Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 26.02.2004, Az.: 8 U 229/03
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 26.02.2004
- Aktenzeichen
- 8 U 229/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 42343
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2004:0226.8U229.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Osnabrück - AZ: 5 O 1168/03
Fundstellen
- DAR 2004, 706-707 (Volltext mit red. LS)
- JWO-VerkehrsR 2004, 163
In dem Rechtsstreit
Klägerin und Berufungsklägerin,
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2004 durch ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 6. Oktober 2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittel teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:
- 1.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin über die bereits gezahlten 3.000,00 € hinaus weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 13.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2003 zu zahlen.
- 2.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin materiellen Schadensersatz in Höhe von 835,80 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2003 zu zahlen.
- 3.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 7. November 2002 in Borger, Waldstrasse, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
- 4.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen
Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Wert der Beschwer übersteigt für beide Parteien nicht 20.000,00 €.
Gründe
I.
Die Klägerin verlangt Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls von dem Beklagten zu 1) als Fahrer und Halter und der Beklagten zu 2) als Haftpflichtversicherer des unfallbeteiligten Fahrzeugs.
Die zum Unfallzeitpunkt 10 1/2 Jahre alte Klägerin wurde als Radfahrerin beim Überqueren der Fahrbahn der Waldstraße in Surwold vom Fahrzeug des Beklagten zu 1) erfasst und erheblich verletzt. Wegen des Sachverhalts im übrigen wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme zum Teil stattgegeben und dabei eine Haftungsverteilung von 70 zu 30 zugunsten der Klägerin zugrundegelegt.
Mit der Berufung macht die Klägerin geltend, dass die Beklagten die volle Haftung treffe und dass ihr ein Mitverschulden nicht anzulasten sei. Das Schmerzensgeld habe das Landgericht zu gering angesetzt; angemessen und ausreichend sei ein Betrag von mindestens 20.000,00 €. Weiter habe das Landgericht ihren Feststellungsantrag hinsichtlich immaterieller Zukunftsschäden übergangen.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil.
Wegen des Vorbringens der Parteien im übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete, mithin zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache Erfolg.
1. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin besteht dem Grunde nach in voller Höhe. Das Verschulden des Beklagten zu 1) überwiegt derart, dass sich die Klägerin den von ihr begangenen Verkehrsverstoß nicht anspruchsmindernd entgegenhalten lassen muss.
Die Beklagten haften der Klägerin gemäß den §§ 7, 18 StVG, 3 PflVersG, 823 BGB auf Schadensersatz. Dass kein Fall höherer Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG vorliegt, hat das Landgericht zutreffend ausgeführt.
Der Beklagte zu 1) hat insbesondere gegen die ihm durch § 3 Abs. 2 a StVO gegenüber Kindern auferlegten Sorgfaltspflichten verstoßen. Diese Vorschrift verlangt die Anwendung äußerster Sorgfalt vom Kraftfahrzeugführer, wenn sich aufgrund äußerer Merkmale erkennbar einer verkehrsschwachen Gruppe angehörende Personen im Fahrbereich aufhalten. Dabei muss entweder die durch § 3 Abs. 2 a StVO besonders geschützte Person bei äußerster Sorgfalt bemerkt werden können oder es muss mit ihrer Anwesenheit im Fahrbahnbereich nach demselben Maßstab gerechnet werden. Weiter muss der Kraftfahrzeugführer die Möglichkeit gehabt haben, ihr etwaiges gefährdendes Verhalten beim Fahren zu berücksichtigen, vor allem durch Verlangsamen und stetige Bremsbereitschaft (vgl. dazu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 3 StVO RdNr. 29 a).
Das Landgericht (Entscheidungsgründe unter II. 3.) hat zutreffend festgestellt, dass für den Beklagten zu 1) erkennbar eine Verkehrssituation vorlag, in der er zugunsten von Kindern unfallverhütend reagieren musste. Auf die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts nimmt der Senat zunächst Bezug. Ausweislich der Lichtbilder in den Ermittlungsakten ist der Straßenverlauf im Bereich der Unfallstelle übersichtlich und weithin einsehbar. Es waren konkrete Anhaltspunkte für von Kindern ausgehende bzw. ihnen drohende Gefahren vorhanden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hielten sich insgesamt fünf Mädchen mit ihren Fahrrädern im Bereich der Verkehrsinsel auf; möglicherweise zwei, mindestens aber ein Mädchen hatten die Fahrbahn bereits vor dem herannahenden Pkw des Beklagten zu 1) überquert, die weiteren Mädchen wollten erkennbar ebenfalls die Straße überqueren. Der die Waldstraße in Gegenrichtung befahrende Zeuge ... hat diese Gefahrensituation nach seiner Einschätzung aus 50 bis 60 m Entfernung wahrgenommen und seine Fahrweise darauf eingerichtet. Von dem Beklagten zu 1) war dies bei Anwendung der von ihm geforderten äußersten Sorgfalt ebenso zu erwarten. Besonderer Anlass zur Aufmerksamkeit bestand zudem deshalb, weil, so der Zeuge ... in einem Abstand von ca. 50 m vor der Unfallstelle in beiden Fahrtrichtungen das Zeichen "Schülerlotse" steht. Zum Unfallzeitpunkt - mittags - war der Schulunterricht gerade beendet, mit nach Hause fahrenden Schulkindern musste jeder Kraftfahrer rechnen. . Abgesehen davon, dass die Gruppe von fünf radfahrenden Schülerinnen aus dieser Entfernung ohne weiteres erkennbar war, hätten auch diese Umstände den Beklagten zu 1) zu erhöhter Aufmerksamkeit zwingen müssen. Gerade bei - wie hier - Gruppenbildung minderjähriger Verkehrsteilnehmer ist bei den einzelnen Kindern mit Abgelenktheit und Unachtsamkeit zu rechnen; dass ein Kind, ohne auf bevorrechtigten Verkehr zu achten, hinter einem anderen Kind die Straße überquert, ist ein geradezu typischer Vorgang.
