Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 09.12.1987, Az.: 3 VG A 200/86

Wirksamkeit der Aufhebung einer Straßenausbaubeitragssatzung ; Rechtssetzungsermessen der Kommunen; Anforderungen an das Maß der Kostendeckung und Aufwanddeckung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
09.12.1987
Aktenzeichen
3 VG A 200/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1987, 20153
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1987:1209.3VG.A200.86.0A

Verfahrensgegenstand

kommunales Abgabenrecht

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 9. Dezember 1987
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Hirschmann,
die Richter am Verwaltungsgericht Franzkowiak und Stubben sowie
die ehrenamtlichen Richter Schulte-Eickhoff und Schöngen
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gegen dieses Urteil ist die Berufung an das

Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein 2120 Lüneburg, Uelzener Straße 40, Postfach 2371, statthaft.

...

Gründe

1

I.

Die Klägerin, eine kreisangehörige Gemeinde des beklagten Landkreises, wendet sich gegen eine kommunalrechtliche Beanstandungsverfügung.

2

Am 25.6.1985 faßte der Rat der Klägerin den Beschluß, "die Satzung der Gemeinde Gleichen vom 14.11.1984 über die Erhebung von Beiträgen nach §6 des NKAG ersatzlos aufzuheben." Die Aufhebungssatzung soll am Tag nach ihrer Bekanntmachung in Kraft treten. Dem Beschluß lag der Verwaltungsvordruck 930/3 zugrunde. Darin wird die Aufhebung wie folgt begründet:

"Die Festlegung der Merkmale, die eine Beitrags- erhebung ermöglichen, ist dabei äußerst problematisch. Sollten in der modifizierten Satzung beispielsweise bestimmte Mindestkriterien des Ausbaustandards (Hochbordanlage, Wasserführung durch Gossen etc.) als unbedingte Voraussetzung für die Beitragserhebung festgelegt werden, könnte durch Beschlüsse zur Ausführung der Vorhaben im Einzelfall willkürlich die Geltendmachung von Beiträgen ausgeschlossen werden. Es besteht die Gefahr, daß gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen wird."

3

Der Beklagte beanstandete den Beschluß mit Verfügung vom 4.8.1986 im wesentlichen mit der Begründung, §6 Abs. 1 NKAG räume den Gemeinden zwar das Recht ein, von der Beitragserhebung Gebrauch zu machen oder nicht, §83 Abs. 2 NGO gebiete aber, Steuern zur Finanzierung von Maßnahmen nur heranzuziehen, wenn Einnahmen aus speziellen Entgelten, soweit vertretbar und geboten, nicht ausreichten. Gegen die Beanstandungsverfügung legte die Klägerin mit Schreiben vom 12.9.1986 Widerspruch ein. Sie begründete den Widerspruch damit, daß die vom Innenminister vorgelegte Mustersatzung sowie die vom OVG Lüneburg für rechtmäßig erachteten Straßenausbaubeitragssatzungen die Vorteile der im weiteren Verlauf der Straße liegenden Grundstücke nicht hinreichend berücksichtigten. Diese Grundstückseigentümer blieben beitragsfrei, obwohl Maßnahmen häufig lediglich wegen der angrenzenden Abschnitte der Straßen erforderlich wären. Die Bezirksregierung Braunschweig wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.1986 als unbegründet zurück. Dagegen hat die Klägerin am 17.12.1986 Klage erhoben.

4

Zur Begründung ihrer Klage tragt sie vor: Durch die Verwendung des Begriffs "Können" in §6 Abs. 1 NKAG habe der Gesetzgeber die Beitragserhebungsfreiheit normiert. Dies bestätige auch die amtliche Begründung zum Entwurf des NKAG. Im übrigen sei die aufgehobene Satzung aus Rechtsgründen unwirksam, schon aus diesem Grunde sei sie berechtigt, die Satzung aufzuheben.

5

Sie beantragt,

die Beanstandungsentscheidung des Beklagten vom 4.8.1986 sowie den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 13.11.1986 aufzuheben.

6

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Er erwidert ergänzend: Die Klägerin habe im Jahre 1986 eine Bedarfszuwendung in Höhe von 629.778,- DM erhalten. Der Nachtragshaushalt sähe eine Erhöhung der Kreditmarktschulden auf nunmehr 1,4 Mio. DM vor. Auch unter Würdigung dieser Umstände sei die Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung aus finanzieller Sicht unvertretbar.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Sie waren mit ihrem wesentlichen Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

9

II.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

10

Nach §30 NGO kann die Kommunalaufsichtsbehörde rechtswidrige Beschlüsse des Rates einer Gemeinde beanstanden. Der beanstandete Beschluß der Klägerin vom 25.6.1985 ist rechtswidrig. Die ersatzlose Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung verstößt gegen geltendes Recht.

11

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Auffassung der Klägerin, ihre Satzung sei aus Rechtsgründen unwirksam, richtig ist oder nicht. Denn es trifft zwar generell zu, daß eine Gemeinde eine unwirksame Satzung jederzeit aufheben kann, um sie durch eine wirksame Satzung zu ersetzen. Ein solcher Sachverhalt liegt dem beanstandeten Beschluß aber gerade nicht zugrunde. Denn die Klägerin hat unmißverständlich beschlossen, ihre Satzung ersatzlos aufzuheben, mithin einen satzungslosen Zustand zu schaffen und auf eine Beitragserhebung für Straßenausbaumaßnahmen generell zu verzichten. Dies ergeben eindeutig der Wortlaut und die Begründung des Beschlusses. Der von der Klägerin gewollte satzungslose Zustand ist Gegenstand der angefochtenen Beanstandung, nicht die Frage, ob sie eine möglicherweise unwirksame Satzung aufheben durfte.

12

Die von der Klägerin aus §6 Abs. 1 NKAG hergeleitete Straßenausbaubeitragserhebungsfreiheit besteht nicht. Zwar hat der 9. Senat des OVG Lüneburg in seinem Beschluß vom 31.10.1979 (OVG A 185/77, KStZ 1980, S. 150) entschieden, "aus dem Wortlaut des §6 Abs. 1 NKAG (die Gemeinden usw. können Beiträge erheben) ergebe sich, daß es der Gemeinde obliege, zu entscheiden, ob sie Beiträge nach der genannten Vorschrift erheben wolle oder nicht, es bestehe somit grundsätzlich eine Beitragserhebungsfreiheit." Dieser Auffassung vermag sich die erkennende Kammer so uneingeschränkt jedoch nicht anzuschließen.

13

§6 Abs. 1 NKAG räumt den Kommunen nur ein eingeschränktes Rechtssetzungsermessen ein. Es bleibt den Gemeinden und Landkreisen lediglich freigestellt, ob sie einen entstandenen Investitionsaufwand sofort durch Beiträge oder später über kostendeckende Benutzungsgebühren erwirtschaften wollen (so auch Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 2. Aufl., Rdnr. 803, allgemein zum Straßenausbaubeitragsrecht). Dieses Ergebnis ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift, jedoch aus der zur Interpretation der Normen heranzuziehenden Entstehungsgeschichte des NKAG. In der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Niedersächsischen Kommunalabgabengesetz es heißt es unter Ziffer 1 zu §6 u.a. zwar: "Eine Pflicht zur Beitragserhebung besteht nach dem Entwurf nicht mehr." Es ist aber der - entscheidende, einschränkende - Satz angefügt: "Es bleibt den Gemeinden und Landkreisen überlassen, ob sie die Investitionsausgaben für öffentliche Einrichtungen unmittelbar durch Beiträge oder erst nachträglich über die Kosten (Abschreibung) durch Benutzungsgebühren finanzieren wollen." Dieser Begründung des Gesetzesentwurfes hat sich der Ausschuß für innere Verwaltung angeschlossen, wie der Drucksache 7/1636 und dem Bericht des Berichterstatters in dieser Sache im Niedersächsischen Landtag (Stenographischer Bericht 7. Wahlperiode 5980 ff.) zu entnehmen ist. Lediglich mit redaktionellen Änderungen ist §6 NKAG dann in seinem späteren Wortlaut verabschiedet worden. Gerade aber im Hinblick auf die Alternative "Finanzierung durch Beiträge oder Gebühren" hat jedoch §5 (Benutzungsgebühren) des Regierungsentwurfes eines Kommunalabgabengesetzes eine wesentliche Änderung erfahren (wie im übrigen auch §4): Nach dem Entwurf hatte §5 Abs. 1 Satz 1 noch den folgenden Wortlaut: "Die Gemeinden und Landkreise können... Benutzungsgebühren erheben." Das Wort "können" ist später dann auf Vorschlag des Ausschusses gestrichen worden. Zur Begründung ist vom Berichterstatter in dieser Sache vor dem Niedersächsischen Landtag (a.a.O.) dazu ausgeführt worden: "In Übereinstimmung mit der in §4 Abs. 1 für die Verwaltungsgebühren getroffenen Regelung wird in §5 Abs. 1 eine grundsätzliche Verpflichtung zur Erhebung von Benutzungsgebühren festgelegt." Zu §4 Abs. 1 heißt es u.a. wörtlich:

