Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 01.03.2023, Az.: 5 U 45/22

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
01.03.2023
Aktenzeichen
5 U 45/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 34902
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 25.03.2022 - AZ: 8 O 539/20

Fundstelle

  • GesR 2023, 585-589

In dem Rechtsstreit
AA, vertreten durch die Eltern BB und CC, Ort1,
Kläger und Berufungskläger,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
gegen
DD Hospital Ort2 gGmbH, vertreten durch den Geschäftsführer EE, Ort2,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts (...), den Richter am Oberlandesgericht (...) und den Richter am Oberlandesgericht (...) auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2023 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 25.03.2022 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg wie folgt abgeändert:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten p.a. über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 25.05.2020 zu zahlen.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle künftig dem Kläger noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese vom Klageantrag zu 1. nicht erfasst sind und noch nicht vorhersehbar sind, sowie sämtlichen weiteren materiellen Schaden aus der streitgegenständlichen fehlerhaften Behandlung zu ersetzen, soweit die materiellen Schäden nicht auf Träger der Sozialversicherung oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

  3. 3.

    Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.365,23 Euro freizuhalten.

  4. 4.

    Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

  5. 5.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

  6. 6.

    Die Revision wird zugelassen.

  7. 7.

    Der Streitwert wird für das Verfahren erster Instanz und zweiter Instanz auf 180.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Parteien streiten über Schadensersatz und Feststellung anlässlich einer behauptet grob fehlerhaften postnatalen augenärztlichen Kontrolle.

Der Kläger wurde am TT.MM.2016 in der 25. Schwangerschaftswoche im Hause der Beklagten entbunden und dort bis zu seiner Entlassung am 31.10.2016 versorgt. Weil die Gefäße in der Netzhaut sich vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dieser Prozess erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine Netzhautablösung. Bis zur Entlassung wurde deshalb - zuletzt am 18.10.2016 - der Kläger durch Ärzte der Beklagten regelmäßig augenärztlich untersucht, jeweils mit dem Ergebnis, dass bis dahin Hinweise auf eine Frühgeborenenretinopathie (ROP) nicht vorlägen.

Laut Untersuchungsprotokoll vom 18.10.2016 und vorläufigem Entlassungsbrief (Anlage K3) empfahl die Beklagte mit Entlassung des Klägers aus der stationären Behandlung eine augenärztliche Kontrolle in drei Monaten.

Am 24.11.2016 wurde in der Uniklinik Köln eine ROP diagnostiziert. Das rechte Auge war schon nicht mehr zu behandeln; die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg. Auf dem rechten Auge ist der Kläger vollständig erblindet, auf dem linken Auge hat er eine hochgradige Sehbehinderung erlitten. Ihm ist lediglich noch bei starker Kontraständerung oder bei beleuchteten Gegenständen ein zielgerichtetes Greifen möglich. Der anerkannte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100%.

Der Kläger hat der Beklagten unter Berufung auf ein Gutachten des Neuropädiaters Prof. FF vorgeworfen, die Untersuchung am 18.10.2016 nicht ausreichend dokumentiert zu haben, weshalb davon auszugehen sei, dass weder eine Weitstellung der Pupillen erfolgt, noch die Vaskularisationsgrenze bestimmt worden sei. Das sei grob fehlerhaft gewesen. Für eine Fehlbeurteilung spreche auch der ungewöhnlich dramatische Verlauf bis zum 24.11.2016. Es sei zudem grob fehlerhaft gewesen, eine erneute Kontrolle erst nach drei Monaten zu empfehlen. Bei fachgerechter Untersuchung und rechtzeitiger Kontrolle wäre die Retinopathie rechtzeitig erkannt und behandelt und eine Erblindung des Klägers verhindert worden, wofür ihm Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen des Befunderhebungsfehlers und des groben Behandlungsfehlers zugutekämen.

Der Kläger hat ein Schmerzensgeld von 80.000,00 Euro für angemessen erachtet.

Der Kläger hat beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle künftig ihm noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese vom Klageantrag zu 1. nicht erfasst sind und noch nicht vorhersehbar sind, sowie sämtlichen weiteren materiellen Schaden aus der streitgegenständlichen fehlerhaften Behandlung zu ersetzen, soweit die materiellen Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, die Untersuchung am 18.10.2016 sei sorgfältig durchgeführt worden und habe keinen Anhalt für eine sich entwickelnde ROP gezeigt. Allenfalls liege ein Diagnosefehler vor. Da die Kontrolluntersuchung am 24.11.2016 durchgeführt worden sei, habe sich die versehentlich gegebene Empfehlung, eine solche nach drei Monaten zu veranlassen, nicht ausgewirkt.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines augenärztlichen Sachverständigengutachtens des Dr. GG vom 16.11.2020 nebst Ergänzungsgutachten vom 22.07.2021 (Sonderband Gutachten). Es hat den Sachverständigen darüber hinaus in den mündlichen Verhandlungen vom 21.05.2021 und 04.03.2022 ergänzend angehört.

Mit seinem am 25.03.2022 verkündeten Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Die Beweisaufnahme habe nicht zu der Überzeugung geführt, dass die Untersuchungen am 16.09., 21.09. und 18.10.2016 unter Verletzung fachärztlicher Standards vorgenommen worden seien und zu einem falschen Befund geführt hätten.

Die vom Kläger geltend gemachten Dokumentationsversäumnisse ließen nicht darauf schließen, dass die Pupillen bei den Untersuchungen pflichtwidrig nicht weitgestellt worden seien und die Vaskularisationsgrenze nicht bestimmt worden sei. Das Gegenteil habe der Sachverständige mit überzeugender auch für einen medizinischen Laien nachvollziehbarer Argumentation geschlussfolgert. Die Weitstellung der Pupillen sei eine Selbstverständlichkeit und nicht dokumentationspflichtig. Dass die Pupillen bei den Untersuchungen weit gestellt worden seien, ergebe sich aus der dokumentierten Medikation mit Mydriaticum-AT und Neosynephrin-AT, welche der Pupillenweitstellung diene.

Der Sachverständige habe es nicht als fehlerhaft bewertet, dass die Vaskularisationsgrenze im Untersuchungsprotokoll nicht eingezeichnet worden sei. Entscheidend sei, dass der Grad der Vaskularisation untersucht und bewertet werde; wie der Befund festgehalten werde, ob zeichnerisch oder in anderer Weise, sei nicht maßgeblich. Hier sei bei der ersten Untersuchung ein unauffälliger zentraler Augenhintergrund, bei der zweiten eine "regelrechte" und bei der dritten Untersuchung eine "einwandfreie Netzhautperipherie" beschrieben. Diese Beschreibung bedeute einen unauffälligen altersentsprechenden Befund, so dass eine Zeichnung nicht erforderlich gewesen sei. Auch die Augenärztin Dr. HH pflichte in ihrem vom Kläger beigebrachten Gutachten im Ergebnis der Bewertung bei, die Dokumentation sei regelrecht.

Anhaltspunkte dafür, dass die erhobenen Befunde falsch und bereits vorliegende Anzeichen für eine ROP verkannt worden seien, habe der Sachverständige nicht ausgemacht. Zwar habe er eingeräumt, dass hier ein ungewöhnlich rasanter Verlauf von einer unauffälligen Netzhaut bis zu der am 24.11. diagnostizierten ROP Stadium IV bzw. V vorgelegen habe. Solche Verläufe, bei denen auch nach dem errechneten Geburtstermin noch eine schwere ROP auftrete, ohne dass vorher Anzeichen dafür vorlägen, seien zwar selten, aber bekannt. Aus dem Umstand, dass die Erkrankung am 24.11. bereits so weit fortgeschritten gewesen sei, dass die Sehfähigkeit nicht mehr zu retten war, habe der Sachverständige nicht den Rückschluss gezogen, dass schon am 18.10.2016 ein Krankheitsstadium I oder jedenfalls Anhaltspunkte für eine beginnende ROP vorgelegen haben müssten. Vielmehr sei nach dem letzten Untersuchungsbefund am 18.10. von einer altersgerechten Vaskularisation ohne Anhaltspunkt für eine ROP auszugehen. Soweit Dr. HH aus dem Verlauf geschlossen habe, sie halte es für "wahrscheinlicher", dass die ROP noch während des stationären Aufenthalts eingetreten und nicht erkannt worden sei, so reiche ein solcher Grad der Wahrscheinlichkeit gem. § 286 ZPO nicht zur Überzeugungsbildung aus, die Augenuntersuchungen seien fehlerhaft durchgeführt und ausgewertet worden.

Die bei Entlassung erteilte Therapieempfehlung einer Augenarztkontrolle in drei Monaten sei hingegen falsch, ohne sich jedoch nachweisbar auf den tragischen Verlauf ausgewirkt zu haben.

Sowohl Dr. GG als auch Dr. HH hätten ausgeführt, dass bei unauffälligem Befund am 18.10.2016 eine weitere Untersuchung nach drei Wochen, also um den 08.11., geboten gewesen wäre. Dieser Termin hätte dem errechneten Geburtstermin (10.11.) und dem Zeitpunkt der Vollreife nach 40 Schwangerschaftswochen entsprochen. Dr. GG habe erläutert, nach den Leitlinien sei die Untersuchung abzuschließen, wenn eine vollständige Vaskularisation vorliege - was am 18.10. noch nicht der Fall gewesen sei -, eine deutliche Regression einer erkannten ROP zu erkennen sei - was ebenfalls nicht der Fall gewesen sei - oder mit dem errechneten Geburtstermin. Demnach sei die Entlassungsempfehlung einer Kontrolluntersuchung nach drei Monaten fehlerhaft gewesen.

Der Sachverständige habe in der mündlichen Anhörung am 04.03.2022 zwar relativiert, es bestehe ein gewisser Spielraum. Daran, dass das vorgegebene Intervall von drei Monaten nicht dem Standard entsprochen habe, bestehe aber kein Zweifel. Auch die Beklagte habe diese Empfehlung nicht als richtig verteidigt.

Im Ergebnis habe sich die fehlerhafte Empfehlung jedoch nicht nachweisbar ausgewirkt. Zwar wäre - so der Sachverständige - bei einer Untersuchung um den 08.11.2016 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Retinopathie im Stadium III zutage getreten, auf die zwingend mit engmaschigen Kontrollen oder einer sofortigen Laserbehandlung zu reagieren gewesen wäre. Diesen Schluss habe der Sachverständige daraus gezogen, dass die Entwicklung von Stadium 0 bis Stadium IV einen Zeitraum von vier Wochen brauche, bis zu Stadium V fünf Wochen. Eine solche Laserbehandlung hätte nach Aussage des Gutachters auch gute Chancen auf den Erhalt eines besseren Visus gehabt, sie wäre aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgreich gewesen. Vielmehr gebe es auch Fälle, in denen trotz einer solchen Behandlung eine Erblindung eintrete.

Damit sei nicht nachgewiesen, dass die Erblindung des Klägers verhindert worden wäre, wenn ihm der dem fachärztlichen Standard entsprechende Rat erteilt worden wäre, sich nach drei Wochen einem Augenarzt vorzustellen. Eine Beweislastumkehr, wonach ein solcher Kausalzusammenhang zu vermuten und von der Beklagten zu widerlegen wäre, komme dem Kläger, der grundsätzlich zu beweisen habe, dass der erlittene Gesundheitsschaden auf der Fehlbehandlung beruhe, nicht zugute.

Die Therapieempfehlung sei nicht als grob fehlerhaft zu qualifizieren. Zu dieser Bewertung gelange das Gericht nach sachverständiger Beratung deshalb, weil der Vorbefund am 18.10. unauffällig gewesen sei und die Entwicklung einer Retinopathie nicht habe erwartet werden können. Der Sachverständige habe eine Verlaufsuntersuchung nach drei Wochen deshalb nicht als dringlich erachtet, vielmehr erklärt, unter diesen Umständen wäre ein striktes Festhalten am Drei-Wochen-Intervall nicht zwingend gewesen.

Die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr gem. § 630 h Abs. 5 S. 2 BGB lägen ebenfalls nicht vor. Sie greife ein, wenn ein medizinisch gebotener Befund nicht rechtzeitig erhoben worden sei, sofern er mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre. Wäre die Kontrolluntersuchung um den 08.11. vorgenommen worden, hätte sich zwar mit über 50%iger Wahrscheinlichkeit eine Retinopathie im Stadium III gezeigt, auf die unbedingt mit einer Laserbehandlung zu reagieren gewesen wäre. Eine solche wäre auch geeignet gewesen, einen besseren Verlauf zu bewirken. Der hier unterlaufene Beratungsfehler sei aber nicht als Befunderhebungsfehler, sondern als Behandlungsfehler zu bewerten, so dass es bei der grundsätzlichen Beweisverteilung für die haftungsbegründende Kausalität verbleibe.

Die Frage, ob ein arztfehlerhaft unterbliebener Hinweis auf eine erforderliche Nachkontrolle als unterbliebene Sicherungsaufklärung (Behandlungsfehler) oder als unterbliebene Befunderhebung einzuordnen sei, richte sich nach dem Schwerpunkt des Vorwurfs. Unterlasse es ein Arzt, den Patienten über die Dringlichkeit der ihm zutreffend empfohlenen medizinisch gebotenen Maßnahme zu informieren und ihn vor Gefahren zu warnen, die im Fall des Unterbleibens entstehen können, liege grundsätzlich ein Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Beratung vor. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liege auch im vorliegenden Fall auf einer falschen Sicherungsaufklärung. Denn den Hinweis, nach der Entlassung sei eine weitere augenärztliche Kontrolluntersuchung geboten, hätten die Ärzte der Beklagten den Eltern des Klägers erteilt. Vorzuwerfen sei ihnen, dass sie mit der Nennung eines zu langen Intervalls nicht deutlich gemacht hätten, dass die Untersuchung nicht beliebig hinauszuschieben sei, sondern eine gewisse Dringlichkeit habe. Insofern sei ihnen nicht anzulasten, einen zu erhebenden Befund nicht veranlasst zu haben, sondern nicht darüber aufgeklärt zu haben, dass die Untersuchung innerhalb der nächsten Wochen durchzuführen sei. Das pflichtwidrige Unterlassen beziehe sich somit nicht auf die Befunderhebung, sondern auf die Erteilung eines Warnhinweises zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs und damit auf die Sicherungsaufklärung.

Wegen der Begründung im Einzelnen und der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.

Er kritisiert, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft die Voraussetzungen einer Beweislastumkehr verneint habe.

Der Behandlungsfehler liege darin, dass in dem Entlassungsbrief vom 22.09.2016 nicht fachgerecht eine augenärztliche Kontrolle in drei Monaten statt in drei Wochen, mithin mit unzutreffender Dringlichkeit, empfohlen worden sei.

Die Eltern des Klägers hätten, sofern die behandelnden Ärzte sie über die erforderliche augenärztliche Kontrolle zum errechneten Geburtstermin aufgeklärt hätten, den Kläger zu diesem Zeitpunkt zur Untersuchung vorgestellt.

In dem Fall einer solchen Untersuchung hätte sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiger Befund ergeben. Die Nichtreaktion auf den hypothetischen Befund einer ROP mindestens des dritten Stadiums wäre ein grober Fehler gewesen.

Die frühzeitigere Diagnostik wäre auch generell geeignet gewesen, den vollständigen Visusverlust zu vermeiden. Es sei auch nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass der Schaden im Falle einer fachgerechten therapeutischen Aufklärung vermieden worden wäre.

Vorsorglich wiederholt der Kläger seine Auffassung, dass es sich nicht um einen Fehler im Bereich der therapeutischen Aufklärung, sondern um eine unterlassene Befunderhebung handele.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Oldenburg vom 25.03.2022

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten p.a. über dem jeweiligen Basiszins der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle zukünftig ihm noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese vom Klagantrag zu 1.) nicht erfasst sind und noch nicht vorhersehbar sind, sowie sämtlichen weiteren materiellen Schaden aus der streitgegenständlichen fehlerhaften Behandlung zu ersetzen, soweit die materiellen Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihn von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.365,23 Euro freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Es liege allenfalls eine fehlerhafte Therapieempfehlung und gerade kein Befunderhebungsfehler vor. Eine fehlerhafte therapeutische Aufklärung stelle aber einen allgemeinen Behandlungsfehler dar, der nur dann eine Umkehr der Beweislast nach sich ziehe, wenn der Fehler als grob zu qualifizieren sei. Das sei aber vorliegend nicht der Fall. Eine Beweislastumkehr bei fehlerhafter Sicherungsaufklärung durch den Nachweis eines fiktiven groben Behandlungsfehlers herbeizuführen, habe das Landgericht in Übereinstimmung mit der einschlägigen Rechtsprechung des BGH und soweit ersichtlich auch der Oberlandesgerichte richtigerweise verneint.

Ungeachtet der fehlerhaften therapeutischen Information der Beklagten habe bereits am 24.11.2016 eine Kontrolluntersuchung stattgefunden, mithin bereits nach fünf Wochen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Dr. GG und Anhörung der Eltern des Klägers (vgl. Protokoll vom 15.02.2023, Bl. 95ff. Bd. II d.A.).

II.

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache Erfolg.

1. Mit seiner Berufung bezieht sich der Kläger (nur noch) auf den fehlerhaften Hinweis der Beklagten in dem Entlassungsbrief vom 22.09.2016, eine Wiedervorstellung sei innerhalb von drei Monaten erforderlich, während zutreffenderweise eine Wiedervorstellung zum errechneten Geburtstermin bzw. in drei Wochen hätte empfohlen werden müssen (S. 4 BB).

2. Nach den überzeugenden (und von der Beklagten wohl auch nicht mehr in Zweifel gezogenen, vgl. S. 5 der Berufungserwiderung "ungeachtet der (fehlerhaften) therapeutischen Information der Beklagten") Feststellungen des Landgerichts handelte die Beklagte arztfehlerhaft, indem sie den Eltern des Klägers bei Entlassung (Entlassungsbrief Anlage K3) empfahl, sich in drei Monaten zur augenärztlichen Kontrolle wiedervorzustellen. Denn eine solche Wiedervorstellung wäre binnen drei Wochen (08.11.2016) bzw. zum errechneten Geburtstermin (10.11.2016, Protokoll vom 04.03.2022, S. 2) erforderlich gewesen, § 529 ZPO.

3. Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, dass der Hinweis der Beklagten "Augenarzt-Kontrolle in 3 Monaten" im Entlassungsbrief vom 22.09.2016 angesichts des standardgerechten Hinweises, eine Wiedervorstellung solle am errechneten Geburtstermin erfolgen, als fehlerhafte Sicherungsaufklärung zu bewerten ist. Die auf die Bewertung als Befunderhebungsfehler abzielende Berufung dringt insofern nicht durch.

Grundsätzlich hat sich die Abgrenzung zwischen einer unterlassenen Befunderhebung auf der einen Seite und einem Unterlassen von Warnhinweisen zur Sicherstellung des Behandlungserfolges (Sicherungsaufklärung) auf der anderen Seite daran zu orientieren, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens liegt (vgl. BGH, NJW 2016, S. 563, 564 [BGH 17.11.2015 - VI ZR 476/14], Tz. 18; Senat, Urteil vom 18. Mai 2016 - 5 U 1/14 -, Rn. 51, juris). In der vorliegenden Gestaltung ist der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bei zusammenfassender Würdigung aller maßgebenden Aspekte in der unterbliebenen Sicherungsaufklärung zu verorten.

Wird ein Patient zutreffend über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes und die medizinisch gebotenen Maßnahmen einer weiteren Kontrolle informiert und unterbleibt (lediglich) der Hinweis auf die Dringlichkeit der gebotenen Maßnahmen, so liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit regelmäßig in dem Unterlassen der Warnhinweise (vgl. BGH, Urteil vom 11. April 2017 - VI ZR 576/15, NJW 2018, 621 Rn. 15). Fehlt es dagegen schon an dem Hinweis, dass ein kontrollbedürftiger Befund vorliegt und dass Maßnahmen zur weiteren Abklärung medizinisch geboten sind, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit regelmäßig in der unterbliebenen Befunderhebung (vgl. BGH, Urteil vom 26. Mai 2020 - VI ZR 213/19 -, Rn. 23, juris).

Wie das Landgericht unter zutreffender Anwendung dieser Vorgaben herausgearbeitet hat, hat die Beklagte die Eltern des Klägers zutreffend auf die erforderliche augenärztliche Kontrolluntersuchung hingewiesen. Sie hat dabei eine Dringlichkeitsstufe von "3 Monaten" benannt, was nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht richtig war. Fehlerfrei wäre eine (höhere) Dringlichkeit von "3 Wochen" bzw. "zum errechneten Geburtstermin" gewesen. Damit liegt der Schwerpunkt des Beklagtenfehlers in der Angabe einer zu geringen Dringlichkeit, mithin im Bereich der Sicherungsaufklärung.

4. Dem Kläger ist unstreitig ein erheblicher gesundheitlicher Schaden entstanden.

Das rechte Auge ist vollständig erblindet, das linke Auge hat eine hochgradige Sehbehinderung erlitten. Dem Kläger ist lediglich noch bei starker Kontraständerung oder bei beleuchteten Gegenständen ein zielgerichtetes Greifen möglich. Der auf dieser Beeinträchtigung beruhende Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100%.

5. Entgegen der Bewertung des Landgerichts ist indessen die Kausalität des Beklagtenfehlers für den Primärschaden des Klägers bewiesen:

a.) Das Landgericht hat mit dem Sachverständigen in dem unterlassenen Hinweis auf die bestehende Dringlichkeit (Wiedervorstellung in drei Wochen nach Entlassung) zutreffend keinen groben, sondern nur einen einfachen Fehler gesehen.

Das Zitat der Berufungsbegründung, eine Abschlussuntersuchung zum Geburtstermin sei zwingend, erweist sich als verkürzt. Der Sachverständige hat tatsächlich in der mündlichen Verhandlung von 04.03.2022 ausgeführt (S. 2 des Protokolls = Bl. 181 Bd. I d.A.):

"Wichtig ist insoweit, dass eine Untersuchung rund um den errechneten Geburtstermin stattfindet. [...] Eine solche Abschlussuntersuchung ist zwingend. Hinsichtlich des Zeitpunktes kann man allerdings sagen, dass diese Untersuchung nicht zwingend genau zum Geburtstermin erfolgen muss, sie kann auch vorher oder auch kurz danach erfolgen. Dies hängt im Wesentlichen von den Ergebnissen der Voruntersuchung ab.".

Die Wertung des Sachverständigen als "zwingend" bezieht sich also auf den Umstand der Untersuchung, gerade nicht auf den Zeitpunkt. War indessen der Zeitpunkt der Untersuchung am errechneten Geburtstermin nicht zwingend, ist die Schlussfolgerung des Sachverständigen, dass der Angabe eines falschen Zeitpunktes nicht solches Gewicht beigemessen werden muss, dass sie als grober Fehler bewertet werden müsste, plausibel und überzeugend. Die Berufung verschweigt darüber hinaus, dass der Sachverständige zu der Gewichtung des Fehlers in seinem Ergänzungsgutachten vom 29.07.2016 Stellung genommen hat. Dort hat er mit dem nachvollziehbaren Argument, dass ein grober Fehler erst dann anzunehmen wäre, wenn keine adäquate neue Kontrolle empfohlen worden wäre, einen groben Fehler explizit verneint. Im Lichte des Umstandes, dass sich bei den Voruntersuchungen durchgehend altersgerechte Zustände des Auges gezeigt haben, mithin gerade keine Gründe für eine besondere Dringlichkeit vorlagen, überzeugt dies auch den Senat.

b.) Betrachtet man nur diesen einfachen Fehler in der Sicherungsaufklärung, hat das Landgericht zutreffend - und von der Berufung auch nicht angegriffen - ausgeführt, dass die (einfach) fehlerhafte Sicherungsaufklärung nicht feststellbar (§ 286 ZPO) kausal für den erlittenen Gesundheitsschaden ist. Denn wie der Sachverständige ausgeführt hat, hätte eine Laserbehandlung zwar eine gute Chance auf Erhalt eines besseren Visus, aber gerade keine an Sicherheit grenzende Erfolgsaussicht gehabt (S. 3 des Protokolls vom 04.03.2022, zweiter Absatz).

c.) Dem Kläger kommt indes dennoch die Beweiserleichterung des § 630h Abs. 5 S. 2 BGB zugute, infolgedessen er die Kausalität bewiesen hat.

aa.) Anders als das Landgericht hält der Senat den (inzidenten) Schluss, die Kategorisierung des Fehlers als Sicherungsaufklärung nehme der Patientenseite a priori die Möglichkeit, eine Beweislastumkehr durch Nachweis eines fiktiven groben Behandlungsfehlers im Sinne des § 630h Abs. 5 S. 2 BGB herbeizuführen, nicht für plausibel, geschweige denn zwingend.

Zwar wird augenscheinlich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in diesem Sinne rezipiert (explizit in diesem Sinne: OLG Hamm, Urteil vom 29. Oktober 2014 - I-3 U 55/14 -, Rn. 76, juris). Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof indessen, soweit ersichtlich, bislang nicht explizit entschieden, dass im Rahmen etwaiger Kausalitätsüberlegungen nach unzureichender Sicherungsaufklärung die Grundsätze über den fiktiven groben Behandlungsfehler bei hinreichendem Befund nicht angewendet werden dürften. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 24.05.2022 - VI ZR 206/21 abhebt, ist diesem Urteil derartiges nicht zu entnehmen.

Der Senat kann bei vorläufiger Würdigung auch keinen überzeugenden, inneren Grund finden, warum dies der Fall sein sollte.

Ergibt die o.g. Einordnung des Versäumnisses, dass es sich im Schwerpunkt um eine fehlerhafte Aufklärung handelt, bedeutet dies nicht, dass damit die Prüfung beendet und eine Haftung zu verneinen wäre. Im Falle einer fehlerhaften therapeutischen Aufklärung hat die Patientenseite vielmehr darzulegen, wie sie auf die Aufklärung reagiert hätte, wobei zu ihren Gunsten die Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens streitet. Sodann hat sie darzulegen und zu beweisen, dass die dadurch veranlasste Behandlung den Schaden, der tatsächlich eingetreten ist, vermieden hätte. Dies bedeutet für Fälle der vorliegenden Art, dass sie beweisen muss, dass es zu einer Befunderhebung gekommen wäre, dass sich ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte und dass bei Reaktion auf diesen Befund der Schaden vermieden worden wäre. Die herrschende Meinung in Rezeption der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes scheint nun zu sein, dass jene für die fehlerhafte Befunderhebung anerkannte Beweiserleichterung zu Gunsten der Patientenseite (§ 630h Abs. 5 S. 2 BGB), dass nämlich mit Blick auf den Befund nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit nachzuweisen ist und die Kausalität der unterbliebenen Reaktion auf den Befund vermutet wird, soweit sich ein Unterlassen als grober Behandlungsfehler darstellt, nicht zu Gunsten der Patientenseite greift, wenn die Haftung im Ursprung an eine therapeutische Aufklärung anknüpft und die vorstehenden Erwägungen zur Befunderhebung nicht primär haftungsbegründend sind, sondern im Rahmen der Prüfung der (haftungsbegründenden) Kausalität (der Sicherungsaufklärung) angestellt werden (vgl. OLG Hamm a.a.O.). Dies überzeugt ohne weiteres nicht.

Vordergründig ließe sich argumentieren, dass § 630h Abs. 5 S. 2 BGB an einen Befunderhebungsfehler und nicht an eine therapeutische Aufklärung bzw. eine fiktive Befunderhebung anknüpft. Dem kann indessen zweierlei entgegengehalten werden. Zum einen dürfte Konsens sein, dass der Gesetzgeber mit Kodifizierung des Behandlungsvertrages lediglich die in der Rechtsprechung anerkannten Prinzipien hat kodifizieren aber nicht beschränken wollen. Insoweit taugt mithin eine Argumentation mit dem Gesetzeswortlaut wenig, um eine Restriktion, die dogmatisch-teleologisch nicht plausibel begründbar ist, zu legitimieren. Zum anderen knüpft § 630h Abs. 5 S. 2 BGB an den Vorwurf eines Unterlassens an; regelmäßig besteht der Vorwurf darin, eine Befunderhebung nicht vorgenommen zu haben. So gesehen ist in beiden Konstellationen die geschuldete Befunderhebung "fiktiv". Indessen kann der Senat keinen plausiblen Grund erkennen, warum sich die beweisrechtliche Situation des Patienten, der den Beweis aufklärungsgerechten Verhaltens führen kann, erheblich verschlechtern sollte, wenn den Behandlern nicht vorzuwerfen ist, die geschuldete Untersuchung nicht durchgeführt zu haben, sondern die geschuldete Untersuchung durch falsche Angaben vereitelt zu haben. Im Gegenteil erschiene eine entsprechende Ungleichbehandlung dem Senat nachgerade willkürlich.

Die vorliegend zu beurteilende Konstellation unterscheidet sich auch maßgeblich von jener, in der Diagnose- und Befunderhebungsfehler gegeneinander abzugrenzen sind, denn mit der Einordnung als Diagnose- oder Befunderhebungsfehler ist tatsächlich die Zuweisung unterschiedlicher Haftungsstandards verbunden. So haftet der Behandler bekanntermaßen nicht für jedwede falsche, sondern nur für die unvertretbare falsche Diagnose; eine vertretbar falsche Diagnose "sperrt" regelmäßig insoweit den Vorwurf unterbliebener Befunderhebung (Senat, Beschluss vom 16.04.2021, S.7 f [nachfolgend BGH VI ZR 163/21]; Martis / Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage., D 20f.). Um Inkonsistenzen wegen der unterschiedlichen Haftungsmaßstäbe zu vermeiden, ist es in dieser Situation (Abgrenzung Diagnose- vom Befunderhebungsfehler) ersichtlich erforderlich, mit der Einordnung in die eine Fehlerkategorie in der Folge auch Konsequenzen für die Beurteilung zeitlich nachfolgender Behandlungsschritte zu verbinden. Dieses Argument gilt für die vorliegend zu beurteilende Situation indessen gerade nicht, weil es sich bei der therapeutischen Aufklärung und der Befunderhebung, sofern sie jeweils vorwerfbar standardunterschreitend erfolgen, um Behandlungsfehler handelt, die dem gleichen haftungsrechtlichen Regime unterstellt sind.

bb.) Hieran gemessen liegen die Voraussetzungen der Beweislastumkehr vor:

aaa.) Der Kläger hat dargelegt, dass seine Eltern ihn im Falle einer zutreffenden therapeutischen Aufklärung zu dem errechneten Geburtstermin zur Kontrolle vorgestellt hätten. Dafür, dass die Eltern dies getan hätten, spricht zum einen die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens. Der Senat vermag weder aus dem beiderseitigen Vortrag noch aus der vorliegenden ärztlichen Dokumentation einen Anhaltspunkt dafür zu erkennen, dass die Eltern sich nicht aufklärungsrichtig verhalten hätten. Darüber hinaus haben die durch den Senat am 15.02.2023 informatorisch angehörten Eltern übereinstimmend bekundet, dass sie sich an einen solchen Rat gehalten hätten. Diese Angaben der Eltern überzeugen den Senat.

bbb.) Die bei korrekter therapeutischer Aufklärung vorzunehmende Befunderhebung, nämlich die Kontrolluntersuchung an den Augen des Klägers, hätte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund erbracht.

Dazu hat der Sachverständige gegenüber dem Senat ausgeführt, auf der Basis von Studien wäre zum Zeitpunkt der rechtzeitigen Kontrolle von einer ROP Stadium 3 auszugehen. Dies fügt sich ein in die noch eindeutigere Formulierung des Sachverständigen vor dem Landgericht (Protokoll vom 04.03.2022, S. 2), wo der Sachverständige angegeben hat, im Falle einer rechtzeitigen Untersuchung wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass eine ROP mindestens des dritten Stadiums festgestellt worden wäre. Im Weiteren hat er die Wahrscheinlichkeit mit "an Sicherheit grenzend" bewertet.

Damit steht zur Überzeugung des Senats eine Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundes von über 50% zweifelsfrei fest.

ccc.) Der (unterlassene) zutreffende Hinweis auf eine Wiedervorstellung am errechneten Geburtstermin und eine hierdurch veranlasste Behandlung wären auch generell geeignet gewesen, den eingetretenen Schaden zu vermeiden.

Für die erforderliche "generelle Eignung" genügt es, dass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Arztfehler als - nicht unbedingt naheliegende oder gar typische - Ursache für den Gesundheitsschaden in Frage kommt (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, Rn. G522 m.w.N.).