Auf alles dies hat der Beklagte zu 1) seine Fahrweise in keiner Weise eingerichtet. Dabei kann durchaus mit dem Landgericht davon ausgegangen werden, dass er die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten und nicht während der Fahrt mit seinem Handy telefoniert hat. Jedenfalls steht fest, dass er bei der Annäherung an die Unfallstelle weder seine Geschwindigkeit verringert noch ständige Bremsbereitschaft eingehalten hat, was von ihm gemäß § 3 Abs. 2 a StVO aber gefordert war. Seine Fahrweise war in jeder Hinsicht unaufmerksam und trug der Verkehrslage nicht Rechnung. Die Kollisionsgeschwindigkeit muss noch im Bereich der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit gelegen haben, was bedeutet, dass der Beklagte zu 1) auf die Gruppe der Schülerinnen und den Verkehrsverstoß der Klägerin wenn überhaupt, dann erst sehr spät reagiert hat. Das belegen auch die Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen ... und ...; nach deren Angaben hat der Beklagte zu 1) allenfalls unmittelbar vor der Kollision gebremst, vorher aber keine Reaktion gezeigt.
Das Landgericht hat damit zutreffend einen ganz erheblichen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1), der sich über elementare Verhaltensanforderungen hinweggesetzt hat, festgestellt. Das führt zu einer alleinigen Haftung der Beklagten, auch wenn der Klägerin (Landgerichtsurteil unter II. 2.) ebenfalls ein Verkehrsverstoß anzulasten ist, indem sie die Fahrbahn überquert hat, ohne auf den bevorrechtigten Verkehr zu achten.
Die Klägerin war zwar im Unfallzeitpunkt 10 1/a Jahre alt und damit deliktsfähig im Sinne des § 828 BGB. Sie verfügte schon über eine hinreichende Einsichtsfähigkeit im Hinblick auf das Verhalten im Straßenverkehr. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass sie vom Alter her den Bereich der Deliktsfähigkeit erst kurz vor dem Unfall erreicht hatte. Der Unfall ist auf typisch kindlich unbesonnenes Verhalten zurückzuführen. Die vom Landgericht gefundene Haftungsverteilung von 70 zu 30 zugunsten der Klägerin entspricht der in ähnlich gelagerten Sachverhalten (vgl. dazu Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 8. Aufl., RdNr. 488) aufgrund des bis zum 31. Juli 2002 Schadensrechts entschiedenen Schadensquotelung. Im hier zu entscheidenden Fall ist jedoch schon angesichts des gravierenden Verkehrsverstoßes des Beklagten zu 1), der den ihm obliegenden hohen Sorgfaltspflichten in keinerlei Hinsicht gerecht geworden ist, eine Schadensquotelung nicht vorzunehmen. Es kann zudem kein Zweifel bestehen, dass der Unfall vermieden oder wenigstens deutlich weniger schwer ausgefallen wäre, wenn sich der Beklagte zu 1) pflichtgemäß verhalten hätte. Die von der Klägerin erlittenen erheblichen Verletzungen sind ersichtlich durch die hohe Kollisionsgeschwindigkeit bedingt. Soweit den unfallbeteiligten Kindern durch die bei Grüneberg zitierten in vergleichbaren Fällen ergangenen Entscheidungen mit einer Mithaftungsquote von 25 bis 33 % belastet worden sind, beruht dies zudem noch auf der bis einschließlich 31. Juli 2002 geltenden Rechtslage. Nach der Änderung von § 7 Abs. 2 StVG, mit der eine Stärkung der Position von Kindern im Straßenverkehr bezweckt wird, wird - wie hier - häufiger eine Alleinhaftung des Kraftfahrzeugführers in Betracht kommen.
2. Das Landgericht hat unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens den Schmerzensgeldanspruch (§ 253 Abs. 2 BGB) der Klägerin der Höhe nach mit 10.000,00 Euro beziffert. Die Berufung möchte erreichen, dass der Klägerin - auf der Grundlage voller Haftung der Beklagten - ein Schmerzensgeld von 20.000,00 Euro zuerkannt wird. Der Senat hält ein Schmerzensgeld von 16.000,00 € für angemessen und ausreichend.
Die Klägerin ist, wie dies im Tatbestand des angefochtenen Urteils zutreffend wiedergegeben wird, bei dem Unfall erheblich verletzt worden. Der Heilungsverlauf zog sich über ca. 1/4 Jahr hin; es besteht die Möglichkeit von dauerhaften Verletzungsfolgen, was im Rahmen der Ausgleichsfunktion bei einem jungen Menschen als ein das Schmerzensgeld erhöhender Umstand zu berücksichtigen ist. Im Hinblick auf die mit der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes verbundene Genugtuungsfunktion ist auch der erhebliche Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1), der die Verletzungen der Klägerin herbeigeführt hat, erhöhend zu veranschlagen. Die Tatsache, dass die Klägerin aufgrund kindlicher Unbesonnenheit zum Schaden beigetragen hat, tritt dahinter zurück.
Ausweislich der von den Parteien vorgelegten medizinischen Berichte bestehen zudem dauerhafte Unfallfolgen. Die Klägerin macht geltend, sie leide noch heute unter Bewegungseinschränkungen im Handgelenk und im Daumen sowie unter Schmerzen infolge der Beckenfraktur. Es sei auch eine Fehlstellung des Beckens vorhanden. Schließlich sei unklar, ob die acht bei dem Unfall abgeschlagenen Zähne in Zukunft vital bleiben würden oder ob deshalb weitere Zahnbehandlungen erforderlich sein würden. Der in der Klageerwiderung auszugsweise zitierte Arztbericht vom 11. Februar 2003 geht von einem im wesentlichen abgeschlossenen Heilungsverlauf aus und nennt als voraussichtliche Dauerfolgen Schmerzen im linken Handgelenk sowie bewegungsabhängige Schmerzen aufgrund der Beckenfraktur.
Der Schmerzensgeldanspruch ist grundsätzlich ein einheitlicher Anspruch, bei dessen Bemessung bei abgeschlossenem Heilungsverlauf auch Dauerfolgen zu berücksichtigen sind. Eine Nachforderung ist bei rechtskräftig zuerkanntem Schmerzensgeld nur möglich, wenn die Dauerfolgen im früheren Verfahren mangels Erkennbarkeit oder Vorhersehbarkeit nicht berücksichtigt werden konnten. Mit dem der Klägerin vom Senat zuerkannten Schmerzensgeld abgegolten sind damit nur die derzeit vorhandenen und bekannten Bewegungseinschränkungen in Handgelenk und Daumen sowie die Schmerzen infolge der Beckenfraktur und der Fehlstellung des Beckens. Neue erhebliche Beeinträchtigungen und Spätfolgen - auch hinsichtlich der bei dem Unfall beschädigten Zähne der Klägerin -, die im hier zu entscheidenden Rechtsstreit weder erkennbar noch vorhersehbar sind, werden von dem zuerkannten Schmerzensgeld nicht erfasst.
3. Das Landgericht hat der Klägerin einen Anspruch auf den Ersatz zukünftiger weiterer Sachschäden zugesprochen; in den Entscheidungsgründen (unter I. und II. 7.) geht es davon aus, dass aus dem Unfallereignis weitere Schäden resultieren können. Auf immaterielle zukünftige Schäden geht das angefochtene Urteil jedoch nicht ein; die Berufung rügt zu Recht, dass das Landgericht den erstinstanzlich gestellten Feststellungsantrag, der nicht auf materielle Schäden beschränkt ist, damit nur teilweise beschieden hat.
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz zukünftiger immaterieller Schäden zu. Für das Feststellungsinteresse reicht bereits die Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts aus, die nur verneint werden darf, wenn aus Sicht der Klägerin bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen. Hinsichtlich der Fraktur des Beckens, des linken Handgelenks, des rechten Daumens und der Verletzungen der Zähne besteht die Möglichkeit des Eintritts derartiger Schadensfolgen (vgl. oben unter 2.).
4. Den Sachschaden hat das Landgericht - von der Berufung nicht angegriffen - mit 1.335,80 € beziffert. Bei voller Haftung sind der Klägerin somit (die Beklagte zu 2) hat darauf 500,00 € gezahlt) insgesamt 835,80 € zuzuerkennen.
5. Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 92 Abs. 2 Nr. 1 und 2, 708 Nr. 10, 713, 543 Abs. 2 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO.