Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 09.03.2021, Az.: 1 Ws 44/21

Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung; Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Organisationshaft; Anforderungen an Prüfpflicht nach § 67c StGB; Prüfpflicht bei Unterbringungen nach § 64 StGB

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
09.03.2021
Aktenzeichen
1 Ws 44/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 41853
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 30.12.2020 - AZ: 17 StVK 666/20 M

Fundstelle

  • StV 2022, 316-317

Amtlicher Leitsatz

Organisationshaft während des Zeitraumes, welcher erforderlich ist, um im Falle der Anordnung des Vorwegvollzuges eines Teils der Strafe neben der Anordnung einer Unterbringung nach den §§ 63 oder 64 StGB gem. § 67 Abs.2 StGB eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer gem. § 67c StGB darüber herbeizuführen, ob der Zweck der Maßregel die Unter-bringung noch erfordert, erweist sich auch dann als rechtmäßig, wenn der vorweg zu vollziehende Teil der Strafe aufgrund der Anrechnung von Untersuchungshaft bereits derart weitgehend aufgezehrt ist, dass eine Entscheidung vor Ablauf des Vorwegvollzuges nicht mehr herbeigeführt werden kann.

Redaktioneller Leitsatz

1. Das schutzwürdige Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Organisationshaft bleibt bestehen, auch wenn zwischenzeitlich eine Verlegung in den Maßregelvollzug stattgefunden hat.

2. Die Vollstreckung der Organisationshaft ist rechtmäßig, weil der Zweck der Unterbringung noch besteht.

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 30. Dezember 2020,

durch den festgestellt wurde, dass die den Verurteilten betreffende Organisationshaft in dem Zeitraum vom 15. September 2020 bis zum 27. Oktober 2020 unzulässig war und der Antrag des Verurteilten im Übrigen zurückgewiesen wurde,

wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Das Landgericht Oldenburg hatte am 8. Juni 2020 gegen den Verurteilten wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in vier Fällen und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 27 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt und daneben die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Darüber hinaus hat es einen Vorwegvollzug von sechs Monaten angeordnet. Wegen der weiteren Einzelheiten - auch hinsichtlich der getroffenen Einziehungsentscheidung und der der Verurteilung zugrundeliegenden Taten - wird auf die Urteilsgründe Bezug genommen.

Der Verurteilte hat sich aus Anlass des Verfahrens seit dem 10. Dezember 2019 in Untersuchungshaft befunden. Das Urteil vom 8. Juni 2020 wurde am 16. Juni 2020 rechtskräftig.

Mit Verfügung vom 8. Juli 2020 wurde die Vollstreckung eingeleitet und auch ein Aufnahmeersuchen an die Zentrale Belegungsstelle im Maßregelvollzugszentrum übersandt. Der Eingang desselbigen wurde von dort aus unter dem 14. Juli 2020 bestätigt und mitgeteilt, dass ein Aufnahmetermin des Verurteilten nicht genannt werden könne, in der Warteliste belege er den Platz 40.

Die Staatsanwaltschaft holte am 16. Juli 2020 eine Stellungnahme der JVA Oldenburg, in der sich der Verurteilte seinerzeit in Organisationshaft befand, zu der Frage ein, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erforderte (§ 67c StGB). Diese ging am 28. Juli 2020 bei der Staatsanwaltschaft ein und wurde mit Verfügung vom 4. August 2020 mit dem Vollstreckungsheft an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen zur Entscheidung weitergeleitet. Mit Beschluss vom 25. August 2020 stellte die Strafvollstreckungskammer fest, dass der Zweck der angeordneten Maßregel die Unterbringung noch erforderte.

Das Maßregelvollzugszentrum teilte mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 mit, dass die Aufnahme des Verurteilten zum 27. Oktober 2020 erfolgen könne.

Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2020 hat der Verurteilte - vertreten durch seinen Verteidiger - gemäß § 458 Abs. 1 StPO die gerichtliche Entscheidung mit dem Antrag begehrt, die gegenwärtige Form der Freiheitsentziehung für unzulässig zu erklären und den Verurteilten zu entlassen. Der Verurteilte hat sich dabei im Wesentlichen auf die seiner Auffassung nach verfassungswidrige Dauer der Organisationshaft berufen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den vorgenannten Schriftsatz.

Der Verurteilte wurde am 27. Oktober 2020 in das Maßregelvollzugszentrum (...), und von dort am 19. November 2020 in das (...) verlegt, wo die Maßregel seither vollstreckt wird.

Mit Verteidigerschriftsatz vom 6. November 2020 hat der Verurteilte seinen Antrag vom 23. Oktober 2020 in der Hauptsache für erledigt erklärt und die Feststellung beantragt, dass die Organisationshaft vom 16. Juni 2020 bis zum 27. Oktober 2020 rechtswidrig gewesen sei.

Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat mit Verfügung vom 21. Dezember 2020 beantragt, den Antrag zurückzuweisen, da nach ihrer Auffassung in dem Vollstreckungsheft ausreichende Bemühungen dokumentiert seien, eine beschleunigte Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug sicherzustellen.

Mit Beschluss vom 30. Dezember 2020 hat die Strafvollstreckungskammer festgestellt, dass die Organisationshaft im Zeitraum vom 15. September 2020 bis zum 27. Oktober 2020 unzulässig war. Im Übrigen hat sie den Antrag des Verurteilten zurückgewiesen. Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 12. Januar 2021, die sein Verteidiger mit Schriftsatz vom 12. Februar 2021 begründet hat.

II.

Die nach §§ 458, 462 StPO zulässige, insbesondere fristgemäße, sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

1.

Der Verurteilte hat nach Erledigung seines ursprünglichen Antrages infolge der zwischenzeitlichen Verlegung in den Maßregelvollzug unter Berücksichtigung des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG trotz prozessualer Überholung ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene Organisationshaft rechtswidrig war (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. September 2005 - 2 BvR 1019/01 für die Verfassungsbeschwerde; OLG Hamm, Beschluss vom 07. Mai 2019 - III-1 Ws 209/19 m.w.N.; jeweils zitiert nach juris).

2.

Die Vollstreckung von Organisationshaft erweist sich hier allerdings für den Zeitraum vor dem 15. September 2020 - nur hierüber hat der Senat angesichts der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zu befinden - nicht als rechtswidrig.

Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG kann die Freiheit von Personen nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Form beschränkt werden. Die unterschiedlichen Zwecke der Maßregel der Besserung und Sicherung einerseits und der Freiheitsstrafe andererseits finden unter anderem in der Regelreihenfolge des Vorwegvollzugs der Maßregel einen gesetzlichen Ausdruck. Die Organisationshaft bereitet zum Zweck der Nutzung der "therapeutisch fruchtbaren Zeit" die nach der gesetzlichen Regelreihenfolge und dem richterlichen Erkenntnis vorweg zu vollziehende Maßregel vor und erweist sich in Rahmen des insoweit Erforderlichen als zulässig. Soweit die Vollstreckungsbehörde die Überstellung des Verurteilten in den Maßregelvollzug nicht unverzüglich in Umsetzung des gerichtlichen Rechtsfolgenausspruchs einleitet und herbeiführt, führt die Durchführung einer Organisationshaft zu einer gesetzeswidrigen und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechenden Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge (vgl. BVerfG a.a.O.). Die zulässige Dauer der Organisationshaft kann nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung der Bemühungen der Strafvollstreckungsbehörde um eine beschleunigte Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug bestimmt werden (MüKoStGB/Maier, 4. Aufl., StGB § 67 Rn. 132).

Unter Beachtung dieser Maßstäbe war die Vollstreckung der Organisationshaft jedenfalls nicht während des Zeitraums vor dem 15. September 2020 zu beanstanden. Denn aufgrund der Anordnung des Vorwegvollzugs, bei der die bereits erlittene Untersuchungshaft außer Betracht zu bleiben hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2011 - 2 StR 376/11, BeckRS 2011, 26344) war nach § 67c StGB zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung weiterhin erfordert (MüKoStGB/Veh, 4. Aufl., StGB § 67c Rn. 5). Dass die Anordnung der Unterbringung im ersten Rechtszug zu diesem Zeitpunkt erst weniger als drei Monate zurücklag, macht die Prüfung nach der eindeutigen gesetzlichen Konzeption nicht entbehrlich. So hat der Gesetzgeber in § 67c Abs. 1 Satz 2 StGB lediglich für den Fall, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung weniger als ein Jahr vor dem Ende des Vollzuges der Strafe angeordnet worden ist, das Erfordernis einer Prüfung nach § 67c Abs. 1 Satz 1 StGB verneint. Für den Fall der Unterbringung nach § 64 StGB fehlt eine solche Ausnahme, sodass es hier bei der Prüfungspflicht verbleibt. Diese wird jedenfalls grundsätzlich auch durch einen nur teilweisen Vorwegvollzug der Strafe ausgelöst (vgl. Rissing-van-Saan/Peglau in Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 12. Aufl., § 67c Rn. 26; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 67c Rn. 3; Schönke/ Schröder/Kinzig, 30. Aufl., StGB § 67c Rn. 4; MüKoStGB/Veh a.a.O. Rn. 6). Ob insoweit eine Einschränkung dahingehend geboten ist, dass über den Wortlaut der Vorschrift hinaus als ungeschriebene Voraussetzung des § 67c Abs.1 StGB eine Aussetzungsfähigkeit des Strafrestes i.S.d. § 57 StGB gegeben sein muss (so Kammeier/Pollähne in: Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl. 2018, L 193; SK-Sinn, 9. Aufl., § 67c Rn. 2; a.A.: MüKoStGB/Veh a.a.O. Rn. 6), kann vorliegend dahinstehen. Denn selbst wenn es aus diesem Grund an einer Prüfpflicht fehlen sollte, folgt daraus kein Prüfverbot (vgl. MüKoStGB/Veh a.a.O. Rn. 23). Da die genannte Streitfrage in der Rechtsprechung soweit ersichtlich vollkommen ungeklärt ist, war die Staatsanwaltschaft in jedem Fall gehalten, die Sache der Strafvollstreckungskammer vorzulegen. Dass diese gemäß § 67c StGB mit Beschluss vom 25. August 2020 in der Sache entschieden hat, war vor dem Hintergrund des offenen Meinungstandes jedenfalls vertretbar, sodass die hierdurch hervorgerufene Verzögerung nicht rechtswidrig war.

Erst ab Rechtskraft dieser Entscheidung, die hier am 23. September 2020 eingetreten ist, schließt sich die die Organisationshaft rechtfertigende Organisationsphase an, sodass jedenfalls die zuvor vollstreckte Organisationshaft nicht beanstandet werden kann, zumal es auch im Vorfeld nicht zu maßgeblichen Verzögerungen gekommen ist.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.