Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 27.04.2021, Az.: 2 A 340/18

Ehrenmord; Gruppe, soziale; Iran; Vergewaltigung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
27.04.2021
Aktenzeichen
2 A 340/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70914
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Auch Frauen, die im Herkunftsland von Ehrenmord bedroht sind, können einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehören. Maßgeblich dafür sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Situation dieser Frauen im Herkunftsstaat.

2. Die im Iran der Gefahr eines Ehrenmordes durch Familienmitglieder ausgesetzten Frauen gehören einer sozialen Gruppe im Sinne der flüchtlingsrechtlichen Regelungen an. Die in § 3c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen sind erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, diesen Frauen Schutz vor der drohenden Verfolgung zu bieten; auch eine Fluchtalternative steht ihnen im Iran nicht zur Verfügung.

Tatbestand:

Die Klägerin ist nach eigenen Angaben iranische Staatsangehörige lurenischer Volkszugehörigkeit. Sie begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach ihren Angaben reiste die am D. 2000 geborene Klägerin etwa am 29. Februar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 9. März 2016 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag. Zur Begründung gab sie im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt am 17. April 2018 im Wesentlichen Folgendes an:

Ihre Eltern hätten sich scheiden lassen, als sie etwa eineinhalb Jahre alt gewesen sei. Zunächst habe sie bei ihrem Vater gelebt, nach dem 6. Lebensjahr zwei bis drei Jahre lang bei ihrer Großmutter, die im gleichen Dorf lebe wie ihr Vater, in E.. Danach habe sie zunächst zwei bis drei Jahre im Heim gelebt und dann bis zu ihrem 15. Lebensjahr bei ihrer Mutter. Ihre Schwester, die ebenfalls bei der Mutter gewohnt habe, habe 2017 nach einer Vergewaltigung Selbstmord begangen. Sie selbst habe den Iran am 21. Januar 2016 verlassen. Sie sei wegen ihres Vaters und seiner Familie sowie ihrer Onkel weggegangen. Ihr Vater sei drogenabhängig. Sie habe ihn nur ab und zu mal gesehen, er sei aber nie zu ihnen gekommen. Ihre Mutter habe ein eigenes Bekleidungsgeschäft gehabt und ihr die 8.000 Euro für die Ausreise gegeben.

Als sie 13 Jahre alt gewesen sei, habe sie eine Einladung nach E. erhalten; die Luren feierten bestimmte Tage. Sie habe dann einen Anruf von einem Jungen erhalten, der ihr gesagt habe, sie müsse seine Freundin werden. Er habe gedroht, die Fotos, die er von ihr habe, im Dorf zu verbreiten, wenn sie nicht seine Freundin würde. Auf dem Weg zur Einladung sei sie von einem Auto verfolgt worden. Zwei Personen seien ausgestiegen, hätten sie zu einem Mazda gebracht und ihr den Mund zugehalten. Sie hätten sie zu einer Mülldeponie außerhalb des Dorfes gebracht und vergewaltigt. Sie habe den Vorfall angezeigt, die Jugendlichen hätten den Richter jedoch bestochen. Sie seien freigesprochen worden. Danach sei sie wegen Rufschädigung verurteilt worden. Ihr Vater habe ihr gedroht, er werde sie lebendig begraben, wenn er sie erwische. Sie habe eine Ladung zum Gericht bekommen, die das Gericht zu ihrer Großmutter geschickt habe. Ihr Onkel mütterlicherseits habe die unterschrieben und zurückgesandt. Als sie davon erfahren habe, sei sie geflüchtet. Sie sei wegen Rufschädigung verurteilt worden.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, erkannte der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und forderte sie unter Fristsetzung und Androhung der Abschiebung in den Iran zur Ausreise auf. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Ausführungen der Klägerin seien unglaubhaft. Auch ein humanitäres Abschiebungsverbot komme nicht in Betracht, weil die Grundversorgung im Iran gesichert sei und dort noch Verwandte lebten, die die Klägerin unterstützen könnten.

Gegen diesen ihr am 27. Juni 2018 zugestellten Bescheid hat die Klägerin am 9. Juli 2018 Klage erhoben. Sie macht im Wesentlichen geltend, sie habe sich wegen der drohenden Inhaftierung und der anhaltenden Bedrohungslage durch ihren Vater und dessen Familie gezwungen gesehen, den Iran zu verlassen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 21. Juni 2018 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und vertieft ihre Ausführungen zu der aus ihrer Sicht gegebenen Unglaubwürdigkeit der Klägerin.

In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Klägerin informatorisch angehört und ihre Mutter als Zeugin vernommen. Wegen der Ergebnisse wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig, soweit er dem entgegensteht.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG ist einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und nicht die Regelungen des § 60 Abs. 8 AufenthG entgegenstehen. Flüchtling ist gemäß § 3 Abs. 1 AsyG, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet und für den nicht die Ausnahmeregelungen in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG gelten. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr.1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, dem Ausländer Schutz vor Verfolgung (§ 3d AsylG) zu bieten (Nr. 3). Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Absatz 1 Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn die Voraussetzungen des sogenannten internen Schutzes erfüllt sind, wenn er also in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).

Es ist Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel, dass der Ausländer die Tatsachen glaubhaft macht. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche, nicht überzeugend aufgelöste Widersprüche und Steigerungen (vgl. BVerwG, B. v. 12.9.1986 - 9 B 180/86 -, juris Rn. 5; U. v. 23.2.1988 - 9 C 273/86 -, juris Rn. 11).

Danach ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Das Gericht hat die Überzeugung gewonnen, dass ihr im Iran die Tötung – ein „Ehrenmord“ – durch ihren Vater und andere männliche Verwandte droht.

Die Klägerin ist im Iran von zwei ihr seinerzeit unbekannten Männern vergewaltigt worden und hat die Straftat angezeigt. Die Vergewaltiger sind jedoch nicht vom Gericht verurteilt worden. Stattdessen wurde ein Strafverfahren gegen die Klägerin eröffnet. Ihr Vater und andere männliche Verwandte haben die Klägerin beschuldigt, die Vergewaltiger „gereizt“ und die Ehre der Familie verletzt zu haben. Sie haben ihr gedroht, sie deswegen zu ermorden. Die dahin gehenden Angaben der Klägerin sind auch unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen hat, glaubhaft. Die Klägerin hat die Vorfälle in den einzelnen Verfahrensabschnitten im Wesentlichen einheitlich und ohne wesentliche Widersprüche dargestellt. In der mündlichen Verhandlung hat sie die Geschehnisse um die erlittene Vergewaltigung detailliert und sichtlich bewegt geschildert. Die in der mündlichen Verhandlung als Zeugin angehörte Mutter der Klägerin hat die Bedrohung durch den Vater, ihren früheren Ehemann, glaubhaft bestätigt. Die Zeugin hat substanziierte Angaben zu den Plänen ihres Ex-Mannes und anderer männlicher Verwandter gemacht, die ihr gegenüber geäußert worden seien.

Nach dieser Sachlage sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt.

Der Klägerin ist im Iran der Gefahr einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgesetzt, weil ihr Vater und andere männliche Verwandte wegen eines als Angriff auf die Familienehre bzw. die persönliche Ehre empfundenen Verhaltens zu Gewaltakten gegenüber der Klägerin bis hin zu ihrer Tötung entschlossen sind.

Ein Ehrenmord in diesem Sinne droht der Klägerin auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer als Zeugin angehörten Mutter sieht das Gericht keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit der vom Vater bzw. anderen männlichen Verwandten übermittelten Drohungen zu zweifeln. Dafür spricht insbesondere, dass der Vater nach den detaillierten und insgesamt überzeugenden Schilderungen der Klägerin und der Zeugin durch einen traditionellen Ehrbegriff geprägt und bereits in der Vergangenheit gegen Frauen gewalttätig geworden ist. Maßgeblich ist die tatsächliche Gefahrenlage, die sich daraus ergibt, dass sich der Vater der Klägerin und andere männliche Verwandte wegen der angenommenen Ehrverletzung als berechtigt ansehen, Gewaltdelikte gegen die Klägerin zu begehen.

Die Klägerin gehört auch einer Gruppe an, die als soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsätze 1 und 4 AsylG anzusehen ist. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Danach können auch Frauen, die im Herkunftsland von Ehrenmord bedroht sind, einer sozialen Gruppe im Sinne der dargestellten Regelungen angehören. Maßgeblich dafür sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Situation dieser Frauen im Herkunftsstaat (s. auch Marx, AsylG, 10. Aufl., § 3b Rn. 53 m.w.N. - generell für die Anerkennung als „soziale Gruppe“ -; VG Göttingen, Urteil vom 21.04.2020 - 2 A 917/17 -, juris Rn. 28 f. - regelmäßig verneinend für den Irak -).

Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falles gehört die Klägerin einer „sozialen Gruppe“ im Sinne der dargestellten gesetzlichen Regelungen an. Das Gericht kann offenlassen, ob die in § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG aufgeführten Merkmale stets kumulativ vorliegen müssen, obwohl die Regelung ausdrücklich vorsieht, dass eine soziale Gruppe „insbesondere“ dann anzunehmen ist, wenn beide Merkmale vorliegen. Im konkreten Fall sind beide Merkmale erfüllt.

