Bl. 73), in dem es u.a. heißt: „Über alle während der Judenevakuierung durchzuführenden Maßnahmen habe ich unbedingte Verschwiegenheit zu bewahren auch gegenüber meinen Kameraden. [...] Ich wurde mit dem Schreiben [...] über einen besonders krassen Fall der fahrlässigen Preisgabe eines Staatsgeheimnisses durch eine Fernschreiberin, die vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde, bekanntgemacht und nochmals eingehend über die Geheimhaltung im Dienstbetrieb belehrt.“

5. a. Die Feststellungen zur Versetzung des Angeklagten nach Auschwitz (II. 5. a.) beruhen in erster Linie auf seinen Angaben. Der Sachverständige Dr. B. hat unter Bezugnahme auf die bei den Akten befindliche Versetzungsverfügung (SH II Bl. 223) hierzu ergänzend ausgeführt, der Angeklagte sei ausdrücklich für die „Aktion Reinhard“ nach Auschwitz geschickt worden und dabei formal Angehöriger des „SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamts“ (WVHA) geblieben. Das WVHA sei u.a. zuständig gewesen für die Verwertung jüdischen Eigentums und habe zu diesem Zweck eigenes Personal in die Vernichtungslager entsandt, um die Erfassung und Ablieferung von Wertgegenständen wie Devisen, Schmuck, Edelsteinen etc. sicherzustellen. Dokumentiert sei u.a. die Ablieferung von 2,65 Tonnen Gold und 20,3 Millionen Reichsmark. Gleichwohl sei die „Endlösung“ für die damaligen Machthaber ein „Verlustgeschäft“ gewesen, was sie um des eigentlichen Ziels - der Vernichtung der europäischen Juden - willen in Kauf genommen hätten.

Die Feststellungen zu den Deportationen in Viehwaggons, den qualvollen Umständen während dieser Transporte, den „Selektionen“ und anschließenden Vergasungen der als nicht arbeitsfähig eingestuften Menschen beruhen auf den vom Sachverständigen Dr. H. als zutreffend bestätigten und ergänzend erläuterten Feststellungen des Urteils des Landgerichts Wuppertal vom 28.01.1988. Der Angeklagte erklärte hierzu, er habe bereits kurz nach seiner Ankunft an einer nächtlichen Suche nach flüchtigen Internierten teilgenommen. Dabei habe er eine Vergasung in einem der ehemaligen, zu Gaskammern umfunktionierten, Bauernhäuser beobachtet. Der ihm bekannte spätere Leiter der Krematorien O. M. habe eine Klappe geöffnet, eine Gasmaske aufgesetzt und den Inhalt einer „Büchse“ hineingeschüttet. Nach kurzer Zeit seinen aus dem Gebäude laute Schreie zu hören gewesen, die erst nach rund 20 Minuten leiser geworden und nach weiteren 10 Minuten schließlich verstummt seien. Dies hat der medizinische Sachverständige Dr. S. A., Rechtsmediziner am U. H.-E., als aus sachverständiger Sicht ohne weiteres nachvollziehbar bezeichnet und die Wirkungsweise des damals unter dem Namen „Zyklon B“ vertriebenen Cyanwasserstoffs („Blausäure“) auf den menschlichen Körper wie festgestellt beschrieben. Die Wirkungsweise von Cyanwasserstoff sei anhand von Unfällen und Suiziden ausführlich erforscht. Entscheidend für die Frage, nach welcher Zeit Bewusstlosigkeit und Tod einträten, sei die Dosierung. Während eine hohe Dosierung rasch zum Tode führe, sei bei niedriger Dosierung und ungleichmäßiger Verteilung des entstehenden Gasgemischs von einem langen, qualvollen Todeskampf auszugehen, der zunächst diejenigen betreffe, die dem Gasgemisch am stärksten ausgesetzt seien, also größere Personen nahe der Einwurfstelle. Kurz nachdem er die Vergasung beobachtet habe, so der Angeklagte, habe er auch eine der Verbrennungsgruben gesehen, aus der die Flammen lodernd herausgeschlagen hätten. Schon allein der Geruch nach verbranntem Menschenfleisch habe ihn davon abgehalten, sich die Verbrennung aus der Nähe anzusehen.

b. Die Feststellungen zum Einsatz und zu den Aufgaben des Angeklagten in der HEV bzw. HGV, namentlich zu den sog. „Rampendiensten“ und zur Geldverwaltung (II. 5. b.), beruhen auf seinen Angaben, die durch die Ausführungen der Sachverständigen Dr. B. und Dr. H. bestätigt und ergänzt wurden.

aa. Zu den „Rampendiensten“ (II. 5. b. aa.) hat der Angeklagte erklärt, er habe nicht die ankommenden Menschen, sondern deren Gepäck bewachen müssen, um Diebstähle durch SS-Angehörige und auf der „Rampe“ eingesetzte Funktionshäftlinge zu verhindern. Wörtlich sagte er: „Da sollten wir aufpassen, dass SS-Leute wie auch die Häftlinge aus dem Kanada-Kommando aus dem Gepäck der Angekommenen keine Wertgegenstände, Geld oder Essen klauten.“ Insgesamt sei es auf der Rampe darum gegangen, alles zu verhindern, „was Panik auslöst und denen die Augen öffnet, alles sollte so ruhig wie möglich ablaufen.“ Daraus folgt für die Kammer, dass die Bewachung des Gepäcks und die Verhinderung von Diebstählen nicht in erster Linie  dazu diente, im Auftrag des WVHA die „Beute“ zu sichern, zumal am Essen der Ankommenden dort niemand interessiert war. Vielmehr diente sie vor allem dem eigentlichen Zweck der „Aktion Reinhard“, nämlich der schnellen und reibungslosen Tötung der bewusst arglos gehaltenen Juden. Wäre es bereits vor ihren Augen zu Plünderungen ihres Gepäcks gekommen, so wäre mit dem Aufkommen von Unruhe zu rechnen gewesen. Möglicherweise hätten die Menschen versucht, ihr Gepäck - ihren letzten verbliebenen Besitz - zu verteidigen oder hinsichtlich ihrer bevorstehenden Tötung Verdacht geschöpft. Dies zu vermeiden war, wie der Angeklagte wusste, von zentraler Bedeutung für die rasche Durchführung der Selektion und der anschließenden Vergasung. Demgegenüber war die Verhinderung von Diebstählen um des vollständigen Erhalts der „Beute“ willen von untergeordneter Bedeutung. Der Sachverständige Dr. B. hat diesbezüglich ausgeführt, Diebstähle seien in Auschwitz an der Tagesordnung gewesen. Obwohl offiziell erhebliche Sanktionen bis hin zur Todesstrafe gedroht hätten, seien Verstöße durch SS-Angehörige zumeist entweder gar nicht oder allenfalls halbherzig verfolgt worden. Nur wenn die Diebstähle und die Korruption im Lager überhandgenommen hätten, sei punktuell eingeschritten worden. Im Übrigen sei es aufgrund einer allgemein akzeptierten „Kameradschaft des Schweigens“ Konsens gewesen, sich gegenseitig nicht zu denunzieren. Die SS-Angehörigen hätten sich auf diese Weise mit Wissen und Billigung ihrer Vorgesetzten durch die Diebstähle „selbst motiviert“.

Dass die „Rampendienste“ des Angeklagten nicht nur der Aufrechterhaltung der Arglosigkeit der Ankommenden dienten, sondern zumindest auch dazu, jeden möglichen Gedanken an Widerstand oder Flucht bereits im Keim zu ersticken, folgt für die Kammer daraus, dass der Angeklagte sie uniformiert und bewaffnet versah und somit aus Sicht der Deportierten genauso „Bewacher“ war wie die Angehörigen der eigentlichen Wachmannschaften („SS-Totenkopf-Sturmbanne“). Anhaltspunkte dafür, dass die Ankommenden anhand der unterschiedlichen Bewaffnung mit Pistolen (HGV-Angehörige) und Gewehren (Wachmannschaften) hätten erkennen können, dass der Angeklagte „nur“ für das Gepäck und nicht für ihre Bewachung zuständig gewesen wäre, bestanden weder objektiv noch aus Sicht des Angeklagten. Dass er sich gleichwohl auf diese - für die Ankommenden nicht bestehende - Unterscheidbarkeit berufen hat, wertet die Kammer als Ausdruck seines Wunsches, „unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun gehabt“ zu haben. Dass der Angeklagte - wenn auch nicht in erster Linie - auch die Deportierten zu bewachen hatte, folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H., demzufolge alle SS-Männer in Auschwitz, auch die Angehörigen der HGV, verpflichtet waren, Widerstand oder Fluchtversuche erforderlichenfalls mit Waffengewalt zu unterbinden. Dies wird bestätigt durch die vom Angeklagten selbst geschilderte nächtliche Suche nach Flüchtigen, an der er teilnahm und anlässlich derer er die Vergasung und die offenen Verbrennungsgruben sah (s.o.).

Die als Zeugin vernommene Nebenklägerin I. W. hat bekundet, ihr Vater habe als Funktionshäftling in einem der Krematorien von Birkenau („Auschwitz II“) die Leichen aus den Gaskammern und zu den Verbrennungsöfen schaffen müssen.

bb. Die Feststellungen zu seiner sonstigen Tätigkeit in der HGV - dem Sortieren, Verbuchen und Verwahren von Geld sowie dessen Ablieferung beim WVHA bzw. der Reichsbank - (II. 5. b. bb.) beruhen auf den Angaben des Angeklagten, die der Sachverständige Dr. B. bestätigt und durch seine Ausführungen zu dem unter dem Tarnnamen „Max Heiliger“ geführten Konto und den Kreditvergaben aus sog. „Reinhard-Fonds“ wie festgestellt ergänzt hat.

cc. Die unter II. 5. b. cc. getroffenen Feststellungen beruhen auf der Einlassung des Angeklagten, die ergänzt wurde durch die Erläuterungen des Sachverständigen Dr. B. zum Heiratsgesuch des Angeklagten (3. Anlage zum Protokoll).

6. a. Die Feststellungen betreffend die Vorbereitung der „Ungarn-Aktion“ durch das sog. „Kommando Eichmann“ (II. 6. a.) beruhen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H.. Sie wurden bestätigt und ergänzt durch die glaubhaften Angaben der als Zeugen vernommenen Nebenkläger M. E., I. P., Dr. I. L., S. P., E. P.-F., H. B., T. B., E. L., K. Z. und I. W., die übereinstimmend bekundet haben, sie seien im April bzw. Mai 1944 von der ungarischen Gendarmerie aus ihren Häusern geholt und in Ghettos (so die Zeugen P., P.-F., H. B., Z. und T. B.) oder stillgelegte Ziegeleien (so die Zeugen E., P., Dr. I. L., E. L. und W.) gesperrt worden. Auch die dortigen Lebensverhältnisse haben die Zeugen weitgehend übereinstimmend wie festgestellt geschildert. Die Zeugin P.-F. hat bekundet, sie sei 51 Tage lang in einem Ghetto eingesperrt gewesen, wo 10 Personen auf 40 Quadratmetern gehaust hätten. Auch der Zeuge T. B. verbrachte nach eigenen Angaben einige Wochen in einem Ghetto. In Wohnungen, in denen zuvor 2.500 Menschen gelebt hatten und die von den ungarischen Behörden geräumt worden waren, seien 12.500 Juden zwangsweise untergebracht worden. Die Zeugin H. B. berichtete von 30.000 Juden, die „in zwei Blocks zusammengepfercht worden seien“. Die meisten jüdischen Männer seien zuvor bereits in Arbeitslager verschleppt worden. Infolge dessen sei man davon ausgegangen, bis zum Ende des Krieges ebenfalls in ein Arbeitslager zu kommen. Der Zeuge Dr. I. L. berichtete von Folter durch ungarische Polizisten mit dem Ziel, vermeintlich reichen Juden Geld und Wertsachen abzupressen. Auch die Zeugin P.-F. gab an, einer ihrer Onkel sei „fast totgeschlagen worden“. Der Zeuge E. L. gab an, die Menschen hätten aus Angst vor Diebstählen Geld und Schmuck in ihre Kleidung eingenäht. Eines Tages seien angeblich Freiwillige für einen Einsatz als Landarbeiter gesucht worden. Seine Familie, so der Zeuge M. E., habe eine der sog. „Waldseekarten“ erhalten und sich gefreut, ihre vermeintlich in der Landwirtschaft eingesetzten Angehörigen schon bald wiederzusehen. Während der Internierung in der Ziegelei habe ein SS-Offizier bestätigt, dass man sie zur Arbeit auf einen Bauernhof bringen werde und die Familien dort zusammen bleiben könnten. Dazu passend hat der Zeuge I. P. bekundet, er sei nach einigen Tagen in Auschwitz von einem SS-Offizier gefragt worden, ob er seinen Angehörigen in Ungarn schreiben wolle und habe diesem zur vermeintlichen Vorbereitung eines Briefes die entsprechenden Adressen gegeben, danach aber nie wieder etwas von dem Mann gehört. Daraus folgt für die Kammer, dass die Frage nach Angehörigen und deren Adressen dem Versand weiterer „Waldseekarten“ diente, was die Bedeutung der Täuschung und damit der Arglosigkeit der Opfer aus Sicht der Täter unterstreicht. Die Zeugin S. P. berichtete, sie habe von einer bevorstehenden „Umsiedlung“ gehört und ihre Nähmaschine mitgenommen, um am neuen Wohnort Kleidung für sich und ihre Familie nähen zu können. Ihr Bruder habe ihr Mut zugesprochen und gesagt: „Keine Angst vor den Deutschen! Deutschland ist ein tolles Land, zivilisiert, kultiviert und erfindungsreich. Denen muss man vertrauen!“ Auch der Zeuge I. P. erklärte, allgemein habe man auf einen Einsatz in der Landwirtschaft gehofft, weil die ungarischen Bewacher entsprechende Gerüchte in Umlauf gebracht hätte, und sagte: „Alles schien uns besser zu sein als das Ghetto!“ Die Zeugin P.-F. fasste die Stimmung unter den Deportierten wie folgt zusammen: „Niemand ist so taub wie der, der nicht hören will. Wir dachten, wir würden in ein Arbeitslager kommen, der Krieg ist bald zu Ende, das schaffen wir schon, danach wird alles wieder gut. Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass Familien getrennt werden könnten!“

Im weiteren Verlauf, so die Zeugen übereinstimmend, seien sie mit 80-90 anderen Menschen in einen Viehwaggon gesteckt worden. Dort habe es einen Eimer mit Wasser und einen leeren Eimer als „Toilette“ gegeben. Nachdem die Türen verschlossen worden seien, seien sie 3 Tage und Nächte unterwegs gewesen. Hunger, Durst, Hitze und Gestank seien unerträglich gewesen. Allenfalls wenige Menschen hätten einen Platz gefunden, um sich hinzusetzen, die weitaus meisten hätten die ganze Zeit überstehen müssen. Der Zeuge E. beschrieb dies mit den Worten. „Wir standen wie Sardinen in einer Dose. Meine Mutter war irgendwo in einer Ecke eingeklemmt. Irgendwann wurde es Nacht. Einige Ältere schrien und weinten, einige hatten Platzangst. Wir schliefen im Stehen. Die Lok pfiff, ich wachte auf - es war real, kein Albtraum. Morgens schöpfte ich Hoffnung, aber es kam die nächste Nacht. Am dritten Tag konnte jemand das Schild eines Bahnhofs lesen - wir waren in Polen. Auf dem Transport starben in unserem Waggon zwei Menschen - die Leichen fuhren weiter mit.“ Die Zeugin S. P. bekundete, in ihrem Waggon sei der Eimer mit Wasser bereits beim Anfahren des Zuges umgekippt, so dass es überhaupt kein Trinkwasser mehr gegeben habe. Menschen seien gestorben, die Leichen im Waggon verblieben.

b. Die Feststellungen zur Vorbereitung der „Ungarn-Aktion“ in Auschwitz (II. 6. b.) beruhen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H., der diese Vorgänge wie festgestellt bekundet hat, sowie der Einlassung des Angeklagten.

c. Die Ankunft der Deportierten in Auschwitz und die Vorgängen auf der „Rampe“  (II. 6. c.) beschrieb der Zeuge G. wie folgt: „Eines Morgens hielt der Zug an, die Türen gingen auf, es war ein schöner Junimorgen. Ich sah eine leere Rampe mit Soldaten und Leute in blau-grauen Pyjamas und runden Mützen, die schrien „Raus! Raus!“. Das Gepäck sollten wir beschriften, es würde uns nachgebracht. Männer und Frauen wurden getrennt. Meine Mutter und meine achtjährige Schwester habe ich nie wieder gesehen, sie verschwanden einfach aus meinem Leben. Mein Vater und ich standen in einer langen Reihe. Es war relativ ruhig, vereinzelt wurde geweint.“ Der Zeuge E. bekundete: „In der dritten Nacht wurde der Zug rangiert, es rumpelte. Ich hörte, dass Deutsch gesprochen wurde. Die Türen gingen auf, es war stockdunkel. Da war ein Mann in gestreifter Kleidung, der rief „Raus! Schnell!“. Alle versuchten, ihre Sachen zu finden, es war alles voller Kot und Urin. Plötzlich ging Flutlicht an. Ich nahm den Geruch von verbranntem Fleisch wahr. Irgendwo schlugen große Flammen raus, ich dachte an eine große Fabrik. Mehr konnten wir nicht erkennen. Wir waren geschockt und erstarrt. Meine Mutter hatte meine Schwester und meine beiden kleinen Brüder im Arm. Sie wurde nach links geschickt. Später erfuhr ich, das war der Weg zur Gaskammer. Mein Vater, mein Onkel und ich wurden nach rechts geschickt. Wir machten uns Sorgen, gingen aber davon aus, am nächsten Tag alle wieder zusammen zu sein.“  Diese Schilderungen werden bestätigt durch das in Augenschein genommene Lichtbild Sonderheft XIII Bl. 5. Auf diesem Bild, das aus einem der sog. „Auschwitz-Alben“ stammt und von SS-Angehörigen aufgenommen wurde, ist eine Selektion während der „Ungarn-Aktion“ festgehalten. Im Vordergrund des Bildes ist eine Gruppe von SS-Offizieren zu erkennen, die die Selektion vornimmt und - aus der Sicht des Betrachters - die in  Fünferreihen angetretenen Ankommenden entweder nach rechts, d.h. über den im unteren rechten Bereich abgebildeten hölzernen Gleisübergang ins Lager oder nach links in Richtung Gaskammern schickt. Im oberen linken Teil des Bildes sind Menschen zu sehen, die zu Fuß auf dem Weg zur Gaskammer sind. Die Zeugin P.-F. erklärte, sie habe bei ihrer Ankunft in Birkenau dass sog. „Zigeunerlager“ gesehen und - obwohl die dort eingepferchten Menschen abgemagert ausgesehen hätten - erleichtert gedacht: „Die Familien sind zusammengeblieben.“ Obwohl die Zeugen das Szenario an der Rampe - Funktionshäftlingen in „Pyjamas“, „aggressive“ und „respektlos“ auftretende, bewaffnete „Soldaten“, teilweise mit wild bellenden Hunden - übereinstimmend als verwirrend, teilweise auch als verängstigend beschrieben, rechnete ihren Angaben zufolge keiner von ihnen mit einem erheblichen körperlichen Angriff, geschweige denn damit, getötet zu werden. Die Zeugin W. bekundete, sie sei zur Zwangsarbeit im sog. „Kanada-Lager“ eingesetzt worden, welches in unmittelbarer Nähe der Gaskammern gelegen habe. Dort habe sie „Berge von Kleidung, Schuhen, Brillen, Kinderwagen, Töpfen etc.“ sortieren müssen. Sie sagte: „Wir lebten neben den Gaskammern. Tag und Nacht zogen Kolonnen an uns vorbei Richtung Gaskammer. Die Leute hatten keine Ahnung, was ihnen bevorstand!“ Der Zeuge I. P. fasste seine Eindrücke von der Ankunft auf der Rampe wie folgt zusammen: „Wir spürten, da ist was im Busch, aber die Täuschung war perfekt.“ Daraus folgt für die Kammer, dass die Menschen trotz der schockierenden Umstände, unter denen sie nach Auschwitz verschleppt und dort angekommen waren, noch immer damit rechneten, „nur“ zu Zwangsarbeit herangezogen zu werden. Dies war ganz im Sinne des Tatplans, der vorsah, sie bis zum letzten Moment arglos zu halten und ihre darauf beruhende Wehrlosigkeit zur Tötung auszunutzen.

d. Die Feststellungen zu den Umständen, unter denen die zur Zwangsarbeit ausgewählten Deportierten im Lager Birkenau aufgenommen und untergebracht wurden (II. 6. d.), beruhen auf den insoweit im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben der Zeugen E., G., P.-F., E. L., T. B., Z., Dr. I. L., I. P., S. P., I. W. und H. B.. Die Zeugin W. hat bekundet, sie habe eine schon länger in Auschwitz internierte Frau gefragt, wann sie ihre Familie wiedersehen werde. Diese habe auf den Rauch gezeigt und gesagt: „Da ist deine Familie!“ Sie - die Zeugin W. - habe das anfänglich nicht verstanden und sich gefragt, warum jemand so etwas schreckliches sagt. Ähnliche Erlebnisse schilderten auch die Zeugin Z., der Zeuge T. B. und der Zeuge G.. Der Zeuge G. bekundete, er habe einen anderen Internierten nach dem Verbleib seiner achtjährigen Schwester gefragt. Er - der Zeuge - sei daraufhin zu seinem Vater gelaufen und habe ihm von der Antwort berichtet, woraufhin dieser entgegnet habe: „Glaub das nicht! Das sind zivilisierte Leute! Die töten keine kleinen Mädchen!“ Sein Vater, so der Zeuge, habe Tage gebraucht, um zu realisieren, was geschehen war. Auch diese Reaktionen sprechen dafür, dass die Deportierten keineswegs damit rechneten, sie oder ihre Angehörigen würden getötet werden.

e. Die Feststellungen zur Dauer der „Ungarn-Aktion“ und zur Zahl der in deren Verlauf in den Gaskammern von Birkenau („Auschwitz II“) getöteten Menschen (II. 6. e.) beruhen auf den Angaben der Sachverständigen Dr. H.. Dieser hat ausgeführt, anhand unterschiedlicher Quellen lasse sich die Gesamtzahl der nach Birkenau deportierten ungarischen Juden mit mindestens 430.000 angegeben. Erhalten geblieben seien u.a. Telegramme, in denen der damalige „Reichsbevollmächtigte für Ungarn“ E. V. das Auswärtige Amt in Berlin über die „Fortschritte“ der Deportationen informierte, ferner eine unter Historikern als „Kassa-Liste“ bezeichnete, heimlich von Bahnbeamten geführte Aufstellung über die Zahl der Transporte und der darin verschleppten Menschen und der sog. „Glaser-Bericht“, in dem die Zahl der bei den Selektionen auf der „Rampe“ als  arbeitsfähig eingestuften Personen festgehalten sei. Danach seien etwa 20% der Deportierten ins Lager aufgenommen, die übrigen 80% direkt nach ihrer Ankunft getötet worden. Für den der Anklage zugrunde liegenden Zeitraum sei unter Berücksichtigung gewisser Abweichungen in den Angaben von mindestens 320.000 direkt nach ihrer Ankunft vergasten Menschen auszugehen.

Dass der Angeklagte die Umstände kannte, unter denen die Menschen starben, folgt aus seiner Einlassung. Dies betrifft sowohl ihre Arglosigkeit („Die Menschen, die da ankamen, waren vollkommenen ahnungslos!“) als auch deren bewusste Ausnutzung zur Tötung („alles verhindern was [...] denen die Augen öffnet“). Bei Beginn der Ungarn-Aktion hatte der Angeklagte bereits mehr als eineinhalb Jahre in Auschwitz Dienst getan und bei seinen Rampendiensten mehrfach Selektionen beobachtet. Zudem war er mit den Vorgängen in Auschwitz auch durch Gespräche mit anderen SS-Männern bestens vertraut. Dass die Menschen, nachdem sie - angeblich zum Duschen - in die Gaskammern geschickt worden waren, dort einen langen und qualvollen Todeskampf erlitten, war ihm aufgrund der Beobachtung einer Vergasung und den lang anhaltenden Schreien der Opfer bekannt. Der Angeklagte war mit der massenhaften Tötung einverstanden („Das Töten hielt ich grundsätzlich für o.k.!“) und wusste, dass er diese fortlaufend unterstützte. Hierzu erklärte er: „Auch wenn ich unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun hatte, habe ich durch meine Tätigkeit dazu beigetragen, dass das Lager Auschwitz funktionierte. Dies ist mir heute bewusst.“ Dass der Angeklagte dies bei Begehung der Tat verkannt hätte, schließt die Kammer aus. Zwar berief sich der Angeklagte auf eine „ihm heute unerklärliche Verdrängung“ und begründete diese mit der „Gewohnheit, Tatsachen so zu akzeptieren, wie sie auftraten“ und der „Bequemlichkeit des Gehorsams“. Dies bedeutet indes letztlich nichts anderes, als dass er sich um seiner eigenen Bequemlichkeit und - mit Blick auf einen möglichen Fronteinsatz - Sicherheit willen damit abfand, sich - wie er es selbst bezeichnete - „mitschuldig“ zu machen.

f. Dass der Angeklagte nach dem Abschluss der „Ungarn-Aktion“ zu einem Truppenübungsplatz und anschließend an die Front versetzt wurde (II. 6. f.), folgt aus seiner Einlassung, deren Richtigkeit durch die in der Hauptverhandlung verlesene Veränderungsmitteilung vom XX 1944 bestätigt wird. Vorausgegangen war ein Versetzungsgesuch vom XX 1944. Dies folgt aus einem verschrifteten Funkspruch vom XX 1944 (Sonderheft II, Bl. 198), den der Sachverständige Dr. B. erläuterte. Darin heißt es: „Insgesamt erfolgt ein kv. Austausch durch den Lagerkomm.KL.Au. von 500 Unterf. und Männern. Setzen Sie sich mit dem Lagerkomm.KL.AU.I. in Verbindung und stellen sie Unterscharf. O. G., geb. 1921 als kv.Mann mit zur Verfügung. Sie erhalten von dort einen entsprechenden Ersatzmann. Der dortige Versetzungsantrag vom XX 1944 wird von hier nicht weitergeleitet.“ Der Angeklagte will darüber hinaus noch zwei weitere Versetzungsgesuche gestellt haben, eines davon bereits kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz. Für die Richtigkeit dieser Behauptung haben sich indes keine konkreten Anhaltspunkte ergeben, vielmehr bestehen hieran, ohne dass es hierauf entscheidend ankäme, durchgreifende Zweifel. Für die Kammer ist bereits nicht nachvollziehbar, warum er sich trotz seiner „Angst vor der Front“ einerseits zum Stellen von Versetzungsgesuchen durchgerungen und dadurch den Unmut seiner Vorgesetzten auf sich gezogen, diese dann aber andererseits nicht mit dem nötigen „Nachdruck“ verfolgt haben will. Der Angeklagte galt, wie der Sachverständige Dr. B. unter Bezugnahme auf die in Augenschein genommene Liste der Angehörigen der SS-Standortverwaltung Auschwitz (Sonderheft II S. 218) erläuterte, als kriegsverwendungsfähig („k.v.“) und abkömmlich. Unter diesen Umständen, so der Sachverständige Dr. H., hätte ein Versetzungsgesuch - wenn es denn tatsächlich gestellt worden wäre - mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zeitnahe Versetzung zur Folge gehabt. Dienstliche Nachteile hätte der Angeklagte hierdurch nicht zu befürchten gehabt, allenfalls hätte er - wie von ihm geschildert - den persönlichen Unmut seiner Vorgesetzten auf sich gezogen. Von einem „Befehlsnotstand“ - auf den sich der Angeklagte nicht berufen hat - könne auch aus sachverständiger Sicht keine Rede sein. Die SS-Führung habe bereits seit 1941 wiederholt bei der Inspektion der Konzentrationslager nach kriegsverwendungsfähigen Männern („k.v.-Männern“) gefragt, um die Verluste in den „Feldeinheiten“ auszugleichen. Im weiteren Verlauf des Kriegs seien immer mehr ehemalige Frontsoldaten, die aufgrund von Verwundungen nicht mehr „k.v.“ waren, im Tausch gegen „k.v.-Männer“ in Konzentrationslagern eingesetzt worden. Freiwilligenmeldungen zu den Feldeinheiten habe es in Auschwitz jedoch erst gegeben, als klar gewesen sei, dass es aufgrund des Abschlusses der „Ungarn-Aktion“ und der prekären militärischen Lage ohnehin Versetzungen („k.v. Austauschaktion“, s.o.) geben würde. Dabei habe es sich letztlich um eine nur scheinbare Freiwilligkeit gehandelt, wie sie beim Militär und der SS häufig geradezu eingefordert worden sei („Freiwillige vortreten!“). Daraus zieht die Kammer den Schluss, dass sich auch der Angeklagte erst „freiwillig“ meldete, als ihm klar war, dass dies sowohl mit Blick auf die immer weiter vordringende Rote Armee als auch auf die ohnehin bevorstehenden Versetzungen unumgänglich war.

g. Die Feststellungen zum weiteren Schicksal der Überlebenden der „Ungarn-Aktion“ (II. 6. g.) beruhen auf den glaubhaften Angaben der Zeugen, deren Angaben nachfolgend zusammengefasst dargestellt sind:

Die Zeugin W. bekundete, sie sei kurz vor der Befreiung von Auschwitz auf einem „Todesmarsch“ in ein anderes Lager gebracht worden. Ihre Eltern M. und L. F. sowie ihre Brüder M., R. und G. sowie zehn Cousinen und Cousins seien in Auschwitz getötet worden. Sie sei nach ihrer Befreiung in die U.S.A. ausgewandert. Die Zeugin O.-R. gab an, sie selbst sei in Auschwitz geboren worden. Ihr Vater, Dr. T. B., sei dort getötet worden, ihre Mutter sei nach ihrer Befreiung nach Kanada gezogen. Die dort lebenden Überlebenden des Holocaust trauerten bis heute um ihre getöteten Angehörigen („Wir alle weinen noch immer um die, die sie uns genommen haben, Herrn G.!“). Ihre Mutter sei mit 71 Jahren gestorben. Kurz vor ihrem Tod habe Auschwitz sie in Form von Alpträumen wieder eingeholt. Sie habe sogar gemeint, der Lagerarzt Dr. Mengele stehe in der Tür und sei gekommen, um sie zu holen. Der Zeuge E. L. erklärte, mit Ausnahme eines Bruders und einer Schwester sei seine gesamte Familie, bestehend aus knapp 50 Menschen, in Auschwitz getötet worden. Er selbst sei nach seiner Befreiung in die U.S.A. ausgewandert. Die in Kanada lebenden Zeuginnen J. K. und I. K. gaben an, ihr Vater sei bereits vor der „Ungarn-Aktion“ zur Zwangsarbeit herangezogen worden und auf diese Weise der Deportation nach Auschwitz entgangen. Seine Ehefrau und seine Tochter E. E. W. sowie 32 weitere Familienangehörige seien nach Auschwitz verschleppt worden, nur zwei von ihnen hätten überlebt. Dieser Verlust sei nicht nur ihrem Vater, sondern auch seiner nach dem Krieg neu gegründete Familie stets gegenwärtig gewesen („Es war, als sei der Holocaust ein Besucher, der unser Essen mit uns teilte“). Ähnliches berichtete die Zeugin Be. die angab, ihr Vater sei mit seiner Ehefrau und seiner fünfjährigen Tochter E. nach Auschwitz deportiert worden. E. und ihre Mutter seien dort im Juni 1944 getötet worden. Der 6. Oktober, E. Geburtstag, sei für ihren Vater stets ein „Gedenktag“ gewesen, an dem er Kerzen aufgestellt und geweint habe. Sie sei auf diese Weise mit einer „Schattenfamilie“ aufgewachsen und habe sich immer wieder die Frage gestellt, ob E. ein besserer Mensch geworden wäre als sie selbst. Der Zeuge T. B. gab an, er habe nach seiner Befreiung mehrere Monate gebraucht, um sich nach Ungarn durchzuschlagen. Dort habe er feststellen müssen, dass das Haus seiner Familie bereits von anderen Menschen bewohnt worden sei. Daraufhin sei er nach Deutschland gegangen und habe eine Weile in einem Auffanglager gelebt. Später sei er erneut nach Ungarn gereist und habe dort seinen Vater wiedergesehen, gleichzeitig aber auch erfahren, dass von den 1.150 Juden, die in seinem Heimatdorf gelebt hätten, nur noch 155 am Leben gewesen seien. Seine Mutter A. und seine Schwester V. hätten Auschwitz nicht überlebt. Er selbst sei wieder nach Deutschland zurückgekehrt („In die amerikanische Zone, das gab es das beste Essen, das war immer noch wichtig!“) und habe „verzweifelt versucht, eine Einreiseerlaubnis für ein Land außerhalb Europas zu kriegen“. Nach zwei Jahren habe er schließlich nach Kanada auswandern können. Die Zeugin H. B.  bekundete, ihre Eltern I. und E. K. seien in Auschwitz getötet worden. Die Zeugin P.-F. gab an, insgesamt 49 ihrer Angehörigen seien in Auschwitz getötet worden, darunter ihre Eltern D. und I. F. sowie ihre Schwester G.. Die Zeugin Z. verlor durch den Holocaust nach ihren Angaben über 100 Familienangehörige, ihre Mutter R. P. wurde direkt nach der Ankunft in Auschwitz getötet. Sie habe Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt und sei schließlich nach Kanada ausgewandert. Die Zeugin S. P. erklärte, ihre Mutter sei direkt nach der Ankunft in Auschwitz getötet worden, ihr Vater später vermutlich auch. Ihr Bruder habe ihr berichtet, er habe als „Funktionshäftling“ im „Sonderkommando“ Leichen „aus den Gaskammern in die Verbrennungskammern geschleppt“. Sie selbst habe zunächst in Guben Zwangsarbeit leisten müssen und sei auf einem „Todesmarsch“ ins KZ Bergen-Bergen gelangt. Die Verhältnisse dort seien selbst für jemanden, der Auschwitz überlebt habe, „unbeschreiblich“ gewesen. „Berge von Leichen, alles dreckig, Seuchen - es war schlimmer als der Tod!“ Sie habe an Flecktyphus und Tuberkulose gelitten, habe nur noch kriechen können und sich gewünscht, zu sterben. Nach der Befreiung sei sie in ein provisorisches Krankenhaus gebracht worden („mein Wiedereintritt ins Leben“) und schließlich in Schweden gesundgepflegt worden. Über Kanada sei sie schließlich nach Großbritannien gezogen. Als Holocaust-Überlebende hätten sie und ihr Mann, ein Überlebender des KZ Mauthausen, „sehr isoliert gelebt“. Ihre heutige Einstellung beschrieb sie mit den Worten: „Wir leben heute in einer anderen Welt, davon bin ich überzeugt - nur meine Psyche muss ich davon noch überzeugen!“