Die Interventionsmöglichkeiten (sofortiges Lasern oder weiteres Zuwarten und anschließendes Lasern) seien - so der Sachverständige - grundsätzlich geeignet, den Zustand des Kindes zu verbessern (Protokoll vom 15.02.2023, S. 2). So gehe er davon aus, dass man die Lesefähigkeit (ggf. mit Hilfsmitteln) hätte erhalten können.

ddd.) Eine Kausalität des Beklagtenfehlers für den eingetretenen Primärschaden ist auch nicht äußerst unwahrscheinlich.

Äußerste Unwahrscheinlichkeit liegt nach der vom Senat ständig vertretenen Auffassung dann vor, wenn der Primärschaden mit einer Quote von 95% oder mehr nicht auf den Behandlungsfehler zurückgeführt werden kann.

Das hat die Beklagte nicht zu beweisen vermocht. Hierzu hat der Sachverständige zwar ausgeführt, dass es Verläufe gäbe, bei denen trotz Intervention die Erkrankung mit einer Erblindung ende. Im vorliegenden Fall halte er es aber für recht wahrscheinlich, dass man den Zustand mit einer Intervention hätte verbessern können.

eee.) Es liegen keine abgrenzbar teilkausalen Schäden vor.

Die Mitursächlichkeit eines Behandlungsfehlers führt dann nicht zur Zurechnung des gesamten Schadens, wenn dem Behandler der (Voll-)Beweis gelingt, dass er nur einen abgrenzbaren Teil des Schadens verursacht hat (vgl. Senat, Urteil vom 22.12.2021, 5 U 130/19; Martis/Winkhart a.a.O. Rn. K33 unter Hinweis auf BGH NJW 2005, 2072).

Insofern zielt schon der Vortrag der Beklagten nicht darauf ab, fehlerunabhängige - also abgrenzbar nicht kausale - Schäden darzulegen.

Jedenfalls hat der Sachverständige keine abgrenzbaren nicht kausalen Schäden bzw. einen "Mindestschaden" benennen können. Denn er hat die Möglichkeit von sehr schlechten bis hin zu sehr guten Entwicklungen der Sehkraft im Falle rechtzeitigen Einschreitens für möglich gehalten. So hat er insbesondere vor der Kammer am 04.02.2022 ausgeführt, bei einem Einschreiten wäre "visustechnisch ein gutes Ergebnis erreicht worden", wobei es eben auch Ausnahmefälle gäbe, in denen keine Verbesserung erzielt werde. Gegenüber dem Senat hat er - wie aufgezeigt - als schlechtestes mögliches Ergebnis die Erblindung benannt.

fff.) Damit liegen die Voraussetzungen des Kausalitätsbeweises der Klägerseite vor.

Für die Kausalität des Behandlungsfehlers für die gesundheitliche Beeinträchtigung genügt bereits eine Mitursächlichkeit. Es kommt nicht darauf an, ob ein Ereignis die "ausschließliche" oder "alleinige" Ursache einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist; auch eine Mitursächlichkeit, sei sie auch nur "Auslöser" neben erheblichen anderen Umständen, steht einer Alleinursächlichkeit in vollem Umfang gleich (vgl. BGH, Urteil vom 19. April 2005 - VI ZR 175/04 -, Rn. 10, juris m.w.N.; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, Rn. K32 m.w.N.).

Damit ist die Beklagtenseite auf der Basis der sachverständigen Ausführungen für den Primärschaden der eingetretenen Sehbeeinträchtigung des Klägers insgesamt ursächlich geworden.

6. Die Beklagte kann schließlich nicht mit Erfolg den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens erheben, etwa in dem Sinne, der Sachverständige hätte anerkannt, dass es in der Praxis durchaus möglich sei, dass der Untersuchungstermin um 2 Wochen nach hinten verschoben werde (S. 2 der Sitzungsniederschrift vom 04.03.2022, Bl. 182 / I d.A.), was vorliegend dann genau dem tatsächlichen Untersuchungstermin am 24.11.2016 (errechneter Geburtstermin 10.11.2016 zzgl. 2 Wochen) entsprochen habe.

Der Sachverständige hat mit der entsprechenden Äußerung nur deutlich machen wollen, dass in der Praxis die Untersuchung nicht immer taggenau zu jenem Zeitpunkt stattfinden kann, der nach den Leitlinien vorgesehen ist; keineswegs hat der Sachverständige indessen damit zum Ausdruck bringen wollen, dass deswegen auch eine entsprechende Aufklärung des Inhalts in Ordnung gewesen wäre, der Kläger hätte sich erst zum 24.11.2016 (statt zum 10.11.2016 = errechneter Geburtstermin) vorstellen müssen. Das (hypothetische) Alternativverhalten wäre mithin nicht rechtmäßig. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass die Eltern des Klägers, wären sie korrekt informiert worden, nämlich dass die Untersuchung zum hypothetischen Geburtstermin (10.11.2016) stattfinden solle, sich nicht um einen Termin vor dem 24.11.2016 bemüht und einen solchen erhalten hätten, selbst wenn man ihnen ergänzend gesagt hätte, die Untersuchung müsse nicht taggenau stattfinden, sondern könne auch ein bis zwei Wochen später stattfinden. Derartiges darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, obliegt der Beklagten. Dazu ist indessen nichts weiter vorgetragen.

7. Die Beklagten haften damit dem Kläger für den eingetretenen immateriellen Schaden. Infolgedessen hat die Beklagte dem Kläger einen Schmerzensgeldbetrag i.H.v. 130.000,00 Euro zu zahlen.

