Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.05.2021, Az.: 1 Ws 121/21
Notwendige Verteidigung bei stotterndem Angeklagten; Erforderlicher Grad der Beeinträchtigung sprachbehinderter Angeklagter wegen § 140 StPO; Stottern alleine kein Grund für Verteidigerbestellung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 25.05.2021
- Aktenzeichen
- 1 Ws 121/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 54647
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2021:0525.1WS121.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 19.05.2021 - AZ: 7 Ns 908 Js 36688/20 (109/21
Rechtsgrundlagen
- § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO
- a.F. § 140 Abs. 2 S. 2 StPO
- § 142 Abs. 7 StPO
- § 473 Abs. 1 StPO
Amtlicher Leitsatz
- 1.
§ 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ist im Hinblick auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte wie § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. auszulegen.
- 2.
Das Stottern eines Beschuldigten begründet den Fall einer notwenigen Verteidigung lediglich dann, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Entscheidung der Vorsitzenden der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Braunschweig vom 19. Mai 2021 wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: der Angeklagte) wurde durch Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 16. März 2021, gegen das er form- und fristgerecht Berufung einlegte, wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Im Berufungsverfahren meldete sich Rechtsanwalt T für den Angeklagten und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, weil der Angeklagte unter einer erheblichen Sprachbehinderung (Stottern) leide. Mit der angefochtenen (...) Entscheidung lehnte die Vorsitzende der 7. kleinen Strafkammer, bei der das Berufungsverfahren anhängig ist, die Beiordnung ab, da der Beiordnungsantrag im Namen des Verteidigers gestellt sei und ferner auch die Voraussetzungen für eine Beiordnung nicht vorlägen.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Angeklagte mit der mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. Mai 2021 eingelegten sofortigen Beschwerde. Er führt aus, dass er - der Angeklagte - für sich selbst einen Pflichtverteidiger beanspruche und der Antrag nicht von seinem Verteidiger in dessen Namen gestellt werde. Eine Beiordnung sei bereits nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten.
Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt mit Zuschrift vom 21. Mai 2021 wie erkannt. Der Angeklagte hat Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme gehabt.
II.
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 20. Mai 2021 ist statthaft (§ 142 Abs. 7 StPO), frist- (§ 311 Abs. 2 StPO) und formgerecht angebracht (§ 306 Abs. 1 StPO) sowie auch ansonsten zulässig.
Das Rechtsmittel hat in der Sache indes keinen Erfolg, weil kein Fall einer notwendigen Verteidigung vorliegt.
1.
Eine Beiordnung ist zunächst nicht nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten. Bei dem Angeklagten handelt es sich nicht um einen sprachbehinderten Beschuldigten im Sinne der Vorschrift.
a)
Nach im Ergebnis einhelliger, hinsichtlich des genauen Maßstabs aber differenzierender Auffassung begründet nicht jeder von der Norm abweichende körperliche Zustand eines Beschuldigten eine Seh-, Hör- beziehungsweise Sprachbehinderung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO. Anderenfalls würde auch ein leicht fehlsichtiger Beschuldigter, der auf eine Brille angewiesen ist, unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen, was ersichtlich weder vom Gesetzgeber gewollt noch vom Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung ausgehend geboten ist.
Geringfügige Sprechbehinderungen fallen damit nicht in den Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht stellt auch ein Stottern eine derart leichte Sprechbehinderung dar (Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 64. Aufl. 2021, § 140 StPO Rn. 20e).
Der Regelung der Beiordnungsvoraussetzungen in § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ging - in Bezug auf hör- und sprechbehinderte Beschuldigte - eine entsprechende Regelung in § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. voraus. Mit der Änderung, durch die Art. 9 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls umgesetzt wurde, war lediglich in Bezug auf sehbehinderte Beschuldigte eine inhaltliche Ausweitung der Beiordnungsvoraussetzungen beabsichtigt; in Bezug auf hör- und sprechbehinderte Beschuldigte wurde hingegen das vorherige Recht als ausreichend angesehen (BT-Drs. 19/13829, S. 27). Bei der Auslegung der Vorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO wurde ein Stottern lediglich dann als ausreichend für das Vorliegen eines Bestellungsgrundes angenommen, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen (Lüderssen, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 26. Aufl. 2007, § 140 StPO Rn. 96). Für eine solche Auslegung sprach auch die systematische Stellung des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO in § 140 Abs. 2 StPO, der in seinem Satz 1 unter anderem den Fall der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung beinhaltete. Die gesonderte Regelung hatte seine Ursache lediglich darin, dass in Ansehung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen in diesen Fällen nicht von deren genereller Verteidigungsunfähigkeit ausgegangen werden, sondern zudem grundsätzlich - vorbehaltlich einer Prüfung von Amts wegen, die aber die gesetzgeberische Wertung des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO zu berücksichtigen hatte - einen Antrag des Betroffenen erfordern sollte (Thomas/Kämpfer, in: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, 1. Aufl. 2014, § 140 StPO Rn. 53). Dafür, dass an dieser Systematik durch die Gesetzesänderung nicht mehr festzuhalten sein soll, spricht nach dem oben Ausgeführten nichts.
b)
Auch unter Zugrundelegung der soeben dargestellten und überzeugenden Auffassung ist eine Beiordnung im vorliegenden Fall nicht geboten. Es besteht hier nicht die Befürchtung, dass der Angeklagte wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen könne oder aufgrund der mit seiner Behinderung verbundenen psychischen Drucksituation sagen wolle (zu diesem Maßstab: Jahn, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 27. Aufl. 2021, § 140 StPO Rn. 63).
So hat der Angeklagte zunächst bereits nach dem Eintreffen der Polizeibeamten am Ort des Geschehens diesen gegenüber Angaben gemacht und konnte sich dabei verständlich machen. Nach Erhebung der Anklage hat er gegenüber einem Mitarbeiter des Amtsgerichts Wolfsburg telefonisch zum Sachverhalt Stellung genommen. Dabei war sein Stottern geringer, als er sich nicht auf Deutsch, sondern - für ihn vertrauter - auf Englisch äußerte. Im Hauptverhandlungstermin vor dem Amtsgericht Wolfsburg, bei dem der Angeklagte nicht durch einen Rechtsanwalt verteidigt war, hingegen ein Dolmetscher für ihn anwesend war, äußerte sich der Angeklagte ausführlich. Dafür, dass - wie der Angeklagte in seiner Beschwerde in Bezug auf die bevorstehende Berufungshauptverhandlung vorbringt - ihm in der entsprechenden Konstellation die Möglichkeit genommen worden ist, seine Sicht der Dinge zu dem Geschehensablauf am 24. Dezember 2019 eingehend darzulegen, spricht danach nichts. Auch im Termin zur Berufungshauptverhandlung wird ein Dolmetscher anwesend sein und der Angeklagte sich in seiner Muttersprache äußern können. Die Kammer wird sich zudem bewusst sein, dass aufgrund des Stotterns des Angeklagten gegebenenfalls vermehrt Rückfragen an diesen zu stellen sein werden und ihm, falls er - wie anlässlich der (beabsichtigten) polizeilichen Beschuldigtenvernehmung am 20. Januar 2020 - im Rahmen seines Stotterns in Aufregung gerät, auch - etwa durch eine kurze Unterbrechung der Verhandlung - die Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu beruhigen und in seiner Schilderung der Geschehnisse oder bei sonstigen Ausführungen erneut anzusetzen.
2.
Auch ein sonstiger Grund für eine Beiordnung liegt nicht vor. Insbesondere bestehen nach dem unter II. 1. b) Ausgeführten keine Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte sich nicht im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO selbst verteidigen kann.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.