Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.10.1994, Az.: 13 L 1082/93
Ausstellung eines Vertriebenenausweises; Vertriebenenausweis; Vertreibungsgebiet; Spätaussiedler; Aussiedler; Spätgeborener
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.10.1994
- Aktenzeichen
- 13 L 1082/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 13994
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1994:1019.13L1082.93.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig 21.10.1992 - 8 A 8468/91
- nachfolgend
- BVerwG - 04.04.1995 - AZ: BVerwG 9 C 400/94
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 8. Kammer - vom 21. Oktober 1992 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Revison wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger, der am 23. Oktober 1949 ... geboren wurde und im Februar 1990 aus ... (...) nach Braunschweig gekommen ist, begehrt die Ausstellung eines Vertriebenenausweises.
Seine Eltern sind (waren) ... und ..., geborene .... Die Großeltern mütterlicherseits, ..., geboren 1888, und ..., geb. ..., waren evangelisch. Sie besaßen in ... (...) eine Landwirtschaft, wo die Mutter des Klägers 1924 geboren wurde. Im Oktober 1940 wurde die Familie mit ihren vier Kindern von der Einwandererzentralstelle ... erfaßt; eine Einbürgerung ist indessen nicht nachgewiesen. ... und ... blieben auf ihrem Hof; dort sind sie sind im April 1945 ermordet worden.
Die Mutter des Klägers begab sich im April 1941 als Landarbeiterin nach Süddeutschland (in die Nähe von Lindau/Bodensee), offenbar zusammen mit ihrem Bruder ... (geb. 1919), der sich ebenfalls seit April 1941 dort (Opfenbach/Kreis Lindau) befand. Nach dessen Angaben hatte er 1939/40 in Polen einem "Selbstschutz"(-Verband) angehört und war dann zum Arbeitseinsatz in Deutschland geworben worden, zu dem er sich freiwillig gemeldet gehabt habe. ... war zunächst als "Dienstknecht", dann als "Käserei-Hilfsarbeiter" tätig und ist nach dem Krieg in Opfenbach geblieben. Er wurde als deutscher Volkszugehöriger angesehen und hat 1954 einen Vertriebenenausweis erhalten. Seine Schwester ... kehrte im Herbst 1943 zu ihren Eltern zurück, weil sie schwanger war; im Januar 1944 brachte sie dort eine Tochter (...) zur Welt. Danach begab sie sich wieder nach Lindau. Am 19. Mai 1945 heiratete sie in Ravensburg den Vater des Klägers, der - als Pole - (seit Mai 1940) ebenfalls bei einem Bauern arbeitete. Nachdem die Mutter des Klägers von der Ermordung ihrer Eltern erfahren hatte, begab sie sich (mit ihrem Ehemann) nach Radomsko, um ihre Tochter abzuholen. Eine Ausreise nach Deutschland wurde ihnen danach versagt.
Im Februar 1985 kam die Mutter des Klägers nach Braunschweig, wo sie im September 1985 von der Beklagten einen Vertriebenenausweis erhielt (ebenso ihr Ehemann, der ihr gefolgt war und inzwischen - 1988 - gestorben ist). Auch ein jüngerer Sohn (geb. 1962) hat (1988; von der Stadt Bochum) einen Vertriebenenausweis erhalten.
Nach seiner Einreise gab der Kläger vor dem Bundesbeauftragten im Verteilungsverfahren an, von 1967 bis 1987 Berufssoldat gewesen zu sein (1967-71 Pilotenausbildung; letzter Dienstgrad: Major). Mit Rücksicht auf diesen beruflichen Werdegang, nach welchem ein Vertreibungsdruck nicht mehr unterstellt werden könne, wurde das Verfahren ausgesetzt (Bescheid vom 14. 2. 1990). Ebenso lehnte die Beklagte den Antrag auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises mit Bescheid vom 30. Juli 1990 wegen Fehlens eines Vertreibungsdruckes ab; daneben bezweifelte sie bei dem als "Spätgeborenen" angesehenen Kläger das Vorliegen einer Prägung zum Deutschtum (durch seine Mutter). Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Bezirksregierung Braunschweig mit der Begründung zurück, der Kläger habe eine konkret eine Vertreibungsdruck erzeugende Benachteiligung und Bedrückung nicht nachgewiesen (Bescheid vom 1. 7. 1991, zugestellt am 8. 7. 1991).
Die am 8. August 1991 erhobene Klage hat der Kläger damit begründet, daß es keine Anhaltspunkte dafür gebe, daß er aus vertreibungsfremden Gründen übergesiedelt sei. Er habe seinen Berufswunsch als Pilot nur deshalb verwirklichen können, weil den polnischen Behörden bis zur Ausreise seiner Mutter nicht bekannt gewesen sei, daß er deutscher Volkszugehöriger sei. Danach sei er vom Dienst suspendiert und (nur mündlich) entlassen worden.
Nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 21. Oktober 1992 abgewiesen. Es hat die deutsche Volkszugehörigkeit seiner Mutter angezweifelt und jedenfalls verneint, daß der Kläger von ihr zum Deutschtum geprägt worden sei. Er habe allenfalls rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache und sich nicht in einem seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprechenden Umfang im Rahmen des tatsächlich Möglichen derart mit dem Deutschtum, der deutschen Sprache, Kultur, Geschichte, Sitten und Gebräuche sowie Traditionen befaßt, daß er sich als Deutscher gefühlt habe. Darüber hinaus habe er nicht glaubhaft gemacht, einem gegen Deutsche gerichteten Vertreibungsdruck ausgewichen zu sein. Selbst wenn der Auffassung gefolgt würde, daß § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG einen solchen unterstelle, lägen jedenfalls Tatsachen vor, die die gesetzliche Vermutung widerlegten (militärische Laufbahn). Die Kammer halte es auch nicht für überzeugend, daß den polnischen Sicherheitsbehörden eine Prägung des Klägers zum Deutschtum bei seiner Einstellung nicht bekannt geworden wäre.
Gegen dieses, ihm am 30. Dezember 1992 zugestellte Urteil richtet sich die am 28: Januar 1993 eingelegte Berufung des Klägers, zu deren Begründung er sich auf die deutsche Volkszugehörigkeit seiner Mutter beruft. Seit seiner Kindheit wisse er um deren Abstammung; sie habe ihm immer wieder gesagt, daß er Deutscher sei, und ihm im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Deutsch beigebracht. Die gesetzliche Vermutung des Vorliegens eines Vertreibungsdruckes habe die Beklagte nicht widerlegt. Es lägen keine Umstände vor, die eine Abkehr vom Deutschtum und eine Hinwendung zum polnischen Volkstum belegen könnten. Seine langjährige Tätigkeit als Pilot beim Militär beruhe auf einem seit der Kindheit bestehenden Berufswunsch. Zur Erreichung dieses Zieles habe er die Militärlaufbahn einschlagen müssen. Ein Überwechseln in die Zivilluftfahrt sei ihm verweigert worden. Auch nach seiner Entlassung aus der Armee habe er sich vergeblich darum bemüht gehabt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 1990 und den Widerspruchsbescheid der Beziksregierung Braunschweig vom 1. Juli 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm einen Vertriebenenausweis zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil sowie die Rechtsauffassung, daß der Kläger als "Spätgeborener" eine Prägung zum Deutschtum nachzuweisen habe. Im übrigen meint sie, daß jedenfalls die Vermutung, daß er einem Vertreibungsdruck erlegen sei, widerlegt sei.
Wegen des Vorbringens der Parteien im übrigen und zur weiteren Sachdarstellung wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg. Der Kläger hat auch nach Auffassung des Senats keinen Anspruch auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises gem. § 15 BVFG i.d.F. vom 28. Juni 1990 (BGBl. I S. 1247), das gemäß § 100 Abs. 1 BVFG i.d.F. vom 2. Juni 1993 (BGBl. I S. 829) weiterhin auf ihn anzuwenden ist; denn der Kläger hat das Vertreibungsgebiet vor dem 1. Januar 1993 verlassen und kann deshalb nicht Spätaussiedler (§ 4 BVFG n.F.), sondern nur Aussiedler im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG sein. Er erfüllt indessen die Voraussetzungen dieser Bestimmung nicht, da er nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Polen nicht als deutscher Volkszugehöriger (vor dem 1. 7. 1990) verlassen hat.
Der Frage, ob der am 23. Oktober 1949 in Grünberg/Niederschlesien geborene Kläger deutscher Volkszugehöriger ist oder nicht, hängt entscheidend davon ab, ob er (im vertriebenenrechtlichen Sprachgebrauch) als "Früh-" oder als "Spätgeborener" einzuordnen ist. Indem das Verwaltungsgericht vom Kläger den Nachweis einer Prägung zum Deutschtum verlangt hat, hat es ihn offensichtlich als "Spätgeborenen" angesehen. Denn wäre er "Frühgeborener", müßte ihm die Bekenntnislage seiner Eltern (zu Beginn der allgemeinen Vertreibung) zugerechnet werden, ohne daß eine Weitergabe des Deutschtums an ihn zu fordern wäre (BVerwGE 79, 73 [BVerwG 23.02.1988 - 9 C 41/87]; Beschl. v. 20. 2. 1991 - 9 B 247/90 -, DÖV 1991, 509). Dann müßte die Klage Erfolg haben, da seine - insoweit allein zu berücksichtigende - Mutter zweifelsfrei deutsche Volkszugehörige ist.
Der Kläger gehört zu einem Personenkreis, der nach Beginn und vor Abschluß der allgemeinen Vertreibung der deutschen Bevölkerung geboren worden ist; denn diese war in Polen 1949 noch nicht beendet (s. Vertreibungsdokumentation, Bd. I/1, S. 123 E f). Die vertriebenenrechtliche Einordnung dieses Personenkreises ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht grundlegend entschieden worden. Denn dieses sah als "Frühgeborene" die Personen an, die bei Beginn der Vertreibung schon lebten, und als "Spätgeborene" solche Personen, die nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden sind, erfaßte also die während der allgemeinen Vertreibung Geborenen nicht. Wegen dieser Unklarheit hat der Senat dem Kläger Prozeßkostenhilfe bewilligt. Die Entscheidung über seine Berufung geht indessen zu seinem Nachteil aus.
Die genannte Einordnung des "Spätgeborenen" entspricht der ursprünglichen Einteilung der Vertriebenen durch das Bundesverwaltungsgericht (grundlegend - 1976 - BVerwGE 51, 298; ferner etwa Urteil v. 2. 12. 86 - 9 C 6.86 -, Buchholz 412.3, § 6 BVFG, Nr. 47; 1988: BVerwGE 79, 73 [BVerwG 23.02.1988 - 9 C 41/87]/78 in Abgrenzung zum "Frühgeborenen"; auch noch Beschl. v. 5. 2. 1990 - 9 B 283.89 -, Buchholz aaO, Nr. 63 - nur Leitsatz, vgl. ferner Beschl. v. 22. 8. 1991, 1 B 175.91). Erst später hat das Bundverwaltungsgericht schon denjenigen als "Spätgeborenen" bezeichnet, der nach Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden ist (Beschl. v. 12. 11. 91 - 9 B 109.91 -, DVBl. 1992, 295/6), - ohne daß ersichtlich wäre, weshalb die Rechtsprechung insoweit geändert worden ist (vgl. Beschl. v. 12. 11. 1991 wo dies sogar als "st. Rspr." bezeichnet wird, und zwar u. H. auf BVerwGE 51, 298). Bei dieser Situation ist es bis heute geblieben (s. z.B. BVerwG, Urt. v. 19. 4. 1994 - 9 C 20.93 -, DVBl. 1994, 935), so daß Aussiedler, die zwischen Beginn und Ende der allgemeinen Vertreibung, also während dieser, geboren sind, neuerdings den "Spätgeborenen" zuzuordnen ist. Zwar hat der Senat - entsprechend der ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - entschieden, daß derjenige, der nach Beginn, aber vor Abschluß der allgemeinen Vertreibung geboren worden ist, nicht "Spät-", sondern "Frühgeborener" ist (Urt. v. 19. 1. 1994, 13 L 942/93). Gegen dieses Urteil ist Revision eingelegt worden, die der Senat zugelassen hatte (BVerwG 9 C 47.94). Für das vorliegende Verfahren hält der Senat daran nicht fest, da die andersartige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inzwischen gefestigt erscheint. Indessen sei - auch im Hinblick auf ein etwaiges Revisionsverfahren - auf folgende Bedenken hingewiesen:
In der grundlegenden Entscheidung zur Problematik des sog. "Spätgeborenen" (Urt. v. 10. 11. 1976 - VIII 8 C 92.75 -, BVerwGE 51, 298 ff), das eine nach Ende der allgemeinen Vertreibung geborene Klägerin betraf, hat das Bundesverwaltungsgericht dargelegt, daß auch für Aussiedler im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG gelte, daß ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Sinne von § 6 BVFG kurz vor Beginn der allgemeinen Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen abgelegt sein müsse. Personen, die erst nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden seien, könnten diese Voraussetzungen naturgemäß nicht (selbst) erfüllen. Ebenso würden sie einer weiteren Voraussetzung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG nicht entsprechen, die darin bestehe, daß auch nach dieser Vorschrift Vertriebener nur sein könne, "wer auch Vertriebener nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG hätte sein können, weil beide Regelungen zueinander im Verhältnis von Sofortfolgen und Spätfolgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen stehen" (aaO S. 301). Indessen gehe es nicht an, den "Spätgeborenen" ohne jede Einschränkung die Vertriebeneneigenschaft abzusprechen, weil auch sie dem in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG unterstellten Vertreibungsdruck unterlägen. Deshalb sei die insoweit bestehende gesetzliche Lücke in der Weise zu schließen, daß diese Bestimmung auf die (erst) nach Abschluß der allgemeinen Vertreibung Geborenen analog anzuwenden sei. Sie beruhe nämlich "auf der Erkenntnis, daß nach Abschluß der allgemeinen gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen der gegen diese Bevölkerung gerichtete Druck nicht aufhörte", vielmehr fortgedauert habe (aaO S. 304). Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht das Fehlen eines eigenen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum wie bei einem nicht bekenntnisfähigen "Frühgeborenen" auch bei einem "Spätgeborenen" durch die entsprechende Bekenntnislage der Familie (vor Vertreibungsbeginn) ersetzt, wobei es beim "Spätgeborenen" (nach wie vor) zusätzlich auf einen "Bekenntniszusammenhang" abstellt, indem diesem über seine Eltern ein eigenes Bekenntnis zum deutschen Volkstum vermittelt worden sein muß.
Von den beiden oben genannten Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F., die nach dem genannten Urteil dem "Spätgeborenen" fehlen, erfüllt ein vor Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Geborener - ebenso wie ein bei Vertreibungsbeginn noch nicht bekenntnisfähiges Kind - die eine - Bekenntnis im Sinne des § 6 BVFG a.F. vor Beginn der allgemeinen Vertreibung - (naturgemäß) nicht; er erfüllt aber die andere Bedingung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F., daß er nämlich auch Vertriebener im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG a.F. (Wohnsitzverlust "infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht") hätte sein können. Da er während der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden ist, liegen in seiner Person somit insoweit die Voraussetzungen für eine unmittelbare (nicht analoge) Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG vor (vgl. auch BVerwG aaO S. 307, wo gerade dieser Personenkreis angesprochen wird, wenngleich unklar bleibt, wie er rechtlichen einzuordnen ist, weil das Bundesverwaltungsgericht den "Frühgeborenen" definiert als vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Geborenen, aaO S. 301).
Weiter hat das Bundesverwaltungsgericht in dem "Frühgeborenen"-Urteil vom 23. Februar 1988 (- 9 C 41.87 -, BVerwGE 79, 73 [BVerwG 23.02.1988 - 9 C 41/87]), das einen 1939 geborenen Kläger betraf, ausgeführt, daß ein nach § 1 Abs. 1 BVFG vertriebenes nicht bekenntnisfähiges Kind, das aufgrund der Familienprägung vor Vertreibungsbeginn deutscher Volkszugehöriger sei, diese Eigenschaft durch nachträgliche Umstände nicht mehr verliere. Das gelte auch für Aussiedler im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG. In beiden Fällen werde einem in der Familie lebenden Kind die in ihr zum maßgeblichen Zeitpunkt vorhandene volkstumsmäßige Bekenntnislage zugerechnet, was darin begründet sei, "daß das Kind mutmaßlich in das die Familie prägende Volkstum hineingewachsen wäre, wenn keine allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen stattgefunden hätten. Im Hinblick darauf ist es unerheblich, ob in der Zeit nach den allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen das Kind tatsächlich bis hin zu seiner Selbständigkeit durch das zu Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen in der Familie noch vorherrschende Volkstum geprägt worden ist." (aaO S. 77) Diese Grundsätze, die - mit den Worten des Bundesverwaltungsgerichts (aaO S. 76 und 77) - einen potentiellen "eigentlichen" Vertriebenen betreffen, der dann tatsächlich ("nur") "verspätetes" Opfer der Vertreibung geworden ist, dürften nicht nur für solche Aussiedler gelten, die bei Vertreibungsbeginn bereits geboren waren, sondern auch für solche, die während der allgemeinen Vertreibung, also nach ihrem Beginn, aber vor ihrem Ende, geboren worden sind; denn auch diese hätten vertrieben (im Sinne von § 1 Abs. 1 BFVG a.F.) werden können, und auch sie wären ohne die tatsächlich erfolgte allgemeine Vertreibung in die deutsche Bewußtseinslage ihrer Eltern hineingewachsen. Während der allgemeinen Vertreibung geborene Kinder wären, falls sie mit ihren Eltern vertrieben worden wären, fraglos Vertriebene von § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG a.F.. Bei späterem Verlassen der Heimat könnten sie damit ebenso, wie ihre Eltern es wären, nach Verlassen ihrer Heimat als Aussiedler im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F. (unmittelbar) angesehen werden. Eine nur analoge Anwendung dieser Bestimmung auf sie erscheint ebensowenig gerechtfertigt, wie dies bei einem Aussiedler der Fall ist, der vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden ist. Insoweit ist zweifelhaft, ob auch sie zu den "Spätgeborenen" gerechnet werden können, als welche das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 23. Februar 1988 auch (nur) denjenigen bezeichnet, der nach den allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geboren worden ist (aaO S. 78). Da es andere Kategorien als "Früh-" oder "Spätgeborene" - etwa "Zwischengeborene" - nicht gibt, müßte die Aussiedler-Eigenschaft des Klägers danach hier nach den Grundsätzen beurteilt werden, die für "Frühgeborene" gelten. Danach hätte der Kläger eine Prägung zum Deutschtum nicht nachzuweisen. Vielmehr wäre bei ihm allein maßgeblich, ob seine Eltern (bzw. der maßgebliche Elternteil) sich zu Beginn der Vertreibung zum Deutschtum bekannt haben (hat).
Auf dieser Grundlage wäre der Kläger als Vertriebener im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F. anzuerkennen. Denn seine (aus Südpolen stammende) Mutter ... war, wie sich aus ihrer Vertriebenenakte ergibt, fraglos deutsche Volkszugehörige. Sie wurde mit ihren Eltern von der EWZ erfaßt und war im Frühjahr 1941 in Süddeutschland (bei Lindau am Bodensee) als Landarbeiterin tätig. Daß dies nicht etwa zwangsweise der Fall war, ergibt sich aus den Angaben ihres Bruders ..., der sich seinerzeit ebenso wie sie betätigte, in seinem Vertriebenenverfahren. Am 19. Mai 1945, also nach Kriegsende, hat die Mutter des Klägers dann in Ravensburg/Württemberg dessen Vater geheiratet. Daß der Vater des Klägers polnischer Volkszugehöriger war, wäre unerheblich. Da seine Mutter bei Beginn der allgemeinen Vertreibung noch nicht verheiratet war, ist allein auf sie abzustellen.