Die im Iran der Gefahr eines Ehrenmordes durch Familienmitglieder ausgesetzten Frauen haben ein angeborenes Merkmal – ihr Geschlecht – gemein. Außerdem ist dieser Gruppe ein Hintergrund gemeinsam, der nicht verändert werden kann: Sie sind in Familien mit traditionellen Rollenbildern sowie darauf beruhenden männlichen Ehrvorstellungen aufgewachsen und sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihr angebliches, den tradierten Wertvorstellungen widersprechendes Verhalten diese Ehrvorstellungen verletzt zu haben. Diese Frauen sind Opfer eines in der Gesellschaft des Herkunftsstaates verbreiteten Ehr- und Rollenverständnisses, das den männlichen Mitgliedern der Familie das vermeintliche Recht einräumt, die Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln einzufordern, zu beurteilen, ob ein bestimmtes Verhalten als „regelkonform“ anzusehen ist, und angebliche Verstöße zu sanktionieren, bis hin zu schwersten Gewaltakten gegen diese Frauen. Dieser Hintergrund ist „unveränderlich“ im Sinne des Gesetzes, weil er auf tradierten, fest gefügten Rollen- und Wertvorstellungen beruht. Ob ein unveränderlicher Hintergrund auch dann noch bejaht werden kann, wenn die vorgebliche Ehrverletzung nach den konkreten gesellschaftlichen Gegebenheiten im Herkunftsstaat auf anderem Wege – beispielsweise durch die Vermittlung Dritter – behoben werden kann, kann hier offenbleiben. Dies ist für den vorliegenden Fall, in dem der Klägerin von den männlichen Familienmitgliedern im Ergebnis „Unzucht“ mit anderen Männern vorgeworfen wird, nicht ersichtlich. Im Übrigen gibt es nach den glaubhaften Darlegungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung keine Anhaltspunkte dafür, dass ihr Vater und die anderen männlichen Familienmitglieder, die sie bedroht haben, eine andere Möglichkeit der Reaktion auf die vorgebliche Ehrverletzung gesehen haben.

Die Gruppe der von Ehrenmord bedrohten Frauen, der die Klägerin zuzurechnen ist, hat im Iran auch eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. b AsylG). Für dieses sogenannte externe Merkmal genügt es, wenn die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als fest umrissene Gruppe wahrgenommen wird (ebenso Marx, a.a.O., § 3b Rn. 18). Die Wahrnehmung kann in der Form der Verfolgung stattfinden. Die Gruppe muss als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen. Maßgeblich ist die Sichtweise der Gesellschaft. Es kommt darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe aufgrund bestimmter diese gemeinsam prägender Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen wahrgenommen wird (vgl. zu allem: Marx, a.a.O., Rn. 21). Diese Voraussetzungen sind jedenfalls für die Gruppe der anlässlich einer Vergewaltigung von familiärem Ehrenmord bedrohten Frauen im Iran erfüllt.

Diese Frauen werden nicht nur von der sie bedrohenden Familie, sondern auch von der iranischen Gesellschaft als „andersartig“ betrachtet. Sie haben nicht nur familiäre, sondern auch gesellschaftliche Repressalien zu befürchten (vgl. Bundesamt für Asylwesen, Bericht vom 29.01.2021, S. 67). Die betroffenen Frauen haben kaum eine Möglichkeit, sich strafrechtlich gegen die ihnen widerfahrene Vergewaltigung zur Wehr zu setzen und zukünftige Übergriffe zu verhindern. Obwohl Vergewaltigung mit dem Tode bestraft wird, ist sie nach iranischem Recht kein eigenständiges Verbrechen. Stattdessen ist sie eine Unterkategorie des Verbrechens des Ehebruchs oder der Unzucht. Sexuelle Gewalt wird von den iranischen Behörden vielfach als Privatangelegenheit betrachtet (Iran Human Rights Documentation Center, Access to Justice for Victims of Sexual Violence in Iran, S. 5, 30). Für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung verlangt das Gesetz, dass vier muslimische Männer oder eine Kombination aus drei Männern und zwei Frauen oder zwei Männer und vier Frauen Zeuge einer Vergewaltigung waren (Iran Human Rights Documentation Center, a.a.O., S. 7). Die Frauen bringen sich mit dem Vorwurf der Vergewaltigung sogar selbst in Gefahr, denn eine Frau oder ein Mann, die oder der fälschlicherweise jemanden einer Vergewaltigung beschuldigt, kann selbst mit Peitschenhieben bestraft werden (US Department of State, Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019, 11.03.2020, S. 39). Hinzu kommt, dass alle sexuellen Beziehungen zwischen Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, nach iranischem Recht Straftaten sind. Wenn das Opfer nicht nachweisen kann, dass es sich bei der sexuellen Beziehung um eine Nötigung handelte, kann es sich somit ebenfalls strafrechtlicher Verfolgung aussetzen (Iran Human Rights Documentation Center, a.a.O., S. 7; zu allem ebenso bereits VG Braunschweig, Urteil vom 02.06.2020 - 2 A 616/17 -).