"Durch die Streichung des Wortes "können" wird in §4 Abs. 1 zum Ausdruck gebracht, daß die Gemeinden und Landkreise nicht nur berechtigt sind für Amtshandlungen ... Gebühren zu erheben, sondern daß insoweit eine grundsätzliche Verpflichtung besteht, die lediglich durch Abs. 2 ... eingeschränkt wird."

14

Während folglich der Gesetzgeber eine grundsätzliche Gebührenerhebungspflicht statuieren wollte, mußte er hinsichtlich der Beitragserhebung (siehe auch: §9 - Fremdenverkehrsbeiträge, §10 - Kurbeiträge) diese ins Ermessen der Kommunen stellen, weil ihnen für die Refinanzierung des Investitionsaufwandes die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, diese durch langfristige Gebührenerhebungen vorzunehmen. Nach der Entstehungsgeschichte zum Gesetz steht es Gemeinden und Landkreisen folglich grundsätzlich lediglich frei, entweder Gebühren oder Beiträge für die Einrichtung, Erneuerung, Erweiterung oder Verbesserung von öffentlichen Anlagen zur Deckung des Aufwandes von den Bevorteilten zu erheben. Nicht ist mit dem Gesetz den Kommunen vom Grundsatz her freigestellt, weder die eine noch die andere Abgabe geltend zu machen.

15

Für das Straßenausbaubeitragsrecht bedeutet dies freilich, daß die Gemeinden und Landkreise grundsätzlich zur Beitragserhebung verpflichtet sind. Denn Benutzungsgebühren werden für die Inanspruchnahme nicht erhoben (und werden auch schwerlich erhoben werden können). Mithin hat eine Gemeinde wie die Klägerin nicht das Recht, überhaupt keine Straßenausbaubeiträge zu erheben und eine bestehende Straßenausbaubeitragssatzung, die sie zu der Erhebung verpflichtet, ersatzlos aufzuheben. Inwieweit eine Gemeinde im Einzelfall oder im Grundsatz hiervon abweichen kann, wird im weiteren dargelegt werden.

16

Darüber hinaus scheitert aber auch die Auslegung des Begriffes "können" in dem von der Klägerin verstandenen Sinne an der einschlägigen Vorschrift zum Gemeindewirtschaftsrecht - §83 Abs. 2 NGO. Durch sie wird zugleich der den Kommunen durch das Recht eingeräumte Entscheidungsfreiraum für eine Erhebungsfreiheit deutlich.

17

Nach §3 Abs. 3 NKAG sollen die Gemeinden und Landkreise zwar Steuern nur erheben, soweit ihre sonstigen Einnahmen zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen (sog. Prinzip der speziellen Entgeltlichkeit).

18

Hiergegen dürfte der Beschluß der Klägerin auch offensichtlich verstoßen. Denn wie anders als über ihre Steuereinnahmen ist sie in der Lage und beabsichtigt sie Straßenausbaumaßnahmen, die eine Pflichtaufgabe der Klägerin sind, bei ihrer prekären Finanzlage letztlich zu finanzieren. Wie die Klägerin zutreffend erkannt hat, vermag diese Vorschrift jedoch die von der Klägerin in Anspruch genommene generelle Beitragserhebungsfreiheit nur unwesentlich zu beschränken. Nach §3 Abs. 3 NKAG sollen durch Steuereinnahmen, also durch allgemeine Deckungsmittel, nur diejenigen öffentlichen Leistungen finanziert werden, die einem speziellen Nutznießerkreis nicht sinnvoll zugeordnet und daher durch Gebühren und Beiträge nicht gedeckt werden können oder sollen. Das bedeutet für Straßenausbaubeitragsmaßnahmen, daß sie in erster Linie über spezielle Entgelte - also über Beiträge - zu finanzieren sind. Der Gesetzgeber hatte aber bei Erlaß des Gesetzes außerdem die Absicht verfolgt, mit §3 Abs. 3 NKAG lediglich eine finanzwirtschaftliche Richtlinie für die Gemeinden und Landkreise aufzustellen.

19

Die Erhebung von Gebühren und Beiträgen sowie das Maß der Kosten- bzw. Aufwanddeckung sollte trotz ihres prinzipiellen Vorrangs vor der Finanzierung über Steuereinnahmen weitgehend einem gerichtlich - und damit auch aufsichtsrechtlichem - nicht nachprüfbaren weiten Ermessen überlassen bleiben, das auch kommunalpolitische Erwägungen berücksichtigen kann (vgl. amtliche Begründung zu §3 Ziff. 4 S. 19 a.a.O.).

20

Die Annahme einer umfassenden Beitragserhebungsfreiheit scheitert aber letztlich zwingend an §83 Abs. 2 NGO, wonach die Gemeinden die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Einnahmen, soweit vertretbar und geboten, aus speziellen Entgelten für die von ihnen erbrachten Leistungen, im übrigen aus Steuern zu beschaffen haben, soweit die sonstigen Ausnahmen nicht ausreichen. Anders als §3 Abs. 3 NKAG enthält der nach einhelliger Auffassung in allen Flächenländern gleichlautende §83 Abs. 2 NGO eine zwingende haushaltsrechtliche Regel für die Einnahmebeschaffung. Deckungsmittel sind in der in dieser Norm festgelegten Reihenfolge in Anspruch zu nehmen. Auf eine nachrangige Einnahmequelle darf erst zurückgegriffen werden, wenn die vorrangige voll ausgeschöpft ist. Steuern dürfen daher nur erhoben werden, wenn die sonstigen Einnahmen aus speziellen Entgelten ausgeschöpft sind. Diesem Vorrang der speziellen Entgelte liegt der Gedanke zugrunde, daß derjenige, der eine kommunale Leistung in Anspruch nimmt, eine gemeindliche Einrichtung benutzt oder einen sonstigen besonderen Vorteil erlangt, auch die dadurch entstehenden Kosten im Sinne eines speziellen wirtschaftlichen Vorteilsausgleichs im vertretbaren Umfang tragen soll (Kunze/Bronner/Katz, GO B-W §78 Anm. II Nr. 5 a). Dies ergibt sich aus der amtlichen Begründung zu §83, wonach es Ziel der Norm ist, zu vermeiden, daß die dem einzelnen besonders zugute kommenden Leistungen aus allgemeinen Deckungsmitteln bestritten werden (Nds. LT 7. Wahlperiode, DS 7/1739, S. 27). Dies bedeutet für die Finanzierung von Straßenausbaubeitragsmaßnahmen, daß zur Deckung der Kosten allgemeine Steuermittel grundsätzlich erst dann eingesetzt werden dürfen, wenn mögliche Einnahmen aus speziellen Entgelten voll ausgeschöpft sind. Daߧ83 Abs. 2 NGO auch für Straßenausbaumaßnahmen Geltung haben soll, ergibt sich wiederum aus Nr. 14 zu §83 der amtlichen Begründung zum Entwurf des 5. Gesetzes zur Änderung der niedersächsischen GO (DS 7/1739 a.a.O., S. 27). Danach gilt der Grundsatz der Vorrangigkeit der speziellen Abdeckung der Kosten für alle Tätigkeitsbereiche der Gemeinden. §83 Abs. 2 NGO kann auch bei der Auslegung des §6 Abs. 1 NKAG nicht außer acht gelassen werden. Da diese Vorschrift nach dem NKAG in Kraft getreten ist, sind Argumente, die aus der Entstehungsgeschichte des NKAG abgeleitet werden, nur mit Vorbehalten zu werten. Das jüngere Gesetz - der §83 Abs. 2 NGO, der keine vergleichbare Vorläuferregelung in der NGO kannte, - bezieht sich insgesamt auf spezielle Entgelte. Wenn der Gesetzgeber eine Beitragserhebungsfreiheit - sofern sie vor Schaffung des §33 Abs. 2 NGO bestanden haben sollte - beibehalten wollte, hätte er dies in §83 NGO, zumindest aber in der Begründung hierzu zum Ausdruck bringen müssen (so auch Reffken, Die Gemeindekasse 1986, S. 196).

21

Besteht folglich eine allumfassende Beitragserhebungsfreiheit für Straßenausbaumaßnahmen nicht, so ergibt sich aus §83 Abs. 2 NGO aber auch, daß eine Ausschöpfung der speziellen Entgelte nicht ausschließlich gilt, sondern nur in dem Maße gefordert werden kann, soweit es vertretbar und geboten ist. Nach Auffassung der Kammer bedeutet diese Entschränkung in §83 Abs. 2 NGO bezogen auf §6 Abs. 1 MAG, daß spezielle Entgelte (Beiträge oder Gebühren) immer zu erheben sind, wenn ihre Erhebung vertretbar und geboten ist, im Umkehrschluß, daß auf die Erhebung spezieller Entgelte verzichtet werden kann, wenn ihre Erhebung weder vertretbar noch geboten ist. Wann diese Einschränkung des §83 Abs. 2 NGO eingreift, ist wiederum im Wege der Auslegung zu ermitteln:

22

Zunächst bedeutet nach Auffassung der Kammer §83 Abs. 2 NGO nicht, daß die Gemeinden Steuern überhaupt nur abschöpfen dürfen, wenn die speziellen Entgelte für die von der Gemeinde erbrachten Leistungen vollständig kostendeckend und in allen Bereichen abgeschöpft worden sind. Denn ebenso wie bei der Finanzgestaltung handelt es sich bei der Einrichtung und dein Unterhalt von öffentlichen Errichtungen um den Kernbereich der institutionellen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Art. 28 Abs. 2 GG und den §§8 und 6 NGO. Legt man §83 Abs. 2 NGO in einem derartigen Sinne einschränkend aus, würde der Kernbereich von Art. 28 Abs. 2 GG insoweit ausgehöhlt. Eine verfassungskonforme Auslegung von §83 Abs. 2 NGO gebietet es daher, den Gemeinden gewisse Gastaltungsspielräume zu öffnen. Da §83 Abs. 2 andererseits aber (" ... hat zu beschaffen") zwingend die Rechtsfolge bestimmt, ist für ein Entschließungs- oder Auswahlermessen kein Raum. Vielmehr bezieht sich das Begriffspaar "geboten und vertretbar" auf die Tatbestandsseite der Norm, es handelt sich daher bei dem Begriffspaar um unbestimmte Rechtsbegriffe. Die Frage, wann die Beitrags- oder Gebührenerhebung noch vertretbar und geboten ist und wann nicht, hat in erster Linie die Gemeinde als Adressatin der Gemeindeordnung - ihre Erkenntnisquellen ausschöpfend - zu beantworten und bei ihren finanzpolitischen Entscheidungen zu berücksichtigen. Dies hat der Gesetzgeber in der zitierten Begründung zu §83 mit der Formulierung "Raum für eigenverantwortliche politische Entscheidung" umschrieben (DS 7/1739 a.a.O., S. 27). Dementsprechend steht den Gemeinden hinsichtlich der Ausfüllung des Begriffspaars "vertretbar und geboten" ein Beurteilungsspielraum zu. Somit ist das Vorliegen dieser unbestimmten Rechtsbegriffe von der Kammer nicht voll überprüfbar, die Nachprüfung beschränkt sich lediglich darauf, ob die Entscheidung das objektiv sachlich Vertretbare verläßt und damit ins Willkürliche abgleitet. Um festzustellen, ob die hier umstrittene Entscheidung der Klägerin unter Anlegung des skizzierten Maßstabes einer Überprüfung standhält, bedarf es einer Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe "geboten und vertretbar". In der Begründung zu §83 Abs. 2 NGO hat der Gesetzgeber dazu formuliert: "Ausmaß und Höhe der speziellen Entgelte müssen sich im Rahmen des wirtschaftlich und sozial Vertretbaren und Gebotenen halten" (DS 7/1739 a.a.O., S. 27). Die Begriffe "wirtschaftlich" und "sozial" weisen somit in die Richtung, in die die Merkmale auszulegen sind. Nach Auffassung der Kammer ist daraus zu folgern, daß es für die Frage, wann eine Beitragserhebung geboten und vertretbar ist, entscheidend auf den Aspekt der wirtschaftlichen Tragbarkeit des speziellen Entgeltes, d.h. auf die Belastung des Zahlungspflichten ankommt. Nicht vertretbar erscheint ein spezielles Entgelt, das den Adressaten finanziell unzumutbar belastet (so auch OVG Münster, Urteil vom 6.7.1979, Der Städtetag 1979, 767; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1.8.1984, DÖV 1985, 36; Kottenberg/Rehn, Kommentar zur nordrheinwestfälischen GO, §63, Anm. 3, 2). Die Fragen, wann eine solche unzumutbare Belastung vorliegt und ob weitere Gründe eine Beitragserhebung unvertretbar und damit nicht geboten erscheinen lassen, bedürfen hier allerdings keiner abschließenden Entscheidung. Denn die Klägerin hat keinerlei tatsächliche Gründe dieser Art für den von ihr beschlossenen Beitragsverzicht anzuführen vermocht. Sie hat den beanstandeten Beschluß vielmehr gefaßt, weil sie rechtsirrig von einer unbeschränkten Beitragserhebungsfreiheit ausgegangen ist und weiter der Auffassung war, die Straßenausbaubeitragssatzung ohne Angabe von Gründen aus Opportunitätserwägungen aufheben zu können. Soziale und wirtschaftliche Faktoren oder Erwägungen, die eine Beitragserhebung i.S.v. §83 Abs. 2 NGO unvertretbar oder nicht geboten erscheinen lassen könnten, sind für die Kammer nicht ersichtlich.

23

Nicht gehört werden kann die Klägerin mit ihrem in der mündlichen Verhandlung gegebenen Hinweis, im Gemeindegebiet würde Straßenausbau nicht (mehr) betrieben. Abgesehen davon, daß sie dann auch keinen Anlaß hatte, mit der gegebenen Begründung die Satzung ersatzlos aufzuheben, ist der Straßenausbau eine Pflichtaufgabe der Gemeinde, der sie sich - wenn auch zeitweilig - aber nicht auf Dauer entziehen kann.

24

Die Klägerin erhält Bedarfszuweisungen. Ihre haushaltswirtschaftliche Lage ist damit außerordentlich schlecht. Es liegt damit auf der Hand, daß sie ohne Beitragserhebung Investitionen für Straßenausbaumaßnahmen (zumindest auch) in erheblichem Umfang durch Steuereinnahmen wird finanzieren müssen.

25

Da der Beschluß der Klägerin vom 25.6.1985 nach alledem rechtswidrig ist und somit die angefochtene Beanstandung zu Recht erfolgte, war die Klage mit der Kostenfolge aus §154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.

26

Die weitere Nebenentscheidung folgt aus §167 VwGO i.V.m. den §§708 Nr. 11, 711 ZPO.

Hirschmann
Stubben
Franzkowiak