Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 04.11.2015, Az.: S 42 AY 46/12

Ausschluss der Kürzung von Asylbewerberlleistungen für die Dauer des Folgeantragsverfahrens

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
04.11.2015
Aktenzeichen
S 42 AY 46/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 39750
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2015:1104.S42AY46.12.0A

Fundstelle

  • InfAuslR 2016, 200-201

Amtlicher Leitsatz

Bei einer Person, die einen Asylfolgeantrag gestellt hat, ist für die Dauer des Folgeantragsverfahrens eine Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG ausgeschlossen.

In dem Rechtsstreit
...
hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 4. November 2015 durch den Richter am Sozialgericht Gille sowie die ehrenamtlichen Richter Geistlich und Hartmann für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2012, abgeändert mit Bescheid vom 17. April 2013, verurteilt, den Klägern für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 Grundleistungen gemäß §§ 3 bis 7 AsylbLG nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 2/11) zu gewähren.

  2. 2.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3.

    Die Beklagte hat den Klägern % ihrer außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

  4. 4.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger erstreben die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 für sich selbst und den zwischenzeitlich verstorbenen Sohn.

Der 1978 geborene Kläger zu 1., seine 1982 geborene Ehefrau, die Klägerin zu 2. und ihr im August 2011 geborener Sohn, der Kläger zu 3., sind serbische Staatsangehörige, gehören nach eigenen Angaben der Volksgruppe der Roma an. Die Kläger zu 1. und 2. reisten gemeinsam mit ihrem 1998 geborenen Sohn im September 2010 erstmals in das Bundesgebiet ein. Ihre Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 09. Januar 2012 ab, und die dagegen erhobenen Klagen blieb erfolglos (vgl. Urteile des Verwaltungsgerichtes (VG) Braunschweig vom 04. Februar 2011 - 8 A 313/10 und 309/10 -). Daraufhin reisten die Kläger und ihr Sohn im März 2011 wieder aus dem Bundesgebiet aus.

Die Kläger und ihr Sohn reisten Ende September 2011 erneut in das Bundesgebiet ein und stellten am 04. Oktober 2011 den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, den das Bundesamt mit Bescheid vom 09. Januar 2012 ablehnte und keine Abschiebungshindernisse feststellte. Die Kläger zu 1. und 2. erklärten im Anhörungsverfahren übereinstimmend, dass Hauptgrund der Einreise gewesen sei, dass der erkrankte Sohn wegen der Wilson'schen Krankheit in Deutschland ärztlich behandelt werden solle. In Serbien gebe es keine Medikamente zur Behandlung dieser Erkrankung. Ansonsten hätten die Kläger in Serbien keine Probleme gehabt.

Der Aufenthalt der Kläger und des Sohnes im Bundesgebiet wurde daraufhin bei vollziehbarer Ausreispflicht geduldet.

Die Stadt Göttingen bewilligte den Klägern und dem Sohn mit Bescheid vom 14. November 2011 gekürzte Leistungen nach § 1a Nr. 1 AsylbLG für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 in Höhe von 865,22 Euro bzw. 1.128,53 Euro.

Dagegen legten die Kläger und der Sohn am 20. Dezember 2011 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01. März 2012 zurück wies und zur Begründung anführte, dass die Einreise zur Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversorgung durch den Leistungsträger des AsylbLG den Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG erfülle, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen. Die Kläger seien eingereist, um die Krankenversorgung des Sohnes sicherzustellen.

Dagegen haben die Kläger und der Sohn am 23. März 2012 Klage erhoben.

Sie tragen vor:

Die Voraussetzungen der Leistungseinschränkung seien nicht gegeben, weil diese für Leistungsberechtige im Asylfolgeverfahren gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 7 AsylbLG unzulässig sei. Die Kürzungsnorm sei restriktiv anzuwenden, und wirtschaftlich geprägte Gründe des Einreisemotivs seien nicht ausreichend. Die Einreise sei ausschließlich geprägt gewesen von der Angst um das Leben des Kindes. Im Übrigen sei die Leistungskürzung nach § 1a Nr. 1 AsylbLG verfassungswidrig. Mit dem Klageverfahren würden auch Leistungsansprüche des Sohnes verfolgt.

Die Beklagte änderte mit Bescheid vom 17. April 2013 die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 auf 1.034,46 Euro bzw. 1.361,51 Euro unter Kürzung des Bargeldbetrages ab und begründete dies mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 -.

Der Sohn ist zwischenzeitlich am 19. Mai 2013 verstorben.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2012, abgeändert mit Bescheid vom 17. April 2013, zu verurteilen, den Klägern und dem Sohn für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 Grundleistungen gemäß §§ 3 bis 7 AsylbLG in verfassungskonformer Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge, die zum Klageverfahren S 42 AY 115/13 vorlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat insoweit Erfolg, als die Kläger Anspruch auf Grundleistungen nach dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 für die streitige Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 haben.

Im Übrigen hat die Klage insoweit keinen Erfolg, als Leistungsansprüche des verstorbenen Sohnes für diesen Zeitraum verfolgt werden.

Der Bescheid der Beklagten vom 14. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2012, abgeändert mit Bescheid vom 17. April 2013, erweist sich im tenorierten Umfang als rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in eigenen Rechten. Der Bescheid vom 17. April 2013 ist gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden.

Die Kläger haben für die streitige Zeit Anspruch auf Gewährung von Grundleistungen gemäß §§ 3 bis 7 AsylbLG in Verbindung mit dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012. Die vorgenommene Kürzung nach § 1a Nr. 1 AsylbLG erweist sich im vorliegenden Einzelfall zur Überzeugung der Kammer als rechtswidrig.

Nach dieser Norm erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 und 5 und ihre Familienangehörigen nach § 1 Absatz 1 Nr. 6 AsylbLG, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.

Die Kläger waren in der Zeit vom 04. Oktober 2011 bis zum 08. Januar 2012 Beteiligte eines Asylfolgeverfahrens und damit im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Somit bestand eine Leistungsberechtigung nach § 1 Absatz 1 Nr. 7 AsylbLG, die den Kürzungstatbestand des § 1a AsylbLG nach dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut der Norm für die Dauer des Folgeantragsverfahrens ausschließt (vgl. Hohm, Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Loseblattsammlung, § 1a, Rd. 35; Wahrendorf, in Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, § 1a, Rd. 10).

Darüber hinaus wären jedoch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1a Nr. 1 AsylbLG zur Überzeugung der Kammer im vorliegenden Einzelfall erfüllt. Im Zeitpunkt der Einreise müsste es das prägende und bestimmende Motiv des Hilfesuchenden gewesen sein, Leistungen nach dem AsylbLG in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil des Landessozialgerichtes (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 18. Dezember 2007 - L 11 AY 60/05; Wahrendorf aaO., Rd. 11). In diesem Kontext ist von Amts wegen eine umfassende Einzelfallprüfung vorzunehmen, wobei sämtliche Erklärungen des Hilfesuchenden seit Beginn des Asylverfahrens zu berücksichtigen sind und das Verhalten der Eltern den minderjährigen Kindern zuzurechnen ist (vgl. Hohm aaO. § 1a, Rd. 43 bis 45).

Dies zugrunde gelegt, erfolgte die erneute Einreise der Kläger und des Sohnes im September 2011 zur Überzeugung der Kammer aus dem hauptsächlich wesentlichen Grund, eine medizinische Versorgung des Sohnes im Bundesgebiet sicherzustellen. Denn eine Behandlung der Erkrankung in Serbien war nicht möglich. Die Kammer stutzt sich bei der Einschätzung der Einreisemotivation auf die Angaben, welche die Kläger zu 1. und 2. bei Stellung des Asylfolgeantrags gegenüber dem Bundesamt getätigt haben. So erklärten sie, dass sie ins Bundesgebiet gekommen seien, damit der Sohn geheilt werde. Hauptgrund der Einreise sei die Sorge um das Kind.

