Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 07.07.1960, Az.: III A 39/60
Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung; Widerspruchsbescheid als alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 07.07.1960
- Aktenzeichen
- III A 39/60
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1960, 15457
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:1960:0707.III.A39.60.0A
Rechtsgrundlagen
- § 79 Abs. 2 VwGO
- § 9 Abs. 1 VwZustG
- § 11 VwZustG
Verfahrensgegenstand
Hausratentschädigung
In der Verwaltungsstreitsache
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - III. Kammer Braunschweig,
in der Sitzung vom 7. Juli 1960,
an der teilgenommen haben
1.Verwaltungsgerichtsdirektor Abendroth als Vorsitzender,
2.beauftr. Richter (Regierungsrat) Groschupf als weiterer Richter,
3.Landwirt ...
4.Tierarzt ...
5.Druckereibesitzer ... als ehrenamtliche Verwaltungsrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beschwerdebescheid vom 16. Dezember 1959 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Der am Februar geborene Kläger lebte bis zur Aussiedlung im Jahre 1959 in .... Er beantragte Hausratentschädigung nach dem Lastenausgleichsgesetz. Mit Bescheid vom 1959 lehnte das Ausgleichsamt der Stadt Salzgitter den Antrag ab, da der Kläger seine Möbel bei der Aussiedlung an seine in ... gebliebene Schwester verschenkt habe, soweit er sie nicht in des Bundesgebiet mitgebracht habe. In den Akten des Ausgleichsamts befindet sich ein mit ... unterschriebenes Empfangsbekenntnis über die Zustellung vom 9. Juli 1959. ... ist die Ehefrau des Klägers.
Mit Schreiben vom ... 1959, beim Beklagten am 1959 eingegangen, legte der Kläger gegen diesen Bescheid Beschwerde ein. Der Beklagte wies mit Beschluß vom ... 1959 die Beschwerde als unzulässig zurück, da der angefochtene Bescheid schon am ... 1959 zugestellt worden sei. Dieser Beschluß ist dem Kläger am ... 1960 zugestellt.
Mit der am 4. Februar 1960 bei Gericht eingegangenen Klage bittet der Kläger um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Seine Ehefrau habe ihm den Bescheid am Tage der Zustellung übergeben, als er von der Arbeit nach Hause gekommen sei.
Er habe sich nach seiner Übersiedlung aus dem polnisch besetzten Gebiet hier nur schwer zurechtfinden können. Deshalb hat er es übersehen, daß auf dem zugestellten Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung enthalten gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des Beklagten vom 16. Dezember 1959 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Meinung, daß der Bescheid des Ausgleichsamts dem Kläger ordnungsgemäß zugestellt ist und daß Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze und die Niederschrift vom 7. Juli 1960 Bezug genommen. Ferner wird auf die den streitigen Anspruch betreffenden Akten des Ausgleichsamts der Stadt Salzgitter sowie des Beklagten Bezug genommen. Diese Akten lagen dem Gericht zur Unterrichtung vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II.
Die Klage ist an sich zulässig, frist- und formgerecht eingereicht und auch sachlich begründet.
Zulässigerweise beschränkt der Kläger seinen Antrag auf Aufhebung des Beschwerdebeschlusses vom 16. Dezember 1959, denn er macht mit der Klage allein geltend, daß seine Beschwerde zu Unrecht als unzulässig abgewiesen sei. Nach § 79 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -kann ein Widerspruchsbescheid alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage sein, wenn er auf der Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift beruht. Diese Vorschrift ist für den Beschwerdebeschluß des § 337 LAG entsprechend anzuwenden.
Die Beschwerde des Klägers gegen den Bescheid des Ausgleichsamtes vom 7. Juli 1939 hätte nicht wegen Verspätung als unzulässig zurückgewiesen werden dürfen, da dieser Bescheid dem Kläger nicht wirksam zugestellt worden ist. Der Bescheid ist nicht dem Kläger selbst, sondern seiner Ehefrau übergeben worden.
Für das Zustellungsverfahren gilt das Verwaltungszustellungsgesetz des Bundes am 5. Juli 1952 (BGBl. I. S. 379) unmittelbar (§ 332 Abs. 2 LAG). Die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung sind in § 11 VwZustG geregelt. Danach kann das zuzustellende Schriftstück, wenn der Empfänger in seiner Wohnung nicht angetroffen wird, in der Wohnung auch an einen zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen übergeben werden. Nach § 11 Abs. 5 S. 2 VwZustG hat der zustellende Bedienstete den Grund der Ersatzzustellung in den Akten zu vermerken. Das ist hier nicht geschehen. Die ordnungsgemäße Beurkundung der Zustellung, wozu auch der Vermerk über den Grund der Ersatzzustellung gehört, ist aber Voraussetzung für die Wirksamkeit der Zustellung (BGH v. 13. Dezember 1955 - V BLw 39/55 - Lindenmaier-Möhring § 181 ZPO Nr. 1; Stein-Jonas-Schönke Anm. I und II Nr. 4 zu der entsprechenden Vorschrift des § 191 ZPO). Das ist kein überspannter Formalismus, sondern Voraussetzung dafür, daßüberhaupt nachgeprüft werden kann, an welche Person und unter welchen Umständen zugestellt wurde, wenn der richtige Empfänger nicht angetroffen wurde. Der mit der Zustellung betraute Bedienstete kann sich später erfahrungsgemäß in der Hegel nicht mehr erinnern, wem er ein Schriftstück übergeben hat. Die Behörden können die Einhaltung dieser Vorschrift dem zustellenden Bediensteten dadurch erleichtern, daß sie in die Formulare für Empfangsbekenntnisse einen entsprechenden Vordruck aufnehmen, was allerdings bei dem Formular für ein Empfangsbekenntnis (Anlage 3 zu den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum VerwZustG, GMBl. 1952 S. 277 = Nds. MBl. 1954 S. 162) nicht geschehen ist, vgl. aber Ziff 3 der Postzustellungsurkunde.
Die Zustellung war also unwirksam. Dieser Mangel wird nicht dadurch geheilt, daß der Kläger den zugestellten Bescheid noch am gleichen Tage von seiner Ehefrau erhalten hat. Zwar bestimmt § 9 Abs. 1 VwZustG, daß Zustellungsmängel geheilt werden, wenn das Schriftstück dem Empfänger nachweislich zugegangen ist. Das gilt aber nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 VwZustG nicht, wenn mit der Zustellung "eine Frist für die Erhebung der Klage, eine Berufungs, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt". Diese Vorschrift muß für Zustellungen, die eine Beschwerde- oder Widerspruchsfrist als Voraussetzung für eine verwaltungsgerichtliche Klage in Gang setzen sollen, entsprechend angewendet werden. Denn die Gesichtspunkte, die den Gesetzgeber veranlasst haben, Klagefristen von der Heilung eines Zustellungsmangels auszunehmen, treffen auch für die Fristen des Vorverfahrens zu. Auch hier muß eindeutig feststehen, ob eine Zustellung eine Frist in Lauf gesetzt hat. Wenn sich das aus den Akten nicht ergibt, kann die Behörde nicht erkennen, ob ihr Verwaltungsakt rechtskräftig geworden ist. Es kann auch der Empfänger oder sein Anwalt, der in die Verwaltungsakten Einsicht nimmt, nicht feststellen, ob und von welchem Zeitpunkt an die Beschwerde- oder Widerspruchsfrist läuft. Diese Erwägung wird durch einen Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verstärkt: Wenn die Anrufung eines Gerichte dann abhängig gemacht wird, daß vorher ein erfolgloses Vorverfahren stattgefunden hat, darf die Rechtsstellung des Bürgers im Vorverfahren nicht schwächer sein als im gerichtlichen Verfahren.
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 28. August 1958 - III C 158/57 - (DVBl. 1959 S. 32) die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 1 VwZustG auf Beschwerdefristen ohne Auseinandersetzung mit § 9 Abs. 2 VwZustG bejaht. Deshalb ist die Revision zugelassen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -.
III.
Die Berufung gegen dieses Urteil ist ausgeschlossen.
Die Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils beim Verwaltungsgericht in Braunschweig durch einen Rechtsanwalt, einen Verwaltungsrechtsrat oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule eingelegt werden und ist spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen.