Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.04.2000, Az.: L 3 P 1/00

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
18.04.2000
Aktenzeichen
L 3 P 1/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 35413
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2000:0418.L3P1.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 23.11.1999 - AZ: S 9 P 103/98

Fundstelle

  • Breith. 2000, 709-711

Amtlicher Leitsatz

Die Schaffung eines überdachten Freisitzes im Garten ist nicht als Maßnahme der Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes im Sinne des § 40 Abs 4 SGB XI zu qualifizieren.

Tenor:

  1. 1.

    Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. November 1999 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

  3. 3.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten einen finanziellen Zuschuss für Maßnahmen zur Verbesserung seines individuellen Wohnumfeldes (§ 40 Abs. 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch - SGB XI - Soziale Pflegeversicherung vom 26. Mai 1994 - BGBl. I S 1014).

2

Der 1933 geboren Kläger ist Pflegebedürftiger im Umfang der Pflegestufe III. In dem Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 09. Juni 1997 ist als pflegebegründende Diagnose ein Zustand bei seniler Demenz vom Morbus-Alzheimer-Typ sowie eine komplette Inkontinenz genannt. Zu den pflegebegründenden Befunden wird ua vermerkt, der Kläger sei nicht orientiert, koordinierte Handlungsabläufe seien nicht mehr gegeben, der Kläger sei auf den Rollstuhl angewiesen und können diesen nicht eigenständig nutzen.

3

Mit Schreiben vom 05. März 1998 beantragte der Kläger einen Zuschuss für die Herstellung eines überdachten Sitzplatzes in seinem Garten. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Juni 1998 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen des § 40 Abs 4 SGB XI seien nicht gegeben, da die beantragte Maßnahme nicht zur Erleichterung der Pflege oder Linderung der Beschwerden bzw zur Ermöglichung einer selbständigen Lebensführung dienten. Mit seinem dagegen gerichteten Widerspruch vom 03. Juli 1998 machte der Kläger geltend, er bewohne ein Haus mit Hochparterre, bei dem sich das Erdgeschoß etwa 2 m über dem Boden befinde. Er sei im Erdgeschoß untergebracht. Frische Luft tue ihm gut und lindere seine Beschwerden und habe im Übrigen einen guten Einfluss ein sein Allgemeinbefinden. Aus diesem Grund sei es sein Bestreben, möglichst häufig seine Zeit im Garten zu verbringen. Dazu müsse er mit dem Rollstuhl über eine an das Wohnzimmer angrenzende Treppe in den Garten verbracht werden. Dies könne seine Ehefrau jedoch nicht alleine, sondern nur mit fremder Hilfe. Das Problem könnte mit einem Treppenlifter gelöst werden. Ein solcher Lifter koste jedoch 32 000,00 DM und könne von ihm, dem Kläger, nicht bezahlt werden. Ein überdachter Sitzplatz im Garten könne Abhilfe schaffen, und zwar insofern, als er bei plötzlichem Witterungsumschwung vorübergehend Schutz vor Nässe böte, bis fremde Hilfe eingetroffen sei, um ihn, den Kläger, wieder ins Wohnhaus zu befördern. Wenn bedacht werde, dass ein Treppenlifter bezuschusst würde, müsse die ins Auge gefasste "kleine Lösung" erst Recht eine Förderung erfahren.

4

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. September 1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, es werde nicht bestritten, dass die Einrichtung eines überdachten Gartensitzplatzes das individuelle Umfeld verbessere und durchaus sinnvoll sei. Dies alleine führe jedoch nicht bereits zu einer Kostenübernahmepflicht der Beklagten. Die beantragte Maßnahme diene nicht vordergründig der Pflege. Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Umfeldes sollten den Pflegebedürftigen bei den gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens unterstützen und eine eigenständige Übernahme der Verrichtung zum Ziel haben. Dies treffe jedoch auf den überdachten Gartenplatz nicht zu. Auch ohne diesen sei die Pflege des Klägers möglich und durchführbar. Es sei auch nicht ersichtlich, wie durch einen Gartensitzplatz eine Erleichterung der Pflege herbeizuführen sei, denn die durchzuführenden Pflegeeinrichtungen blieben in Art und Umfang unverändert. Letztlich trage die Maßnahme auch nicht zur Wiederherstellung einer selbständigen Lebensführung des Klägers bei. Unter Beachtung der Zielsetzung der §§ 4, 40 Abs 4 SGB XI sei es nicht Aufgabe der Pflegekasse Maßnahmen zu bezuschussen, die - wie hier - den Begleiterscheinungen bestimmter Erkrankungen entgegenwirkten. Der beantragte Gartensitzplatz begründe kein Anspruch nach § 40 Abs 4 SGB XI, da es sich um eine Maßnahme zur Verbesserung der Lebensqualität handele.

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Gegen den - am 12. September 1998 zugestellten - Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 09. Oktober 1998 Klage erhoben. Zu ihrer Begründung hat er vorgetragen, die Errichtung eines überdachten Gartensitzplatzes würde seine Situation allgemein verbessern, weil er sich dann häufiger draußen aufhalten könnte. Natürlich würde die Verbesserung nicht dazu führen, dass er nunmehr selbständiger würde. Der Aufenthalt im Freien würde aber zur Verbesserung seines Wohlbefindens führen und schon deshalb seiner Ehefrau die Pflege erleichtern.

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Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat mit Urteil vom 23. November 1999 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach den Schilderungen der Ehefrau beständen bei dem Kläger schwerste Einschränkungen in seiner Mobilität, deren Auswirkungen nach Ansicht der Kammer durch die beantragten Zuschüsse durchaus gemildert werden könnten.

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Gegen das - am 13. Dezember 1999 zugestellte - Urteil hat die Beklagte am 06. Januar 2000 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, der Begriff des "individuellen Wohnumfeldes" werde durch den Regelungszweck des SGB XI begrenzt. Dieser ergebe sich aus § 3 SGB XI, wonach die Pflege im häuslichen Bereich gesichert werden solle. Dabei sei die Durchführung der grundpflegerischen Verrichtungen vorwiegend an die Wohnung gebunden. Soweit bei dem rollstuhlabhängigen Kläger ein Pflegebedarf bei der Mobilität in Form der Fortbewegung sowie von Transferleistungen anfalle, beziehe sich dieser auf die Durchführung der übrigen Grundpflege. Diese könne jedoch nur innerhalb der Wohnung durchgeführt werden. Dementsprechend sei der Begriff des individuellen Wohnumfeldes im Sinne des § 40 Abs 4 SGB XI auf die Wohnung der Kläger beschränkt. Selbst wenn aber in das individuelle Wohnumfeld auch der Garten einzubeziehen wären, setze § 40 Abs 4 SGB XI weiterhin voraus, dass die Maßnahme der Aufrechterhaltung bzw Erleichterung der Grundpflege diene. Ein Aufenthalt im Garten könne zwar das individuelle Wohlbefinden erhöhen. Dabei sei jedoch nicht ersichtlich, inwieweit ein überdachter Gartenplatz die Durchführung von Verrichtungen der Grundpflege ermögliche oder erleichtern könne. Selbst wenn im Garten gelegentlich Mahlzeiten eingenommen würden oder körperliche Reinigungen durchgeführt werden sollten, fehle es diesbezüglich an der in § 14 Abs 1 SGB XI vorausgesetzten Regelmäßigkeit. Schließlich widerspreche die Urteilsbegründung, soweit pauschal auf eine Minderung der Beschwerden des Klägers abgestellt werde, dem Regelungszweck der § 40 Abs 4 Satz 1, Abs 4 SGB XI. Durch die in § 40 Abs 4 SGB XI vorgesehene Kostenbeteiligung solle ausschließlich die Grundpflege funktionell ermöglicht bzw erleichtert werden. Die Minderung von Begleiterscheinungen einer Erkrankung, wie sie in der Urteilsbegründung für wahrscheinlich gehalten werde, habe medizinischen Charakter und könne insoweit nicht als Aufgabe der Pflegeversicherung verstanden werden.

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Die Beklagte beantragt,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 23. November 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

  1. die Berufung zurückzuweisen.

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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus der Formulierung in § 3 SGB XI, wonach die häusliche Pflege und ein möglichst langes Verbleiben in häuslicher Umgebung die Zielsetzung des Gesetzes seien, könne nicht geschlossen werden, dass zum individuellen Wohnumfeld nach § 40 Abs. 4 SGB XI nur die Räume innerhalb einer Wohnung zählten. Die Begrenzung von Leistungen ausschließlich für den Bereich innerhalb einer Wohnung hätte anderenfalls eindeutig vom Gesetzgeber ausgesprochen werden müssen. Im übrigen sei erneut zu betonen, dass für den aufs schwerste in der Mobilität eingeschränkten Kläger ein Aufenthalt im Freien nicht nur Annehmlichkeit sei. Vielmehr werde der Kläger durch den Aufenthalt im Freien beschwerdefreier, was zur Folge habe, dass die erforderlichen Pflegeleistungen einfacher erbracht werden könnten.

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Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand des Verfahren gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten ist begründet.

13

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Ablehnung des begehrten Zuschusses durch die Beklagte nicht rechtswidrig, weil es dafür an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 40 Abs 4 SGB XI fehlt. Nach dieser Vorschrift können die Pflegekassen subsidiär finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen gewähren, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird. Entgegen der Auffassung der Beklagten beschränkt sich der Anwendungsbereich dieser Vorschrift allerdings nicht auf solche Maßnahmen, die die von der Pflegeperson zu erbringenden Pflegeleistungen iSd § 14 Abs 4 SGB XI ersetzt oder erleichtert oder eine Überforderung der Pflegeperson verhindert. Das Ziel, die selbständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederherzustellen bzw zu erhalten, geht uU über diesen Bereich hinaus und setzt nicht in jedem Fall voraus, dass die Maßnahme einer Verrichtung iSd § 14 Abs 4 SGB XI betrifft. Daher können nicht generelle Maßnahmen, die nicht unmittelbar der Wahrnehmung der Verrichtungen des täglichen Lebens dienen, ausgeschlossen werden (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.1999 - Az.:B 3 P 3/99 R -).

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Zutreffend erscheint hingegen der Hinweis der Beklagten, dass Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen jedenfalls solche Pflegemaßnahmen nicht mehr einschließen, die außerhalb des Bereichs häuslicher Pflege liegen. Allerdings lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht unmittelbar entnehmen, wie der Begriff des Wohnumfelds, bei dem es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, inhaltlich zu konkretisieren ist. Letztlich maßgebend für die Auslegung hat der mit der Regelung des § 40 Abs 4 Satz 1 SGB XI verfolgte Zweck zu sein: Dieser Zweck besteht darin, die eigenständige Lebensführung des Pflegebedürftigen in seiner Wohnung zu fördern. Dies entspricht der Zielvorgabe des § 2 Abs 1 Satz 1 ebenso wie jener des § 3 SGB XI. Danach sollen die Leistungen der Pflegeversicherung den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, dass der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte des Pflegebedürftigen wieder zu gewinnen und zu erhalten. Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Dieses Grundanliegen des SGB XI hat in § 40 Abs 4 eine Konkretisierung erfahren, die allerdings eine Abwägung zwischen den Interessen des einzelnen Pflegebedürftigen und jenen der Solidargemeinschaft der Versicherten enthält. Die Erforderlichkeit einer Maßnahme zur Ermöglichung der selbständigen Lebensführung des Pflegebedürftigen kann sich nicht stets und vollständig

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nach den individuellen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten des einzelnen Pflegebedürftigen richten. Im Interesse der Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft der Versicherten (vgl §§ 4 Abs 3, 29 Abs 1 SGB XI) müssen vielmehr die individuellen Bedürfnisse des einzelnen Pflegebedürftigen eine Begrenzung unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft der Versicherten erfahren. Dies rechtfertigt es nach der Auffassung des Senates den Begriff des individuellen Wohnumfeldes im Wesentlich auf die Wohnung selbst und den unmittelbaren Zugang zu ihr (Treppenhaus) zu beschränken (vgl dazu Vogel in LPK-SGB XI § 40 Anm 18 S 367f; vgl ferner die in den Gesetzesmaterialien - BR-Drucks 505/93 S 113/114 - beispielhaft erwähnten, unmittelbar auf die Wohnung selbst beschränkten Maßnahmen). Schon aus diesem Grunde kann die Errichtung eines im Garten befindlichen überdachten Gartensitzes nicht als Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Klägers angesehen werden. Unter diesen Umständen bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung mehr mit der Frage, inwieweit durch einen Aufenthalt des Versicherten im Freien die häusliche Pflege seitens der Ehefrau ermöglicht oder erheblich erleichtert wird.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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Die Revision wird zugelassen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen.