Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 28.09.1995, Az.: Ws 154/95
Beschwerde gegen Terminierungsverfügung; Nichtanberaumung eines Hauptverhandlungstermins; Eigenständige strafmildernde Bedeutung einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer; Verletzung des Beschleunigungsgebots; Grundsatzes der Terminshoheit des Vorsitzenden; Angemessenheit einer Verfahrensdauer
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 28.09.1995
- Aktenzeichen
- Ws 154/95
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1995, 17964
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:1995:0928.WS154.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 26.08.1993 - AZ: 36 KLs 800 Js 41509/91
Rechtsgrundlagen
- § 304 Abs. 1 StPO
- § 305 S. 1 StPO
- Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK
- § 213 StPO
- § 116 StPO
Fundstelle
- NStZ-RR 1996, 172-173 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Diebstahl
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Maßnahmen, die eine vom Urteil nicht umfasste, selbständige Beschwer eines Verfahrensbeteiligten bewirken und die insoweit vom erkennenden Gericht weder bei Erlass des Urteils noch auch im Rahmen einer Urteilsanfechtung nachprüfbar sind, bleiben selbständig anfechtbar.
- 2.
Im Rahmen einer strafgerichtlichen Terminsverfügung ist allein die Frage überprüfbar, ob der Vorsitzende sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und dadurch eine selbständige Beschwer für Prozessbeteiligte bewirkt hat, nicht aber die Zweckmäßigkeit einer Terminsbestimmung, was auch für den Fall der Nichtanberaumung eines Hauptverhandlungstermins gilt, da es auch hierbei zu so weit hinausgesetzten Terminen kommen kann, dass Ermessensfehler des Vorsitzenden zu besorgen sind.
- 3.
Das für Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot greift auch für den Fall, dass der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 Strafprozessordnung (StPO) ausgesetzt worden ist.
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts ...
am 28. September 1995 beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird festgestellt, daß die Nichtanberaumung eines Termins zur Hauptverhandlung durch das Landgericht ... - nachdem die Hauptverhandlung am 26. August 1993 ausgesetzt worden war - rechtswidrig ist.
Gründe
I.
Durch Anklage vom 15. Juni 1992 wirft die Staatsanwaltschaft den beiden Angeklagten in einer Vielzahl von Fällen den Diebstahl - teilweise in Wahlfeststellung mit Hehlerei - teilweise hochwertiger Kraftfahrzeuge vor. Diese Anklage ist am 25. Juni 1992 beim Landgericht ... eingegangen. Die Eröffnung des Hauptverfahrens ist am 01. März 1993 beschlossen und die Sache am 02. März 1993 für die Zeit vom 16. August bis 09. September 1993 (8 Verhandlungstage) terminiert worden. Bereits am 26. August 1993 ist die Hauptverhandlung zur Beiziehung der "kompletten Akten betreffend den gesondert verfolgten Zeugen ..." ausgesetzt worden. Ober das Ablehnungsgesuch des Angeklagten ... gegenüber dem Vorsitzenden der Strafkammer wurde in dem sich anschließenden (schriftlichen) Zwischenverfahren entschieden, das mit dem Beschluß vom 07. November 1994 beendet war. Die Sache ging dann durch entsprechenden Präsidiumsbeschluß des Landgerichts von der Zuständigkeit der 9. Großen Strafkammer in die Zuständigkeit der 6. Großen Strafkammer über. Auch seither ist die Sache wegen anderer vordringlicher Haftsachen nicht terminiert worden, da die Haftbefehle gegen die Angeklagten nach der Verbüßung von jeweils rund 4 Monaten Untersuchungshaft Anfang des Jahres 1992 außer Vollzug gesetzt worden waren. Da der Vorsitzende der 6. Großen Strafkammer angekündigt hat, daß wegen vordringlicher