Die der Klägerin drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen auch an die Gruppenzugehörigkeit an. Sie drohen „wegen“ ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Dafür genügt es, wenn die Zugehörigkeit zur Gruppe ein wesentlich beitragender Faktor ist (ebenso Marx, a.a.O., § 3b Rn. 18). Dies ist hier der Fall. Die Verfolgung knüpft an ein angeblich ehrverletzendes Verhalten der Klägerin, den sexuellen Kontakt mit anderen Männern, ihren Vergewaltigern, und damit auch an ihr Geschlecht an. Die sie bedrohenden männlichen Familienmitglieder maßen sich an, das Verhalten der Klägerin als Frau nach ihren Maßstäben zu bewerten und sie für angebliche Verfehlungen zu bestrafen, um ihr „Ansehen“ als Männer nicht zu verlieren (im Ergebnis ebenso für Ehrenmorde Marx, a.a.O., § 3b Rn. 54 m.w.N.).

Die in § 3c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen sind erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Frauen wie der Klägerin Schutz vor der hier von nichtstaatlichen Akteuren drohenden Verfolgung zu bieten. Der im Herkunftsland verfügbare staatliche Schutz steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nur entgegen, wenn er wirksam ist (vgl. § 3 d Abs. 2 Satz 1 AsylG). Dazu muss der Herkunftsstaat in der Lage und willens sein, das Schutzsystem – mit den Mechanismen zur Ermittlung und Ahndung von Gefahren für die Betroffenen – so zu handhaben, dass die Gefahr der Verfolgung minimal ist (vgl. Marx, a.a.O., § 3d Rn. 27, 29). Ein in diesem Sinne wirksamer staatlicher Schutz gegen die der Klägerin drohenden Gefahren ist im Iran nicht gewährleistet. Männer, die ihre Ehefrauen oder Töchter im Iran töten, bleiben nach den Erkenntnissen von amnesty international straffrei (vgl. Report Iran 2020 vom 07.04.2021, Stichwort „Rechte von Frauen und Mädchen“). Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass ihnen dagegen effektiver staatlicher Schutz gewährt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.02.2021, S. 18). Dies wird auch durch die glaubhaften Angaben der als Zeugin angehörten Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Danach hat sich die Mutter der Klägerin wegen der Bedrohungen an die Polizei gewandt, um Anzeige zu erstatten; man habe sie aber nur als Lügnerin bezeichnet und beschimpft.

Interner Schutz – eine innerstaatliche Fluchtalternative – steht der Klägerin im Iran nicht zur Verfügung. Ehrenmorde werden vom iranischen Staat nicht wirksam unterbunden (s. oben). Diese Defizite bestehen landesweit, Ausweichmöglichkeiten für die betroffenen Frauen gibt es somit nicht (vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.02.2021, S. 19). In allen Teilen des Irans ist bei den staatlichen Organen die Auffassung verbreitet, dass die aus der Ehe hervorgegangene Tochter Eigentum des Vaters ist (VG Braunschweig, Urteil vom 02.06.2020, a.a.O.). Die Abschiebung von Ehrenmord bedrohter Frauen in den Iran setzt diese daher faktisch der Gefahr aus, von den Sicherheitskräften an ihre Familie ausgeliefert zu werden (s. auch Marx, a.a.O., § 3b Rn. 55 m.w.N.). Hinzu kommt für den vorliegenden Fall, dass die Klägerin als alleinstehende, unverheiratete Frau, von der die im Iran geltenden gesellschaftlichen Normen verlangen, dass sie im Schutz ihrer Familie oder eines männlichen Familienoberhaupts lebt (vgl. Bundesamt für Asylwesen, a.a.O., S. 66), und wegen der gegen sie erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe im Iran landesweit nicht in der Lage sein wird, ihre Identität zu verbergen und damit dem Zugriff der Sicherheitskräfte sowie der Auslieferung an ihre Familie zu entgehen.

Da der Klägerin nach allem die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen ist, ist auch die Abschiebungsandrohung rechtswidrig (vgl. § 34 Abs. 1 AsylG). Da kein Anlass mehr besteht für eine Entscheidung über subsidiären Schutz und über Abschiebungsverbote, ist der Bescheid auch hinsichtlich dieser Entscheidungen aufzuheben (vgl. § 31 Abs. 2 und 3 AsylG). Gleiches gilt für die Entscheidung des Bundesamtes zum Einreise-und Aufenthaltsverbot (vgl. § 11 AufenthG).