Die Kammer hat keine Bedenken, die Angaben der Zeugen ihren Feststellungen zugrunde zu legen. Sie standen im Einklang mit der Einlassung des Angeklagten und den Ausführungen der Sachverständigen Dr. B. und Dr. H.. Belastungstendenzen waren nicht erkennbar. Keiner der Zeugen hat behauptet, den Angeklagten nach mehr als 70 Jahren wiederzuerkennen oder sich auch nur an seinen Namen zu erinnern. Die meisten Zeugen haben ausdrücklich betont, dass Ihnen an der Aufklärung der in Auschwitz begangenen Morde durch ein deutsches Gericht und an der Erinnerung an die Opfer, nicht aber an einer Bestrafung des hochbetagten Angeklagten gelegen sei.

7. Die Feststellungen zum Leben des Angeklagten nach 1945 (II. 7.) beruhen im Wesentlichen auf seiner Einlassung. Dass das gegen ihn von der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main geführte Ermittlungsverfahren am 06.03.1985 eingestellt wurde, ergibt sich aus der in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesenen Einstellungsverfügung (Sonderheft X Bd. 1 Bl. 9-11). Der Inhalt seiner - für die Überführung des Angeklagten W. letztlich bedeutungslosen - Zeugenaussage im Verfahren vor dem Landgericht Wuppertal ergibt sich aus dem im Wege des Selbstleseverfahrens eingeführten Urteil. Zum Inhalt seiner Zeugenaussage im Verfahren gegen H. K. hat die Kammer den seinerzeit beisitzenden Richter, VorsRiLG a.D. D. S., vernommen. Dieser bekundete, der Angeklagte habe sich über H. K. wie festgestellt geäußert. Insgesamt habe der Angeklagte „erstaunlich emotionsarm“ gewirkt, dass sei aber auch bei anderen ehemaligen SS-Männern der Fall gewesen. Der Angeklagte habe von seinem Rampendienst („Keine Panik war oberstes Gebot!“) und den Dienst in der HGV berichtet. Aus seiner Aussage habe man „unter dem Strich keine größeren Erkenntnisse ziehen können“, weil H. K. fünf einzelne Tötungshandlungen vorgeworfen worden seien, von denen der Angeklagte nichts gewusst haben wolle.

IV.

Nach den Feststellungen ist der Angeklagte schuldig der Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen. Gegenstand der Anklage und der Verurteilung ist dabei allein die Tötung der aus Ungarn deportierten Juden während der sog. „Ungarn-Aktion“ vom 16.05.1944 bis zum 11.07.1944 (oben II. 6.) unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern des Konzentrationslagers Birkenau („Auschwitz II“). Hierzu hat Angeklagte Beihilfe geleistet.

1. Die vorsätzliche Tötung der Menschen in den Gaskammern erfüllt den Tatbestand des Mordes. Anzuwenden ist insoweit § 211 StGB in der derzeit geltenden Fassung, weil diese mit Blick auf die Rechtsfolge (lebenslange Freiheitsstrafe) gegenüber § 211 StGB in der bei Begehung der Tat geltenden Fassung (Todesstrafe) das mildere Gesetz im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB darstellt. Erfüllt sind die Mordmerkmale der Heimtücke und der Grausamkeit.

a. Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, wobei es - gerade bei von langer Hand geplanten und vorbereiteten Taten - ausreicht, wenn der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz planmäßig in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit ist es erforderlich, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Diese Voraussetzungen sind nach den Feststellungen erfüllt. Die Opfer wurden planmäßig mit Tötungsabsicht in einen Hinterhalt - die Gaskammer - gelockt, indem ihnen vorgespiegelt wurde, es gehe zum Duschen. Die Arglosigkeit der Opfer war den Tätern nicht nur bewusst, sondern nach dem Tatplan geradezu mitentscheidend für dessen erfolgreiche Umsetzung. Anschließend wurden die Türen von außen verriegelt, so dass die Opfer im wahrsten Sinne des Wortes in der Falle saßen. Mithin kommt es nicht entscheidend darauf an, ob einige von ihnen infolge des Verschließens der Türen möglicherweise Verdacht schöpften und bei Beginn der eigentlichen Tötungshandlung, dem Einwurf des „Zyklon B“,  bereits einen Angriff auf ihr Leben befürchteten (vgl. BGH, 06.11.2014, 4 StR 416/14, zitiert nach juris). Maßgeblich ist vielmehr die Arglosigkeit bei Betreten der Gaskammer. Dem Umstand, dass möglicherweise einzelne Opfer bereits bei Betreten der Gaskammer trotz aller gegenteiligen Bemühungen der Täter nicht mehr arglos waren, ist dadurch Rechnung getragen, dass die Kammer zugunsten des Angeklagten von „nur“ 300.000 Ermordeten ausgeht (s.o. unter II. 6. e.)

b. "Grausam" tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung, Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen. Die Grausamkeit muss nicht notwendig in der eigentlichen Ausführungshandlung im engeren Sinne und den durch diese verursachten Leiden liegen; sie kann sich auch aus den Umständen ergeben, unter denen die Tötung eingeleitet und vollzogen wird. Das grausame Verhalten muss vor Abschluss der den tödlichen Erfolg herbeiführenden Handlung auftreten und vom Tötungsvorsatz umfasst sein. Hier wurden den Opfern von den Tätern, die sich als SS-Angehörige zu Gefühllosigkeit und Unbarmherzigkeit gegenüber den als „Feinden“ betrachteten Juden geradezu verpflichtet fühlten, sowohl körperliche als auch seelische Schmerzen und Qualen bereitet. In seelischer Hinsicht betrifft dies den Umstand, dass die Menschen gezwungen waren, vor bzw. während ihres eigenen Todeskampfs den ihrer Schicksalsgenossen, häufig ihrer eigenen Kinder und/oder Eltern, hilflos mit anzusehen. Dass der langsame, mit Vergiftungserscheinungen und Atemnot beginnende und in schwere Krampfanfälle einmündende, sich über 20 bis 30 Minuten hinziehende Todeskampf auch mit körperlichen Schmerzen verbunden war, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen, liegt auf der Hand.

2. a. Der Angeklagte ist der Beihilfe zu Mord schuldig, weil er i.S.d. § 49 StGB in der bei Begehung der Tat geltenden Fassung „dem Täter zur Begehung des Verbrechens oder Vergehens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet hat“, indem er das insgesamt auf Tötung von Menschen ausgerichtete System des Konzentrationslagers Birkenau („Auschwitz II“) fortlaufend unterstützte. „Täter“ der Haupttat sind hier sowohl diejenigen, die als „Hintermänner“ die „Ungarn-Aktion“ angeordnet haben (u.a. Hitler, Göring und Himmler) als auch diejenigen, die in Birkenau die Tötungshandlungen (Einwurf des „Zyklon B“) vornahmen, z.B. SS-Hauptscharführer O. M. (so zu den DDR-Grenztruppen BGH, 26.07.1994, 5 StR 98/94, zitiert nach juris). Nach ständiger Rechtsprechung ist als Hilfeleistung in diesem Sinne grundsätzlich jede Handlung anzusehen, die die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt dieses Erfolges in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird, ist nicht erforderlich (vgl. BGH, 16.11.2006, 3 StR 139/06 - „Fall M.“). Diese Voraussetzungen treffen auf die Tatbeiträge des Angeklagten zu. Der Angeklagte hat, indem er im Rahmen seinen „Rampendienstes“ durch das Verhindern von Plünderungen des Gepäcks die Arglosigkeit der Opfer aufrechterhielt und gleichzeitig als Teil einer Drohkulisse, die jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht im Keim ersticken sollte, dazu beigetragen, einen schnellen und reibungslosen Ablauf der „Selektionen“ zu gewährleisten und damit auch die anschließenden Tötungsvorgänge in den Gaskammern erleichtert und beschleunigt. Zudem hat er die Täter dadurch unterstützt, dass er für sie das Geld, das den Opfern abgenommen bzw. von „Funktionshäftlingen“ im „Kanada-Lager“ in der Kleidung und im Gepäck aufgefunden worden war, verwaltete, nach Berlin brachte und es ihnen  - den Tätern - dort zur Verfügung stellte. Ob und in welcher Weise das Geld anschließend verwendet wurde, ist ohne Bedeutung (vgl. BGH a.a.O.). Dabei handelte er sowohl hinsichtlich der Tötungsvorgänge und der Umstände, welche die Mordmerkmale der Heimtücke und der Grausamkeit erfüllen, als auch hinsichtlich seiner eigenen Gehilfenbeiträge und der Förderung der Haupttat vorsätzlich.

b. Eine Verurteilung wegen täterschaftlichen Handelns kam demgegenüber nicht in Betracht. Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein. Danach gilt hier folgendes: Zwar war der Angeklagte mit der Herbeiführung des Taterfolges, d.h. der Tötung, einverstanden. Dies allein macht ihn indes nicht zum Mittäter. Ein eigenes Interesse am Taterfolg hatte er nicht. Seine Bezüge als SS-Mann war weder von der Zahl der Ermordeten noch dem Wert ihres Besitzes abhängig, er wurde nicht anteilsmäßig an der „Beute“ beteiligt und hatte persönlich durch ihren Tod auch sonst keine Vorteile. Ihm kam es - jedenfalls während der „Ungarn-Aktion“, als er bereits seit langem das Gefühl hatte, „im falschen Boot zu sitzen“ - auch nicht darauf an, im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie an der  „Endlösung“ mitzuwirken, sondern darauf, einen Fronteinsatz zu vermeiden. Hierzu hätte indes -  um den Beschäftigungsbedarf in der HGV aufrechtzuerhalten - die Deportation und anschließende Internierung ausgereicht, der Tötung bedurfte es nicht. Der Angeklagte hatte auch keine Tatherrschaft, weil er auf die bei den Selektionen getroffenen Entscheidungen und den Ablauf der eigentlichen Tötungsvorgänge in den Gaskammern überhaupt keinen Einfluss nehmen konnte. Er hatte auch nicht die Vorstellung, die Absicht oder den Wunsch dies zu tun, sondern legte vielmehr Wert darauf, „unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun zu haben“. Somit war sein gesamtes Verhalten von einer - seinem Selbstverständnis als SS-Unteroffizier entsprechenden - Unterordnung unter den Willen seiner Vorgesetzten einschließlich des „Führers“ Adolf Hitler geprägt. Schließlich waren seine Tatbeiträge auch von untergeordneter Bedeutung.

3. Die „Ungarn-Aktion“ stellt - jedenfalls für den Angeklagten - eine einheitliche Tat im rechtlichen Sinne dar. Dabei kann offen bleiben, ob der gesamte Betrieb eines Konzentrations- bzw. Vernichtungslagers oder jedenfalls die zeitlich klar eingrenzbare „Ungarn-Aktion“ generell als eine Tat anzusehen ist (so für die „Ungarn-Aktion“ BGH, 22.03.1967, 2 StR 279/66, zitiert nach juris) oder ob es sich um eine ganze Serie von Tötungsdelikten handelt, die zwar einheitlich angeordnet und geplant, aber zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Tätern an räumlich voneinander abgrenzbaren Orten - den Gaskammern des Konzentrationslagers Birkenau -  begangen wurde. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob die Täter die (Haupt-)Taten tatmehrheitlich begangen haben. Vielmehr ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Leistet ein Gehilfe für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten – soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt – als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Gehilfe aber während des Laufs der Deliktserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden (BGH, 19.11.2014, 4 StR 284/14; BGH, 07.12.2010,
3 StR 434/10; zitiert nach juris). Letzteres ist hier der Fall. Die gesamte Tätigkeit des Angeklagten in Auschwitz war dadurch geprägt, dass sie eine Vielzahl von Morden förderte, ohne dabei auf die Förderung bestimmter einzelner Taten gerichtet zu sein. Dies gilt insbesondere für das Verwalten und Abliefern des Geldes. Dass die „Rampendienste“, die er während der „Ungarn-Aktion“ versah, einen gewissen Bezug zu den sich unmittelbar anschließenden Vergasungen hatten, führt zu keinem anderen Ergebnis, weil eine Aufspaltung in Einzeltaten allein deswegen willkürlich und gekünstelt erschiene und auch dem Verständnis des Angeklagten, der die „Ungarn-Aktion“ als einheitliches Geschehen betrachtete, nicht gerecht würde.

V.

1. Die Strafe war dem Strafrahmen des § 211 StGB in der derzeit geltenden Fassung zu entnehmen, die gemäß §§ 27 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1, 38 Abs. 2 StGB zu mildern war, wodurch sich ein Strafrahmen von drei bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe eröffnete. Die vorgenannten Vorschriften sind „milder“ im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB, weil die §§ 49 Abs. 2, 44 Abs. 2, 14 Abs. 2 StGB in der bei Begehung der Tat geltenden Fassung keine Freiheitsstrafe (damals als „Gefängnisstrafe“ bezeichnet), sondern eine „Zuchthausstrafe“ von drei bis fünfzehn Jahren vorsahen.

