Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 23.07.1985, Az.: 1 Ws 92/85

Möglichkeit der Beschwerde gegen einen dem Besetzungseinwand des Angeklagten stattgebenden Beschluss; Befugnis des Gerichts zur Beendigung der Hauptverhandlung bei fehlerhafter Besetzung des Gerichts im Fall des gesetzlichen Ausschlusses der Besetzungsrüge; Anforderungen an die Mitteilung der fehlerhaften Besetzung nach Vernehmung des Angeklagten; Schriftformerfordernis der Besetzungsmitteilung; Fehlerhafte Auslosung der Schöffen bei Fehlen einer einheitlichen Schöffenliste für das Schwurgericht und die Strafkammern

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
23.07.1985
Aktenzeichen
1 Ws 92/85
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1985, 10434
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1985:0723.1WS92.85.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AZ: Zs 210/85
StA ... - AZ: 11 Js 1756/85

Verfahrensgegenstand

Rechtsbeugung u.a.

In dem Ermittlungsverfahren
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
den Antrag des Rentners ... aus ... auf Ablehnung des an der Entscheidung des Senats vom 19. April 1985 beteiligten Richter wegen Besorgnis der Befangenheit am 23./Juli 1985
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... sowie
der Richter am Oberlandesgericht ... und ...
beschlossen:

Tenor:

Der Antrag wird verworfen.

Gründe

1

Durch Beschluß vom 19. April 1985 hat der Senat den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 StPO gegen den Bescheid des Generalstaatsanwaltes vom 12.3.1985 verworfen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot. Der Antragsteller lehnt nunmehr mit Schriftsatz vom 16. Juli 1985 die an der Entscheidung beteiligten Richter VRiOLG ..., RiOLG ... und RiAG ... wegen Besorgnis der Befangenheit ab und trägt zur Begründung lediglich vor, der Beschluß sei "völlig unbegründet" gewesen.

2

Angeklagten wird vorgeworfen, auf dem Evakuierungsmarsch der Auschwitz-Häftlinge zwischen dem 20. und dem 25.1.1945 in der Nähe von Rybnik bei Gleiwitz mehrere Häftlinge erschossen zu haben. Bereits in dem früheren - vom Bundesgerichtshof auf Revision aufgehobenen - Urteil des Schwurgerichts vom 13.7.1979 waren nicht nur solche Tötungen festgestellt worden, sondern auch die Voraussetzungen des § 211 StGB (niedrige Beweggründe). Nach den aufgehobenen Feststellungen war der Angeklagte nämlich dabei sehr eifrig bzw. "übereifrig" und führte "etwa zwei- oder dreimal nach einer derartigen Tötung eine Art "Indianertanz" auf, wobei er sich mit dem erhobenen Gewehr in beiden Händen um seine Längsachse drehte; nach der Erschießung eines Häftlings, des Regisseurs Georg Graf, der nicht mehr weitergehen konnte, war er "sehr fröhlich über seinen Erfolg" und "hüpfte so ein bißchen zufrieden vor sich hin".

3

Die neue Hauptverhandlung begann am 15.12.1981. Sie ist bis zum 5.3.1991 fortgesetzt worden. Im Anschluß daran hat das Schwurgericht - außerhalb der Hauptverhandlung - den angefochtenen Beschluß vom 14.3.1991 erlassen, demzufolge es in der Person der Schöffen ... und ... nicht vorschriftsmäßig besetzt sei. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hiergegen hat keinen Erfolg.

4

II.

1.

Der Senat neigt dazu, die Beschwerde trotz der Beschränkung durch § 305 StPO als zulässig anzusehen. Nach dieser Bestimmung unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorangehen, nicht der Beschwerde. Hieraus wird überwiegend der Schluß gezogen, daß auch der einem Besetzungseinwand des Angeklagten stattgegebende Beschluß keiner Beschwerde unterliege (vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., § 222 b Rdz. 15; LR-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl. § 222 b Rdz. 42; KK-StPO-Treier, 2. Aufl., § 222 b Rdz. 17; KMR-Paulus, 7. Aufl., § 222 b Rdz. 31). Vorliegend hat das Schwurgericht seine Entscheidung allerdings nicht in erster Linie auf den mit Schriftsatz vom 5.3.1991 angebrachten Besetzungseinwand des Angeklagten gestützt, sondern von Amts wegen entschieden. Für eine derartige Fallgestaltung hält das KG (MDR 1980, 688) die Beschwerde für gegeben. Der Senat teilt diese Auffassung. Der angefochtene Beschluß hat nämlich zur Folge, daß die Hauptverhandlung nicht fortgesetzt werden kann, diese also keine Urteilsfällung mehr ermöglicht. Deshalb gehört die Entscheidung nicht zu denjenigen, "die der Urteilsfällung vorausgehen" und für die die Beschwerde ausgeschlossen ist. Man könnte allerdings meinen, daß die Entscheidung zugleich der Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung in dann richtiger Besetzung diene und damit dennoch der Urteilsfällung vorausgehe, was die Beschwerde ausschließen würde. Dies ist indes nur eine mittelbare Wirkung des angefochtenen Beschlusses, während seine unmittelbare Wirkung darin besteht, daß die Hauptverhandlung beendet ist und nicht fortgesetzt werden kann.

5

Im Hinblick auf die gebotene einschränkende Auslegung des § 305 StPO (vgl. KK-StPO-Engelhardt, 2. Aufl., § 305 Rdz. 5) wird hier die Zulässigkeit der Beschwerde nicht verneint werden dürfen.

6

2.

Sachlich kann die Beschwerde keinen Erfolg haben. Der Senat ist zwar im Gegensatz zu der vorerwähnten Entscheidung des KG (MDR 1980, 688; ebenso Rieß JR 1981, 93; Vogt/Kurth NJW 1985, 105 [BGH 21.09.1984 - 2 StR 327/84]) der Auffassung, daß die Befugnis des Gerichts, eine Hauptverhandlung wegen seiner eigenen fehlerhaften Besetzung zu beenden, im Falle des gesetzlichen Ausschlusses der Besetzungsrüge durch die Verfahrensbeteiligten ebenfalls endet (vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl. § 222 b Rdz. 38; Wagner JR 1980, 54; Boergen MDR 1980, 619 [KG Berlin 09.01.1980 - 2 Ws 347/79]). Vorliegend ist jedoch keine Rügepräklusion eingetreten, weil deren gesetzliche Voraussetzung nach § 222 a StPO nicht vorliegt.

7

Der Besetzungseinwand kann gem. § 222 b StPO nach Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache nur dann nicht mehr geltend gemacht werden, wenn den Beteiligten die Besetzung des Gerichts in der durch § 222 a StPO vorgesehenen Weise mitgeteilt worden ist. Das ist hier versäumt worden.

8

Der Vorsitzende des Schwurgerichts hatte am 4.8.1981 Termin zur Hauptverhandlung zunächst auf den 17.11.1981 und weitere Tage anberaumt. Für diese Hauptverhandlung hat zwar die Geschäftsstelle des Schwurgerichts eine Besetzungsmitteilung verfügt. Ob das von dem Vorsitzenden des Schwurgerichts mündlich angeordnet war, kann jedoch dahinstehen, denn jedenfalls ist diese Anordnung gegenüber der Staatsanwaltschaft nicht ausgeführt worden. Außerdem ist es bei dem Termin zur Hauptverhandlung am 17.11.1981 nicht geblieben. Der Beginn der Hauptverhandlung hat auf den 15.12.1981 verlegt werden müssen. Das ist durch Verfügung des Schwurgerichtsvorsitzenden vom 12.9.1981 geschehen. Die Besetzungsmitteilung war deshalb zu erneuern (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 222 a StPO BT-Drs. 8/976 S. 46; KK-StPO-Treier, 2. Aufl., § 222 a Rdz. 3), selbst wenn es das Ergebnis der Auslosung war, daß dem Schwurgericht für den 15.12.1981 wieder dieselben Schöffen zugeteilt waren wie für den 17.11.1981.

9

Einem Vermerk des damaligen Vorsitzenden des Schwurgerichts vom 30.8.1990 zufolge hat dieser allerdings am 15.12.1981 vor Sitzungsbeginn den Verteidigern und dem Staatsanwalt die Besetzung des Gerichts bekanntgegeben, insbesondere die Verhinderung einer Hauptschöffin und die Heranziehung der Hilfsschöffin ... Diese Mitteilung entsprach indes nicht den Erfordernissen des § 222 a StPO. Sie ist nach der Äußerung des Staatsanwalts gesprächsweise auf dem Gerichtsflur gemacht worden. Sie hätte aber außerhalb der Hauptverhandlung schriftlich geschehen müssen. Der Senat folgt in diesem Punkte der einhelligen Auffassung des Schrifttums (vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl. § 222 a Rdz. 8; KK-StPO-Treier, 2. Aufl., § 222 a Rdz. 7; KMR-Paulus, 7. Aufl., § 222 a Rdz. 12; Kleinknecht-Meyer, StPO, 39. Aufl., § 222 a Rdz. 10). Hiervon geht auch die Begründung des am 5.10.1978 erlassenen Strafverfahrensänderungsgesetzes 1979 aus, durch das die Regelungen der §§ 222 a, 222 b StPO eingeführt worden sind (BT-Drs. 8/976 S. 46 f). Schriftform ist, wenn die Mitteilung außerhalb der Hauptverhandlung erfolgt und deshalb nicht als wesentliche Förmlichkeit i.S. des § 273 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll beurkundet wird, unabweisbar, und zwar eben weil die Besetzungsmitteilung wegen ihrer Präklusionswirkung außerordentlich weitreichende Folgen hat. Sie ersetzt einen sonst in der Hauptverhandlung als wesentliche Förmlichkeit zu beurkundenden Vorgang (vgl. LR-Gollwitzer, 24. Aufl. § 222 a Rdz. 8). Sein Nachweis kann nicht den Unsicherheiten einer Beweiserhebung überlassen bleiben. Vorliegend sind solche Unsicherheiten besonders augenfällig, weil Staatsanwalt und Verteidiger die Darstellung des damaligen Vorsitzenden des Schwurgerichts bestreiten und erklären, die Mitteilung habe sich auf die Auswechselung einer verhinderten Schöffin durch die Hilfsschöffin ... beschränkt.

10

Zu Beginn der Hauptverhandlung am 15.12.1981 ist die Besetzungsmitteilung nicht nachgeholt worden. Der Protokollentwurf ergibt hierüber nur, daß allein die Verhinderung einer Hauptschöffin und der Eintritt der Hilfsschöffin mitgeteilt worden sind. Ein Hinweis darauf, daß es sich im übrigen um dieselbe Besetzung handelte, wie sie für den 17.11.1981 vorgesehen war, fehlt im Protokollentwurf. Diese Übereinstimmung war im Hinblick auf die Auslosung nach § 77 GVG auch nicht selbstverständlich.

11

Ist demgemäß ein Ausschluß der Besetzungsrüge nicht eingetreten, so konnten die Verteidiger noch am 5.3.1991 gegen die Besetzung des Schwurgerichts Einwände erheben. Auch von einer Verwirkung dieses Rechts kann nicht gesprochen werden. Wie dem Senat bekannt ist, ist die fehlerhafte Besetzung des Schwurgerichts und der Strafkammern des Landgerichts ... durch Schöffen erst im Juli 1990 in einem anderen Strafverfahren zutage getreten.

12

3.

Tatsächlich ist das Schwurgericht seit Beginn der Hauptverhandlung mit den Schöffen ... und ... fehlerhaft besetzt. Der Präsident des Landgerichts ... hatte am 27.11.1980 die Schöffen nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechend ausgelost. Die Auslosung war in zwei Punkten fehlerhaft.

13

Erstens wurde entgegen der durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vorgenommenen Änderung des § 77 GVG keine einheitliche Schöffenliste für das Schwurgericht und die Strafkammern aufgestellt, aus der die Hauptschöffen für die einzelnen ordentlichen Sitzungen ausgelost wurden, sondern es wurde weiterhin entsprechend dem bis zum 31.12.1978 geltenden Rechtszustand aus getrennten Schöffenlisten ausgelost. Damit entstammten weder der Schöffe ... noch die am 15.12.1981 verhinderte Hauptschöffin dem Kollektiv, das der Auslosung zugrundezulegen war. Derselbe Fehler ist bei der Aufstellung der Hilfsschöffenliste gemacht worden. Die herangezogenen Schöffen waren schon aus diesem Grunde nicht die gesetzlichen Richter (vgl. BGH NJW 1986, 1356; Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl., § 77 GVG Rdz. 2; LR-Schäfer, StPO, 24. Aufl. § 77 GVG vor Rdz. 1; KK-StPO-Mayer, 2. Aufl., § 77 GVG Rdz. 1; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 77 Rdz. 1).

14

Zweitens war die Auslosung vom 27.11.1980 in dem weiteren Punkt fehlerhaft, als nicht alle gewählten Schöffen, die in der Liste der Hauptschöffen (für das Schwurgericht) zusammengestellt waren, von der Auslosung auf Sitzungstage erfaßt wurden, sondern statt der gewählten 60 Personen nur 24. Es ist nicht Aufgabe der Auslosung nach §§ 77, 45 GVG, aus der Liste der gewählten Schöffen eine Auswahl zu treffen, sondern allein, diese Personen auf die vorgesehenen ordentlichen Sitzungstage der jeweiligen Spruchkörper zu verteilen (vgl. Entscheidung des hiesigen 3. Strafsenats Nds.Rpfl. 1991, 31).

15

III.

Durch diese Entscheidung wird das Strafverfahren gegen den Angeklagten nicht eingestellt. Es ist vielmehr mit einer neuen Hauptverhandlung fortzusetzen.

16

IV.

Bei der Kostenentscheidung berücksichtigt der Senat, daß die Beschwerde der Staatsanwaltschaft weder zu Lasten noch zugunsten des Angeklagten eingelegt worden ist, sondern die Beschwerdeführerin hiermit nur ihre Aufgabe wahrgenommen hat, für die Übereinstimmung der Entscheidung des Schwurgerichts mit dem Gesetz zu sorgen. Gleichwohl führt die Erfolglosigkeit des Rechtsmittels in entsprechender Anwendung des § 473 Abs. 1, Abs. 2 StPO zur Auflegung der Kosten und der notwendigen Auslagen des Angeklagten auf die Landeskasse.