Haftsachen die vorliegende Sache nicht vor dem Jahre 1996 terminiert werden könne, hat die Staatsanwaltschaft "Untätigkeitsbeschwerde" eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist gem. § 304 Abs. 1 StPO zulässig. § 305 S. 1 StPO steht der Anfechtung nicht entgegen. Zwar unterliegen nach dieser Vorschrift Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen, insbesondere auch Terminsverfügungen des Vorsitzenden, grundsätzlich nicht der Beschwerde. Damit sind aber nur solche Entscheidungen gemeint, die im inneren Zusammenhang mit dem nachfolgenden Urteil stehen, ausschließlich seiner Vorbereitung dienen und keine weiteren Verfahrenswirkungen erzeugen (OLG Frankfurt StV 1990, 201; Gollwitzer in LR, StPO, 24. Aufl., § 305 Rdnr. 12; Kleinknecht/Meyer - Goßner, StPO, 42. Aufl., § 305 Rdnr. 1). Maßnahmen, die eine vom Urteil nicht umfaßte, selbständige Beschwer eines Verfahrensbeteiligten bewirken und die insoweit vom erkennenden Gericht weder bei Erlaß des Urteils noch auch im Rahmen einer Urteilsanfechtung nachprüfbar sind, bleiben selbständig anfechtbar (Gollwitzer in LR, a.a.O., Rdnr. 13). Überprüfbar ist im Rahmen einer Terminsverfügung aber nur die Frage, ob der Vorsitzende sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und dadurch eine selbständige Beschwer für Prozeßbeteiligte bewirkt hat, dagegen nicht die Zweckmäßigkeit einer Terminsbestimmung (Treier in KK, StPO, 3. Aufl., § 213 Rdnr. 6). Dies gilt nicht nur für Terminsverfügungen, sondern auch für die Aussetzung der Hauptverhandlung (Gollwitzer in LR, a.a.O., Rdnr. 17), für die Aufhebung eines Hauptverhandlungstermins (OLG Frankfurt, a.a.O.) oder auch für den Fall, daß der Termin so weit hinausgesetzt wird, daß er einer Aussetzung des Verfahrens gleichkommt (Gollwitzer in LR, a.a.O., Rdnr. 16). Dasselbe muß auch für die Nichtanberaumung eines Hauptverhandlungstermins gelten (Gollwitzer in LR, a.a.O., Rdnr. 17 unter Hinweis auf eine Entscheidung des OLG Nürnberg), da es auch hierbei - wie bei einer Aussetzung des Verfahrens - zu so weit hinausgesetzten Terminen kommen kann, daß Ermessensfehler des Vorsitzenden zu besorgen sind.
Eine selbständige Beschwer der Staatsanwaltschaft, die zum Ausschluß von § 305 S. 1 StPO gegeben sein muß, ist hier zu bejahen. Eine solche Beschwer kann bereits darin gesehen werden, daß einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommt (Pfeiffer in KK, a.a.O., Einl. Rdnr. 12 unter Hinweis auf BGH wistra 1992, 180). Es liegt aber auch im öffentlichen Interesse, daß die gegen einen Angeklagten erhobene Beschuldigungen in der den Schwierigkeiten der Beweisführung angemessenen Zeit der Klärung zugeführt werden (BGHSt 26, 228, 232) [BGH 22.10.1975 - 1 StE 1/74 a]. Es obliegt auch der Staatsanwaltschaft als öffentlichem Rechtspflegerorgan darüber zu wachen, daß gerichtliche Maßnahmen den Gesetzen entsprechen und der Angeklagte durch sie nicht benachteiligt wird (Ruß in KK, a.a.O., vor § 296 Rdnr. 6 unter Hinweis auf RGSt 60, 189, 191). Eine solche Benachteiligung kann darin gesehen werden, daß das Beschleunigungsgebot, für das auch Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK maßgebend ist (Pfeiffer in KK, a.a.O., Einl. Rdnr. 12), verletzt ist, weil über die Stichhaltigkeit der gegen den Angeklagten erhobenen Anklage nicht "innerhalb einer angemessenen Frist" entschieden wird. Eine Benachteiligung des Angeklagten kann weiterhin darin liegen, daß das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot verletzt ist, das auch dann eingreift, wenn der Haftbefehl gem. § 116 StPO außer Vollzug gesetzt ist (KG StV 1991, 473; OLG Köln StV 1988, 345; HansOLG Hamburg StV 1986, 66; Boujong in KK, a.a.O., § 112 Rdnr. 19).
III.