Den bei der Einreise mittellosen Klägern musste klar sein, dass die Krankenversorgung nur vom Leistungsträger des AsylbLG finanziert werden konnte, da sie ohne eigene finanzielle Mittel waren und über keinen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz verfügten. Auch wenn die Sorge um die Gesundheit des Kindes Einreisemotiv war, musste den Klägern gleichzeitig bewusst sein, dass die Krankenbehandlung nur aus staatlichen Mitteln finanziert werden konnte. Damit ist der Finalzusammenhang zwischen Einreise und Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG erfüllt, zumal die Kläger angaben, dass sie ansonsten keine Probleme in Serbien gehabt hätten, insbesondere nicht staatlich verfolgt waren.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anwendung des § 1a Nr. 1 AsylbLG bestehen zur Überzeugung der Kammer nicht. Denn das BVerfG hat festgestellt, dass der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch sich auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bezieht, das heißt auf die zur physischen Existenz des Menschen notwendige Bedarfe, wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Barbetrag ist lediglich für soziokulturelle Ansprüche für Freizeit, Unterhaltung, Kultur, Beherbergungs- und Gaststättenleistungen bestimmt, deren Kürzung auch in Ansehung des Urteils des BVerfG in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung statthaft ist.

Die Kläger zu 1. und 2. können die Leistungsansprüche des Sohnes nicht wirksam für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 geltend machen, weil diese nicht im Wege der Rechtsnachfolge auf sie übergegangen sind.

Die Fortführung des Klageverfahrens ist insoweit nicht zulässig, weil die geltend gemachten Leistungsansprüche nicht gemäß §§ 56 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I), 1922 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auf sie übergangen sind.

Die Kläger zu 1. und 2. sind als Gesamtrechtsnachfolger des im Verlauf des Klageverfahrens am 19. Mai 2013 verstorbenen Leistungsberechtigten nicht berechtigt, die Klageansprüche auf Gewährung von Grundleistungen gemäß §§ 3 bis 7 AsylbLG nach dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 geltend zu machen.

Die Kammer schließt sich den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) vom 10. Mai 1979 - V C 79.77 - und 31. August 1966 - V C 162.65 - an, nach denen Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen nur in Ausnahmefällen vererblich sind. Diese Rechtsprechung ist zur Überzeugung der Kammer auf Ansprüche nach dem AsylbLG übertragbar, weil es sich auch dabei um Fürsorgeleistungen handelt (vgl. Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 2011 - L 20 AY 28/08 -). Demnach endet die Anspruchsberechtigung des Verstorbenen mit dem Tag nach dessen Tod.

Zur Überzeugung des Gerichtes stellt ein durchgreifendes Argument gegen die Vererblichkeit von Leistungsansprüchen nach dem AsylbLG dar, dass die Universalsukzession wegen der Höchstpersönlichkeit des Charakters der jeweiligen Leistung ausscheidet. Denn nach dem Tode des Leistungsberechtigten kann aufgrund des Zeitablaufes der Zweck der Leistung zur

Deckung einer akuten Notlage nicht mehr erreicht werden. Dies gilt insbesondere für den vorliegenden Einzelfall, in dem höhere Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit vom 08. November bis zum 31. Dezember 2011 erstrebt werden.

Ein Ausnahmefall im Sinne der zitierten Rechtsprechung liegt nicht vor, da (unstreitig) nicht ein Dritter im Vertrauen auf die spätere Leistungsbewilligung den Bedarf des Sohnes in

Vorleistung gedeckt hat, weil der Grundsicherungsträgers nicht rechtzeitig geleistet oder Hilfe abgelehnt hätte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer der Beteiligten (Kürzung der Barbeträge) jeweils unterhalb des Schwellenwertes von 750,- Euro liegt. Die Berufung ist zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder von einer Entscheidung des (zuständigen) LSG, des Bundessozialgerichtes, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe oder des BVerfG abweicht sowie auf dieser Abweichung beruht. Die Berufung wird zugelassen, weil dem Rechtsstreit mit der Rechtsfrage der Anwendbarkeit des § 1a Nr. 1 AsylbLG grundsätzliche Bedeutung zukommt.