2. Eine weitere Strafrahmenverschiebung gemäß § 46b StGB hat die Kammer geprüft, im Ergebnis jedoch verneint. Seine Angaben im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main haben nicht zu Anklagen oder gar Verurteilungen geführt, vielmehr wurde das Verfahren am 06.03.1985 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die Angaben, die der Angeklagte zwischen der Einstellung dieses Verfahrens und der Aufnahme der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Hannover Ende November 2013 gemacht hat, können schon deshalb keine „Aufklärungshilfe“ im Sinne des § 46b StGB darstellen, weil der Angeklagte während dieser Zeit nicht Beschuldigter war. Eine solche „Aufklärungshilfe“ setzt - sowohl in der bis zum 31.07.2013 als auch in der derzeit geltenden Fassung - voraus, dass der aufklärende „Täter“ zum Zeitpunkt seiner Offenbarung Beschuldigter ist, d.h. dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren geführt wird (Fischer, StGB, 62. Auflage, § 46b, Rn. 23 m.w.N.). Überdies führten seine Angaben in den Strafverfahren gegen W. und K. auch zu keinem Aufklärungserfolg. Zwar hat der Angeklagte Angaben zu den Vorgängen in Auschwitz und seinen eigenen sowie im Falle K. auch zu dessen Tätigkeiten dort gemacht. Einen wesentlichen Beitrag zur Überführung von W. oder K. hat er gleichwohl nicht geleistet, weil er zu den ihnen vorgeworfenen Taten gerade keine Angaben machen konnte. Der Schluss, den das Schwurgericht in Wuppertal aus seinen Angaben zog, nämlich dass W. allenfalls wenige Tage in der HGV tätig war, war für dessen Verurteilung nicht wesentlich. Ausschlaggebend waren letztlich die Angaben anderer Zeugen (s.o. II. 7.).  Das bloße Bemühen um eine Aufklärung, reicht indes nicht aus (Fischer a.a.O. Rn. 14a), zumal die Verhältnisses und Vorgänge in Auschwitz durch die Aussagen von Überlebenden und die Arbeit von Historikern generell bereits seit langem bekannt waren.

3. Zugunsten des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass er unbestraft und geständig war und dass er sich über viele Jahre, spätestens seit dem „SPIEGEL“-Interview von 2005 auch öffentlich, zu seiner Tätigkeit und den Vorgängen in Auschwitz bekannt hat. Seine Angaben in der Hauptverhandlung waren von großer, teils schonungsloser Offenheit geprägt. Die wiederholte Verwendung des damals üblichen „SS-Jargons“ ermöglichte der Kammer wichtige Erkenntnisse über seine innere Einstellung bei Begehung der Tat. Dies hebt ihn deutlich aus der Masse ehemaliger SS-Männer heraus, die Zeit ihres Lebens die von ihnen begangenen Taten entweder verschwiegen, bestritten oder beschönigt haben. Für ihn spricht außerdem, dass er sich dem Verfahren unter Anspannung sämtlicher geistiger und körperlicher Kräfte gestellt und insbesondere von den Aussagen der als Zeugen vernommenen Nebenkläger erkennbar beeindruckt war. Er hat sich - wenngleich er nur von einer moralischen, nicht aber einer strafrechtlichen Schuld ausging - von Anfang an ausdrücklich zu seiner Verantwortung bekannt und erklärte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, in „Demut und Reue vor den Opfern zu stehen“. Eine Bitte um Vergebung „stehe ihm nicht zu“, um Vergebung könne er nur „seinen Herrgott bitten“. Ferner war zu berücksichtigen, dass die Taten mehr als 70 Jahre zurückliegen und es im Hinblick auf das hohe Alters des Angeklagten einer spezialpräventiven Einwirkung auf ihn nicht mehr bedarf. Schließlich war - losgelöst von der Frage der Haftfähigkeit, deren Prüfung der Kammer nicht obliegt - seine besondere Haftempfindlichkeit zu bedenken und nicht zuletzt auch darauf Bedacht zu nehmen, dass er mit Blick auf die in Artikel 1 GG verbürgte Menschenwürde zwar nicht die Gewissheit, aber doch zumindest die Chance haben muss, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden (BGH, 27.04.2006, 4 StR 572/05, zitiert nach juris).

Gegen den Angeklagten sprachen die große Zahl der Opfer, die Verwirklichung zweier Mordmerkmale und die Folgen der Tat für die Hinterbliebenen, die Zeit ihres Lebens unter dem gewaltsamen Verlust ihrer Angehörigen litten und bis heute leiden.

Unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände ist eine Freiheitsstrafe von vier Jahren tat- und schuldangemessen.

4. Die Kammer hat ferner geprüft, ob ein Teil der Strafe wegen des Vorliegens einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (Verstoß gegen Art. 6 MRK) für vollstreckt zu erklären ist, dies jedoch im Ergebnis verneint. Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine derartige Entscheidung voraus, dass der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden ist, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss (BGH Großer Senat für Strafsachen, 17.01.2008, GSSt 1/07, zitiert nach juris). Etwaige Verzögerungen in dem von der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main zwischen 1978 und 1985 geführten Ermittlungsverfahren gebieten indes schon deshalb keine Kompensation, weil sie den Angeklagten keinen fühlbaren Belastungen aussetzten, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen und deshalb berücksichtigt werden müssten. Nach den Feststellungen ging der Angeklagte - obwohl er als Beschuldigter vernommen worden war - selbst nicht davon aus, jemals angeklagt zu werden, nachdem ihm vom zuständigen Oberstaatsanwalt gesagt worden war, er sei nur als Zeuge von Interesse. Er befand sich demnach trotz des Ermittlungsverfahrens nicht in einer Drucksituation, sondern fühlte sich durch die Erklärung des Oberstaatsanwalts geradezu bestärkt in seiner Meinung, moralisch mitverantwortlich, juristisch aber unschuldig zu sein und dementsprechend auch kein Strafverfahren und keine Strafe fürchten zu müssen. Dass gegen den Angeklagten zwischen 1985 und 2013 kein Ermittlungsverfahren geführt wurde, weil die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main keinen hinreichenden Tatverdacht gesehen und das Verfahren gegen ihn gemäß § 170 Abs. StPO eingestellt hatte, begründet ebenfalls keine Verfahrensverzögerung, denn ein nicht existentes Verfahren kann nicht verzögert werden und aus nicht geführten Ermittlungen können keine fühlbaren Belastungen für den Täter resultieren. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main hatte auch nicht die Möglichkeit, im Interesse des Angeklagten eine Anklage mit dem Ziel eines Freispruchs zu erheben und damit eine der Rechtskraft zugängliche Entscheidung herbeizuführen, denn ein derartiges Vorgehen ist in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen. Die - bei Verneinung eines hinreichenden Tatverdachts zwingende - Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO erfolgte somit im Interesse des Angeklagten, um diesen nicht einem damals für nicht aussichtsreich gehaltenen Gerichtsverfahren auszusetzen. Sie stellt somit - losgelöst von der Frage, ob die ihr zugrunde liegenden Erwägungen seinerzeit zutreffend waren - keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung dar (vgl. BGH, 18.04.2002, 3 StR 79/02, zitiert nach juris). Anhaltspunkte für eine rechtsstaatswidrige Verzögerung des hiesigen, von der Staatsanwaltschaft Hannover gegen den Angeklagten im November 2013 eingeleiteten Verfahrens, sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich.

V.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus §§ 465 Abs. 1, 472 Abs. 1 StPO.