Auch sonstige Gründe stünden dem Klagebegehren nicht entgegen. Das gilt zunächst für die Tatsache, daß die Eltern des Klägers nach ihrer Heirat in das Vertreibungsgebiet gegangen sind. Denn einmal kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Mutter des Klägers in Württemberg einen Wohnsitz gehabt hat. Dagegen spricht deutlich, daß sie ihre 1943 (unehelich) geborene Tochter Emilie in ihrer Heimat zur Welt gebracht und dann dort bei ihren Eltern zurückgelassen hatte. Daneben sollte auch die Rückkehr nach Polen nach der Heirat in Ravensburg nicht dazu dienen, dort auf Dauer zu bleiben. Vielmehr wollte die Mutter des Klägers, die erfahren hatte, daß ihre Eltern ermordet worden waren, lediglich ihre Tochter abholen, um sich dann in Deutschland niederzulassen. Wenn sie daran gehindert worden ist, so könnte das letztlich auch nicht als Wohnsitznahme im Vertreibungsgebiet im Sinne des Ausschlußtatbestandes des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F. angesehen werden, da dies nach Sinn und Zweck Freiwilligkeit voraussetzt. Dementsprechend hat die Beklagte der Mutter des Klägers zu Recht auch nicht den Vertriebenenausweis versagt. Darüber hinaus kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß im Falle des Klägers die gesetzliche Vermutung der Vertreibungsbedingtheit seiner Ausreise (BVerwGE 74, 336 [BVerwG 15.07.1986 - 9 C 9/86]; 78, 147 [BVerwG 20.10.1987 - 9 C 255/86]; 91, 140) [BVerwG 29.10.1992 - 7 C 34/91]widerlegt worden wäre. Denn dazu müßte positiv festgestellt (nachgewiesen) werden, daß für die Ausreise nicht ein Deutschtum und die damit verbundene Vereinsamung maßgeblich gewesen sind, sondern andere ("vertreibungsfremde") Gründe. Derartige Gründe hat das Verwaltungsgericht, das die entsprechende Vermutung als widerlegt angesehen hat, indessen nicht festgestellt. Die Tatsache, daß der Kläger langjährig Soldat gewesen ist, besagt als solche dazu nichts, zumal der Kläger hierzu dargelegt hat, daß es seine fliegerische Passion gewesen sei, die ihn zum Militärdienst veranlaßt habe. Weiter hat er angegeben, daß er, nachdem seine Mutter 1985 in das Bundesgebiet gekommen war, als Deutscher erkannt und schließlich (formlos) entlassen worden sei. Wenn er sich dann zu seiner verwitweten und herzkranken Mutter begeben hat, so könnte auch darin ein "vertreibungsfremder" Grund nicht gesehen werden.
Wenn damit die Berufung des Klägers dann erfolgreich sein müßte, würden auf ihn die Grundsätze angewendet, die für "Frühgeborene" gelten, so kann der Senat sich dazu dennoch nicht entschließen. Vielmehr geht er davon aus, daß - entsprechend der jetzigen Praxis des Bundesverwaltungsgerichts - der Kläger, da er, wenn auch vor Abschluß der allgemeinen Vertreibung, jedenfalls aber auch nach deren Beginn geboren worden ist, als "Spätgeborener" angesehen werden muß. Hiernach müßte er den Nachweis erbringen, daß er, insbesondere von seiner Mutter, derart geprägt worden ist, daß ihm das Bewußtsein vermittelt worden ist, (nur) dem deutschen Volkstum anzugehören. Das konnte der Senat indessen nicht feststellen, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen war. Insoweit stimmt der Senat mit dem angefochtenen Urteil überein. Das entsprechende (schriftliche) Vorbringen des Klägers läßt den erforderlichen Bekenntniszusammenhang jedenfalls nicht ausreichend deutlich erkennen.
Hiernach ist die Berufung zurückzuweisen. Gemäß § 154 Abs. 2 VwGO sind die Kosten des Verfahrens, hinsichtlich derer das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären ist (§ 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO), dem Kläger aufzuerlegen.
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil die Frage der Abgrenzung der "Früh-" von den "Spätgeborenen" nach wie vor grundsätzlicher Klärung bedarf (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Dr. Dembowski
Schwermer
Dr. Uffhausen