Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 17.04.2008, Az.: 6 B 20/08

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
17.04.2008
Aktenzeichen
6 B 20/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 45700
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOSNAB:2008:0417.6B20.08.0A

In der Verwaltungsrechtssache

...

hat das Verwaltungsgericht Osnabrück - 6. Kammer - am 17. April 2008 beschlossen:

Tenor:

  1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. Januar 2008 - 6 A 53/08 - wird angeordnet.

  2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

  3. Dem Antragsteller wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Bremenkamp aus Lingen bewilligt.

  4. Für das vorliegende Verfahren (6 B 20/08) wird der Streitwert auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der am 14. April 1973 geborene Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die vom Antragsgegner unter dem 29. Januar 2008 verfügte, auf die Überschreitung von 18 Punkten im Verkehrszentralregister gestützte sofortige Entziehung seiner am 26. Juni 2007 neu erteilten Fahrerlaubnis der Klassen A, B, M, S und L....

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Nachdem die zu Lasten des Antragstellers im Verkehrszentralregister eingetragenen Punkte ungeachtet einer bei einem Punktestand von 13 Punkten erfolgten Verwarnung (Bescheid des Antragsgegners vom 23. September 2002) auf 16 Punkte angestiegen waren, ordnete der Antragsgegner an, dass der Antragsteller an einem Aufbauseminar teilzunehmen und dies durch Vorlage einer Teilnahmebescheinigung bis 15. Oktober 2003 zu belegen habe. Ferner belehrte er den Antragsteller über die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung nach § 4 Abs. 9 StVG. Die entsprechende Anordnung wurde zunächst unter dem 31. Juli 2003 an die Meldeanschrift des Antragstellers abgesandt und unter dem 6. August 2003 erneut ausgeführt, da der Zustellungsauftrag mit dem Hinweis zurückkam, dass der Antragsteller zwar noch unter der angegebenen Adresse gemeldet sei, sich aber in F. aufhalte.

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Unter dem 11. September 2003 ging ein Verkehrszentralregisterauszug bei dem Antragsgegner mit dem Hinweis ein, dass die Eintragungen mittlerweile auf 22 Punkte angestiegen seien:

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Mit bestandskräftiger Verfügung vom 26. Januar 2004 entzog der Landkreis L.... dem Antragsteller auf der Grundlage des § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG die Fahrerlaubnis der Klassen BE, C1E, L, M, T. Zur Begründung wurde unter Auflistung der unter Nr. 2-8 aufgeführten Verkehrszentralregistereintragungen, die mit 19 Punkten zu bewerten seien, im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der sich aus den Eintragungen ergebenden Eignungsbedenken die Teilnahme des Antragstellers an einem Aufbauseminar angeordnet worden sei. Da der Antragsteller die von ihm geforderte Bescheinigung in der ihm bis 6. Januar 2004 gesetzten Nachfrist nicht nachgekommen sei und er auch keine Gründe genannt habe, warum er an dem Aufbauseminar nicht teilgenommen habe, sei davon auszugehen, dass er die Teilnahme an dem Seminar verweigere. Deshalb sei davon auszugehen, dass der Antragsteller zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht geeignet sei, mit einem Kraftfahrzeug am motorisierten Straßenverkehr teilzunehmen, sodass ihm seine Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Auch der zwischenzeitlich erfolgte Anstieg auf 19. Punkte rechtfertige es, auf die Nichteignung des Antragstellers zu schließen.

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Dem Antragsteller wurde die Fahrerlaubnis der Klassen A, B, M, S und L.... am 28. Juni 2006 (wieder)erteilt.

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Unter dem 1. Oktober 2007 übermittelte das Kraftfahrt-Bundesamt einen Verkehrszentralregisterauszug mit dem Hinweis, dass die unverbindliche Wertung der Verkehrszuwiderhandlungen des Antragstellers insgesamt 20 Punkte ergebe. Der Auszug enthielt neben den in der o.a. Aufstellung unter Nr. 2 bis 8 genannten folgende weitere Eintragungen:

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In der daraufhin vom Antragsgegner durchgeführten Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktesystem machte der Antragsteller geltend, dass aufgrund der vorangegangenen Entziehung der Fahrerlaubnis und wegen des Zeitablaufs sein Punktestand im Verkehrszentralregister 0, allenfalls 17 Punkte betrage. Da ihm die Fahrerlaubnis in der Vergangenheit entzogen worden sei, würden die Eintragungen zwar nicht getilgt, jedoch werde gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 StVG der Punktestand für die vor der Entziehungsverfügung begangenen Zuwiderhandlungen gelöscht. Es könne nicht sein, dass ihm mit der Entscheidung vom 20. Juli 2006 eine neue Fahrerlaubnis ausgestellt werde und er diese wegen einer einzigen weiteren Ordnungswidrigkeit schon wieder verliere, ohne zuvor über die kritische Situation aufgeklärt worden zu sein.

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Mit Bescheid vom 29. Januar 2008 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis mit sofortiger Wirkung, forderte ihn auf, den Führerschein unverzüglich, spätestens binnen drei Tagen nach Zustellung des Bescheides abzugeben und drohte für den Fall, dass er der Aufforderung nicht nachkomme, ein Zwangsgeld von  100 € an. Zur Begründung wurde unter Auflistung der im Verkehrszentralregister enthaltenen Verkehrszuwiderhandlungen, die einem Punktwert von 20 entsprächen, ausgeführt, dass ab einem Punktwert von 18 die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen sei, ohne dass ihm diesbezüglich von Gesetzes wegen Ermessen eingeräumt sei. Entgegen der Auffassung des Antragstellers seien die vor der vorherigen Entziehung eingetragenen Punkte gem. § 4 Abs. 2 StVG nicht zu löschen, da die vorangegangene Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund der Nichtteilnahme des Antragstellers an einem Aufbauseminar ausgesprochen worden sei. Wegen der Begründung des Bescheides im Übrigen wird auf den bei den Akten befindlichen Bescheid Bezug genommen.

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Der Antragsteller hat gegen den am 31. Januar 2008 zugestellten Bescheid am 18. Februar 2008 Klage erhoben und gleichzeitig um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung macht er unter Wiederholung der Ausführungen im Verwaltungsverfahren geltend, dass der angefochtene Bescheid offensichtlich rechtswidrig sei.

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Der Antragsteller beantragt,

  1. ihm für die Durchführung des vorliegenden Verfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu gewähren und

  2. die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. Januar 2008 erhobenen Klage - 6 A 53/08- anzuordnen.

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Der Antragsgegner beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

  1. die Anträge abzulehnen.

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Ergänzend macht er geltend, dass entsprechend dem Tenor der bestandskräftigen Verfügung des Landkreises L.... vom 26. Januar 2004 dem Antragsteller seinerzeit die Fahrerlaubnis auf der Grundlage des § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen worden sei. Dass in der Begründung auch auf die fehlende Nichteignung wegen des Erreichens von 19 Punkten hingewiesen worden sei, sei unschädlich und ändere nichts daran, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis ausweislich des Tenors der Entscheidung auf die zuvor genannte Rechtsgrundlage gestützt worden sei. Obwohl der Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt bereits 19 Punkte erreicht gehabt habe, habe am 26. Januar 2004 die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der sich aus § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG ergebenden Punktereduktion nicht auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützt werden können. Dies habe zur Folge, dass dem Antragsteller die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG nicht zugute komme, wonach Punkte für die vor der Entscheidung begangenen Zuwiderhandlungen gelöscht würden. Da die Fahrerlaubnis gem. § 4 Abs. 7 StVG entzogen worden sei, sei die Neuerteilung der Fahrerlaubnis auch nur von der Teilnahme an einem Aufbauseminar abhängig gemacht worden. Wäre die Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG entzogen worden, hätte der Antragsteller zusätzlich seine Eignung durch Vorlage eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens nachweisen müssen.

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Wegen des weiteren Vertrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

18

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist begründet. Denn die mit der Klage angegriffene Entziehung der Fahrerlaubnis ist aller Wahrscheinlichkeit nach rechtswidrig, so dass die Klage Erfolg haben dürfte. Deshalb überwiegt das Interesse des Antragstellers, von den Folgen der gem. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG sofort vollziehbaren Verfügung verschont zu werden, das öffentliche Vollzugsinteresse. Die der Entziehung der Fahrerlaubnis zugrunde liegende tragende Feststellung, dass der Antragsteller 18 Punkte überschritten hat, mit der Folge dass er deshalb gem. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 1. Halbs. StVG unwiderleglich als ungeeignet gilt und deshalb die Straßenverkehrsbehörde die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen hatte, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen, wobei von folgenden Eintragungen und Tilgungen auszugehen ist:

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Zwar trifft es zu, dass im für die Entscheidung des Klageverfahrens maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidung des Antragsgegners die im Verkehrszentralregister eingetragenen Verkehrszuwiderhandlungen unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich für die Nr. 1 bis 3 eingetretenen Tilgungen gem. § 40 FeV i.V.m. Anlage 13 FeV in der Summe 20 Punkte betrugen. Diesen Punktestand durfte der Antragsgegner indessen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktesystem (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG) nicht zugrunde legen. Denn der Antragsgegner hat eine in der Vergangenheit eingetretene, sich aus § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG ergebende Reduzierung des Punktestandes bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.

22

Gem. § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG wird der Punktestand auf 17 Punkte reduziert, wenn der Betroffene 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 ergriffen hat. Ob diese nicht ergriffen werden konnten, weil sich die maßgebliche Punktzahl mit einer einzigen Verkehrszuwiderhandlung ergab, ist dabei unerheblich. Mit § 4 Abs. 5 StVG soll erreicht werden, dass keine der in § 4 Abs. 3 StVG vorgesehenen drei Eingriffsstufen übersprungen wird (BT-Drs. 13/6914, S. 49 f., 69; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 4 StVG Rdnr. 13; OVG Lüneburg, Beschl.v. 21. Januar 2003 - 12 ME 810/02 - <juris>).

23

Wie sich aus der Gesetzesgeschichte ergibt, tritt die zugunsten des Antragstellers in der Vergangenheit eingetretene Reduzierung des Punktestandes nicht nur vorübergehend, d.h. aus Anlass der unter dem 31.07.2003 erfolgten Anordnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ein, sondern bleibt dem Betroffenen auf Dauer erhalten. Hierzu hat das OVG Münster (Beschl.v. 17.06.2005 - 16 B 2710/04<juris>) ausgeführt:

Für diese Sichtweise spricht bereits der Wortlaut des § 4 Abs. 5 StVG, insbesondere bei der Gegenüberstellung mit dem Wortlaut der Bestimmung in der Gesetzesfassung vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 747), wie sie bis zum 26. März 2001 gegolten hat. Nach § 4 Abs. 5 StVG a.F. wurde der Fahrerlaubnisinhaber nach einer zuvor iSv § 4 Abs. 3 StVG unzureichend sanktionierten Erhöhung seines Punktestandes lediglich "so gestellt, als ob er neun bzw. 14 Punkte hätte". Die seinerzeitige Gesetzesformulierung sprach somit für eine lediglich fiktive, im Hinblick auf die jeweils aktuell ins Auge gefasste Sanktion nach § 4 Abs. 3 StVG gewährte bzw. auf diese beschränkte Besserstellung des Fahrerlaubnisinhabers. Demgegenüber hat § 4 Abs. 5 StVG seit der Gesetzesänderung vom 19. März 2001 (BGBl. I S. 386) ausdrücklich eine "Reduzierung" des Punktestandes auf 13 (Satz 1) bzw. auf 17 Punkte (Satz 2) zum Inhalt. Für eine lediglich anlassbezogene bzw. zeitlich beschränkte Minderung der Punktezahl gibt der nunmehr geltende Wortlaut des § 4 Abs. 5 StVG nichts mehr her.

Die Gesetzesmaterialien unterstreichen diesen Befund. Dem Gesetzgeber stand, wie aus der Gesetzesbegründung hervorgeht, bei der Änderung des § 4 Abs. 5 StVG der Unterschied zwischen einer bloßen "Als-Ob-Regelung" und einer "tatsächlichen" Punktereduzierung deutlich vor Augen. Die geänderte Gesetzesformulierung sollte ausdrücklich der Klarstellung dienen, dass sowohl bei der Bewertung durch die örtliche Fahrerlaubnisbehörde als auch bei der Registrierung im Verkehrszentralregister die Rückstufung tatsächlich erfolgt.

BT-Drs. 14/4304, S. 10 (zu Nummer 3, Buchst. b).

Dass die Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 StVG nicht als eigenständiger Verwaltungsakt zu betrachten ist und insbesondere kein Anspruch des Fahrerlaubnisinhabers auf eine dahingehende gesonderte Entscheidung oder Feststellung bestehen dürfte,

vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. März 2002 - 1 L 18/02 -, NJW 2002, 2264 = DÖV 2002, 783 = NZV 2002, 431, [OVG Sachsen-Anhalt 22.03.2002 - 1 L 18/02]

bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass sich die zeitliche Reichweite dieser Besserstellung nur auf die gerade in Rede stehende Maßnahme nach § 4 Abs. 3 StVG, nicht aber auch auf zukünftige Maßnahmen nach dieser Vorschrift bezieht. Für dieses Normverständnis spricht auch das in der Gesetzesbegründung (a.a.O.) genannte Beispiel:

"Begeht dieselbe Person [d.h. ein Fahrerlaubnisinhaber, der bereits verwarnt worden ist und bislang 13 Punkte erreicht hatte] eine Straftat, erreicht sie auf einen Schlag mindestens 18 Punkte, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergreifen konnte. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 StVG ist der Betroffene jetzt [auf der Grundlage der bis dahin geltenden Gesetzesfassung] so zu behandeln, als hätte er 14 Punkte. Er kann also sogar eine weitere Ordnungswidrigkeit begehen, die mit drei Punkten bewertet wird, ohne die Fahrerlaubnis zu verlieren."

Anhand dieses Fallbeispiels wird deutlich, dass sich schon auf der Grundlage des bis zum 26. März 2001 geltenden Rechts die Punktereduzierung nicht nur auf die gerade anstehende Maßnahme nach § 4 Abs. 3 StVG beziehen, sondern auch noch nach zukünftigen Änderungen des Punktestandes rechnerisch weiterwirken und bei dann zu prüfenden Maßnahmen zu berücksichtigen sein sollte. Denn anderenfalls hätte in dem genannten Beispiel die weitere Ordnungswidrigkeit zwingend zu einem Punktestand von 21 und damit zur Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG) führen müssen. Dass mit der Gesetzesänderung vom 19. März 2001 neben der Erhöhung der Punktestände von neun auf 14 bzw. von 14 auf 17 im Rahmen einer Reduzierung gemäß § 4 Abs. 5 StVG eine weitere Verschärfung der Regelungen über das Punktsystems beabsichtigt war, ist demgegenüber nicht erkennbar.

Weder dem Gesetzeswortlaut noch den Äußerungen des Gesetzgebers und dem objektiven Sinn und Zweck des Punktsystems kann darüber hinaus entnommen werden, dass einem Fahrerlaubnisinhaber, dem ein Punkteabzug nach § 4 Abs. 5 StVG gewährt worden ist, nachfolgende Tilgungen nach § 29 StVG so lange nicht zugute kommen, bis der Punkteabzug durch die nachfolgenden Tilgungen gleichsam aufgezehrt worden ist.

So aber VG Potsdam, Beschluss vom 16. September 2002 - 10 L 580/02 -, veröffentlicht unter www.fahrerlaubnisrecht.de/Urteile.

Dem Gesetz ist schon nicht zu entnehmen, dass der Punkteabzug nach § 4 Abs. 5 StVG überhaupt bestimmten konkreten Verkehrsverstößen zugeordnet werden kann oder soll. Erst recht fehlt jeder Hinweis darauf, dass sich der Punkteabzug - und auf diese Sicht der Dinge liefe die soeben angeführte Rechtsprechung hinaus - speziell auf die als nächstes zur Tilgung anstehenden Verkehrsverstöße beziehen soll. Soweit es in der Gesetzesbegründung heißt, es werde "auch klargestellt, dass jede weitere Verkehrszuwiderhandlung zum Erreichen des nächsten Schwellenwertes führt", kann das ohne eine nähere Verdeutlichung einer dahingehenden gesetzgeberischen Absicht nicht unbesehen dahin verstanden werden, dass die Bestimmungen über die Tilgung von Verstößen oder sonstigen relevanten Eintragungen im Verkehrszentralregister modifiziert werden sollten. Vielmehr bezieht sich diese Klarstellung offenkundig allein auf die Folgen der Anhebung der Punktezahl, auf die gemäß § 4 Abs. 5 StVG zurückgestuft wird. Schließlich kann auch nicht davon die Rede sein, der Fahrerlaubnisinhaber werde durch die Gewährung des Punkteabzugs nach § 4 Abs. 5 StVG und durch eine hiervon unbeeinflusste Tilgung von Verstößen nach § 29 StVG in unangemessener Weise doppelt begünstigt. In Wahrheit verhält es sich vielmehr so, dass der Punkteabzug nach § 4 Abs. 5 StVG und die Tilgung nach § 29 StVG auf jeweils unterschiedlichen Sachverhalten beruhen. Liegen zu einem bestimmten Zeitpunkt - namentlich anlässlich der Prüfung durch die Fahrerlaubnisbehörde, ob eine Maßnahme nach § 4 Abs. 3 StVG zu ergreifen ist - die jeweils eigenständigen tatbestandlichen Voraussetzungen beider Begünstigungen vor, widerspricht es weder den Intentionen des Punktsystems noch allgemein dem Gerechtigkeitsempfinden, wenn dann auch beide Begünstigungen nebeneinander angewandt und nicht ohne eine hinreichende gesetzliche Grundlage miteinander verrechnet werden."

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Dem schließt sich die erkennende Kammer an. Danach war Ende Juni 2003 ein gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG reduzierter Punktestand von 17 erreicht, welcher sich im Zeitpunkt der Entziehungsverfügung vom 26. Januar 2004 unter Berücksichtigung der im Dezember 2003 eingetretenen Tilgung (§ 65 Abs. 9 StVG i.V.m. § 13a Abs. 3 Satz 2 StVZO a.F.) auf 14 Punkte verringerte. Infolge der Eintragung eines mit zwei Punkten zu bewertenden weiteren Bußgeldbescheides im März 2004 erreichte der Antragsteller 16 Punkte. Schließlich sank dieser Punktstand im Jahre 2005 infolge Tilgung gem. § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG auf zunächst 15 und sodann auf 12 Punkte, um dann wieder mit Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheides des Antragsgegners vom 21. August 2007 am 8. September 2007 auf den für die hier im Streit befindliche Entscheidung maßgebenden Wert von 15 Punkten anzusteigen. Nach allem dürfte die auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis im Hauptsacheverfahren keinen Bestand haben, so dass wegen offensichtlicher Erfolgsaussichten der Klage deren aufschiebende Wirkung anzuordnen ist.

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Soweit der Antragsteller darüber hinaus geltend macht, dass die vor der erstmaligen Entziehung der Fahrerlaubnis eingetragenen Punkte insgesamt zu löschen seien, verweist der Antragsgegner zu Recht darauf, dass dies gem. § 4 Abs. 2 Satz 4 StVG ausgeschlossen ist, weil die im Januar 2004 verfügte erstmalige Entziehung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 7 StVG erfolgte.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er aufgrund des von ihm nachgewiesenen Bezugs von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II nicht in der Lage ist, die Kosten der Rechtsverfolgung, die aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht, zu tragen.

Streitwertbeschluss:

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 46.1 und 46.3 des Streitwertkataloges (abgedruckt bei Kopp/Schenke, VwGO 15. Aufl., Anh. § 164 Rdnr. 14).

Dr. Thies
Fister
Beckmann