Die Beschwerde ist auch begründet. Das Terminierungsverhalten des Strafkammervorsitzenden ist wegen des Grundsatzes der Terminshoheit des Vorsitzenden nach § 213 StPO nur eingeschränkt dahin überprüfbar, ob er die rechtlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens eingehalten oder ob er sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat (OLG Frankfurt, a.a.O.; Treier in KK, a.a.O. § 213 Rdnr. 6). Eine solche Überschreitung des eingeräumten Ermessens ist hier festzustellen.
1.
Dies gilt zunächst schon deshalb, weil das besondere, für Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Wie bereits oben erwähnt, beansprucht das für Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot auch für den Fall Geltung, daß der Vollzug des Haftbefehls wie hier nach § 116 StPO ausgesetzt worden ist. Unter diesen Umständen war der jeweilige Vorsitzende der zuständigen Großen Strafkammer gehalten, nach der Aussetzung der Hauptverhandlung vom 26. August 1993 erneut so zu terminieren, daß in absehbarer Zeit mit der neuen Hauptverhandlung hätte begonnen werden können. Dies ist nicht geschehen, da nunmehr - nach Ablauf von über 2 Jahren - noch immer nicht terminiert ist. Auch das sich fast 5/4-Jahre hinziehende Zwischenverfahren zur Entscheidung über die Ablehnung des Vorsitzenden Richters war kein Grund, die Terminierung hinauszuschieben, da über dieses Ablehnungsgesuch umgehend hätte entschieden werden können. Ein weiterer Grund, das Beschleunigungsgebot im vorliegenden Fall nach erfolgter Aussetzung besonders ernst zu nehmen, bestand darin, daß die Sache zum Zeitpunkt des Aussetzungsbeschlusses bereits ein Jahr und zwei Monate beim Landgericht anhängig war. Die genannten Zeiträume stellen auch im Hinblick darauf eine ermessensfehlerhafte erhebliche Verfahrensverzögerung dar, daß die Haftbefehle außer Vollzug gesetzt waren (vgl. KG StV 1991, 473, das bei einem außer Vollzug gesetzten Haftbefehl eine weit über ein Jahr andauernde Verfahrensverzögerung beanstandet hat, und OLG Köln StV 1988, 345, das eine achtmonatige Verzögerung im Rahmen einer Haftprüfung nicht mehr hinnahm). Dem Senat ist zwar bekannt, daß die Terminierung bislang insbesondere wegen noch vordringlicherer anderer Verfahren unterblieb, in denen sich die Angeklagten in Untersuchungshaft befanden. Diese Tatsache entbindet aber die Strafkammer nicht von der Verpflichtung, das Verfahren gegen Angeklagte, denen Haftverschonung gewährt worden ist, ebenfalls in absehbarer Zeit durchzuführen, da auch für diese Fälle der Beschleunigungsgrundsatz gilt. Soweit eine Terminierung in angemessener Zeit wegen der Geschäftslage der Strafkammer nicht möglich erscheint, müßte durch eine modifizierte Geschäftsverteilung Abhilfe geschaffen werden.
2.
Der Beschleunigungsgrundsatz ist durch die vorliegenden erheblichen Verzögerungen auch in seiner allgemeinen - nicht für Haftsachen geltenden - Form verletzt.
Das Beschleunigungsgebot dient in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten (Pfeiffer in KK, a.a.O., Einl. Rdnr. 11) und ist, wie bereits erwähnt, insbesondere in Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK festgelegt. Die dort genannte "angemessene Frist", innerhalb derer über die Stichhaltigkeit der gegen den Angeklagten erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden ist, beginnt bereits mit der Bekanntmachung des Schuldvorwurfs, jedenfalls aber mit der Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls (BGH NStZ 1982, 291 [BGH 21.04.1982 - 2 StR 620/81], wobei auch dieser Entscheidung ein Fall mit später außer Vollzug gesetztem Haftbefehl zugrunde liegt), im vorliegenden Fall also bereits spätestens am 20. August 1991, dem Datum des Haftbefehls bzgl. des Angeklagten Anderfuhr, also bereits vor über vier Jahren.
Ganz allgemein liegt es aber auch im öffentlichen Interesse, daß die gegen einen Angeklagten erhobenen Beschuldigungen in der den Schwierigkeiten der Beweisführung angemessenen Zeit der Klärung zugeführt werden (BGHSt 26, 228, 232) [BGH 22.10.1975 - 1 StE 1/74 a]. Hierbei ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts das zentrale Anliegen des Strafprozesses. Ein alsbald und zügig durchgeführtes Strafverfahren wird diesem Ziel am besten gerecht. Regelmäßig sind anfangs noch alle Beweismittel präsent; vor allem die Erinnerungsbilder der Zeugen sind nicht abgeschwächt oder verfälscht (Pfeiffer in KK, a.a.O., Einl. Rdnr. 11 unter Hinweis auf Pfeiffer, Festschrift für Baumann, 1992, S. 329). In dieser Form kommt dem schleunigen Verfahren auch gerade "wahrheitssichernde Funktion" zu (BVerfGE 57, 250, 280 [BVerfG 26.05.1981 - 2 BvR 215/81]) [BVerfG 26.05.1981 - 2 BvR 215/81].
Die Einhaltung des Beschleunigungsgebots liegt auch deshalb im öffentlichen Interesse, da nur unter der Beachtung dieses Gebots der Täter einer tat- und schuldangemessenen Strafe zugeführt werden kann. Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nicht nur einer überlangen Verfahrensdauer strafmildernd Rechnung zu tragen, vielmehr bedarf es in Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einer ausdrücklichen Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebotes, weiterhin ist im Urteil darzulegen, in welchem Ausmaß dieser Umstand berücksichtigt worden ist (BVerfG NJW 1993, 3254; BGH StV 1993, 638; Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl., § 46 Rdnr. 35).
Schließlich dient der Beschleunigungsgrundsatz auch insoweit der Allgemeinheit, als es ihr nicht zuzumuten ist, die Kosten sich ungebührlich hinziehender Verfahren zu tragen (Treier in KK, a.a.O., vor § 226 Rdnr. 6). Diese Ausprägung des Beschleunigungsgrundsatzes ist im vorliegenden Fall in besonderer Weise berührt, da seit der gesamten bisherigen Verfahrensdauer monatliche Pkw-Standgeldkosten bis zu 345,00 DM angefallen sind und weiterhin anfallen.
3.
Die Angemessenheit einer Verfahrensdauer abstrakt zu definieren, ist kaum möglich, da erst die konkreten Umstände eines Falles Zeit und Verfahrenshandlungen in eine Relation zu bringen vermögen. Erst hieraus kann sich dann ein Urteil über die angemessene Dauer ergeben. Das Beschleunigungsgebot ist also relativ. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots liegt erst dann vor, wenn die bei einem pflichtgemäßen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden angemessenen Grenzen überschritten sind (Pfeiffer in KK, a.a.O., Einl. Rdnr. 11 unter Hinweis auf Peters, Der Strafprozeß, 4. Aufl., § 28 IV 6). Diese Grenze ist jedenfalls im vorliegenden Fall - unabhängig davon, daß es sich um eine Haftsache handelt - überschritten, da seit der Aussetzung der Hauptverhandlung inzwischen über zwei Jahre vergangen sind, ohne daß ein neuer Hauptverhandlungstermin anberaumt worden ist und stichhaltige verfahrensimmanente Gründe hierfür nicht ersichtlich sind.
IV.
Nach einhelliger Ansicht kann das Beschwerdegericht wegen des dem Vorsitzenden eingeräumten Ermessens den Termin nicht selbst festsetzen (Gollwitzer in LR, a.a.O., § 213 Rdnr. 17; Kleinknecht/Meyer - Goßner, a.a.O., § 213 Rdnr. 8; OLG Frankfurt, a.a.O.). Das Beschwerdegericht kann aber die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Terminierungsverhaltens des Vorsitzenden feststellen (vgl. Kleinknecht/Meyer - Goßner, a.a.O.; OLG Frankfurt, a.a.O.). Da vorliegend die Rechtswidrigkeit festzustellen war, ist zur Beschleunigung der Terminierung der vorliegenden Sache jede mögliche organisatorische Maßnahme auszuschöpfen, was insbesondere für Haftsachen gilt (BVerfGE 36, 264, 272 [BVerfG 12.12.1973 - 2 BvR 558/73]; Kleinknecht/Meyer - Goßner, a.a.O., Einl. Rdnr. 160).