Der Senat erachtet ein Schmerzensgeld i.H.v. 130.000,00 Euro für die fehlerbedingt eingetretene Beeinträchtigung der Sehkraft des Klägers als angemessen.

Die Beeinträchtigungen des Klägers erweisen sich als schwerwiegend. Das rechte Auge ist vollständig erblindet, das linke Auge hat eine hochgradige Sehbehinderung erlitten. Ihm ist lediglich noch bei starker Kontraständerung oder bei beleuchteten Gegenständen ein zielgerichtetes Greifen möglich. Der auf dieser Beeinträchtigung beruhende Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100%.

Dem Kläger sind damit alle beruflichen wie auch privaten Möglichkeiten, die ein ausreichendes Sehvermögen voraussetzen, genommen. Er ist ein Leben lang auf Hilfestellungen oder Nachteilsausgleich angewiesen. Auch wenn er ein Leben ohne Beeinträchtigung der Sehkraft nie gekannt und deshalb ein solches auch nicht verloren hat, ist ihm für immer die Möglichkeit genommen worden, ein solches zu führen.

Der Senat erachtet aufgrund der Schwere der Beeinträchtigungen ein Gesamtschmerzensgeld i.H.v. 130.000,00 Euro als angemessen (§ 287 ZPO). Ein solcher Wert fügt sich in das System ähnlich gelagerter gerichtlicher Entscheidungen ein:

a.) Das OLG Karlsruhe hat mit Urteil vom 11.03.1998 (7 U 214/96, Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch in: Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, SchmerzensgeldBeträge) für die Erblindung des rechten Auges und die Verminderung der Sehkraft des linken Auges auf etwa 60% infolge Frühgeborenenretinopathie einem Kleinkind ein indexiertes Schmerzensgeld i.H.v. 90.960,00 Euro zugesprochen.

b.) Das OLG Nürnberg hat mit Urteil vom 24.06.2005 (5 U 1046/04, Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch in: Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, SchmerzensgeldBeträge) einem Säugling für die Erblindung des rechten Auges durch nicht rechtzeitiges Erkennen einer Frühgeborenen-Retinopathie ein indexiertes Schmerzensgeld i.H.v. 110.012,00 Euro zugesprochen.

c.) Das OLG Stuttgart hat mit Urteil vom 03.02.2016 aufgrund eines groben Behandlungsfehler eines Augenarztes einem Säugling ein indexiertes Schmerzensgeld i.H.v. 238.469,00 Euro zugesprochen. Grundlage war, dass die in den Leitlinien für die Frühgeborenenretinopathie vorgesehenen Untersuchungsintervalle von ein bis maximal zwei Wochen massiv überschritten wurden. Deshalb erfolgte eine verspätete Vorstellung in der Universitätsaugenklinik. Dort wurde eine Linsentrübung festgestellt und bei einer Operation das Stadium 5 der Frühgeborenenretinopathie. Die dortige Klägerin ist auf Dauer erblindet (vgl. Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch in: Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, SchmerzensgeldBeträge).

Die Beeinträchtigungen im vorliegenden Einzelfall erachtet der Senat als schwerwiegender als in jenem Fall, den das OLG Karlsruhe zu entscheiden hatte, weil die Beeinträchtigung des zweiten Auges sich vorliegend als schwerwiegender erweist. Die Sehfähigkeit ist weit unter die Lesefähigkeit verringert, allenfalls zielgerichtetes Greifen bei bestimmten Lichtverhältnissen ist noch möglich. Auch die Beeinträchtigungen aus dem Urteil des OLG Nürnberg erweisen sich als leichter, weil dort nur ein Auge betroffen war. Hingegen erweisen sich die Folgen in dem Urteil des OLG Stuttgart als schwerwiegender, weil dort eine vollständige Erblindung auf beiden Augen eingetreten war.

In Abwägung der vorliegend eingetretenen Beeinträchtigungen und der vergleichbaren Entscheidungen erachtet der Senat ein Gesamtschmerzensgeld i.H.v. 130.000,00 Euro als angemessen.

8. Die Beklagte schuldet darüber hinaus in Bezug auf das Schmerzensgeld die beantragten Prozesszinsen, § 291 BGB.

9. Der Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht ist zulässig und begründet. Die nicht bestrittene klägerische Darlegung zukünftiger Schäden im Bereich von Verdienstausfall und Pflegemehraufwand rechtfertigt den Ausspruch in Bezug auf materielle Schäden. Angesichts der schweren Schädigung des im Wachstum befindlichen Klägers sind darüber hinaus derzeit nicht absehbare weitere immaterielle Schäden möglich.

10. Schließlich hat die Beklagte den Kläger von den vorgerichtlich entstandenen Rechtsverfolgungskosten freizustellen, die der Kläger i.H.v. 1.365,23 Euro beantragt hat.

III.

1. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

2. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.

3. Die Revision war zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO liegen aufgrund der divergierenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 29.10.2014 (3 U 55/14, juris) vor.

4. Der Streitwert beträgt 180.000,00 Euro.

Für den Antrag zu 1. ergibt sich dieser aus dem angemessenen Schmerzensgeld i.H.v. 130.000,00 Euro.

Für den Feststellungsantrag setzt der Senat 50.000,00 Euro an. Angesichts des Umstandes, dass die Klageschrift für den fehlerbedingt erblindeten Kläger mögliche zukünftige lebenslange Schäden im Bereich Pflege und Verdienst anführt (Bl. 17 Bd. I d.A.) und in der Vergangenheit bereits entstandenen Pflegemehrbedarf aufzeigt, sind erhebliche Schadenspositionen ernsthaft möglich.